Begegnung am Meer


Was für ein perfekter Strandtag! Zufrieden ließ Eva ihren Blick schweifen. Keine Men­schen­seele weit und breit, eine Brise kräuselte die Ostsee, ein paar Möwen kreisten in der Luft. Sie atmete tief durch und ging zu ihrem Lieblingsplatz am Fuß der Dünen. Hier war sie vor dem Wind geschützt und hatte doch freien Blick auf Strand und Meer. Sie setzte ihren Rucksack ab, holte ein großes Handtuch heraus und machte es sich mit einem Buch darauf bequem. Bald war sie tief in dem Roman versunken.

Die Sonne stand schon höher, als eine Bewegung jenseits der Buchseiten Eva hoch­schau­en ließ. Sie kamen nicht jeden Tag, aber Eva hatte den Mann mit dem kleinen Mäd­chen an der Hand hier ab und zu schon gesehen. Wie die vorigen Male ging er zügig Rich­tung Wasser, während er die Kleine, die nicht Schritt halten wollte oder konnte, ungeduldig hinter sich her zerrte. Sie war vielleicht fünf.
In der Nähe des Wassers ließ er das Kind los und rollte ein Handtuch aus. Die Kleine blieb einfach stehen. Er ent­klei­dete sich bis auf die Badehose und ging zum Wasser. Während er immer weiter hinaus schwamm, wagte sie sich bis zum Saum des Wassers vor und hockte sich dort hin. Sie schien mit Steinen, Muscheln oder an­ge­schwemm­ten Quallen zu spielen, saß aber immer so, dass sie das Meer und den Schwimmer draußen im Blick halten konnte. So blieb sie dann die ganze Zeit sitzen, obwohl es meist bis zu einer Stunde dauerte, ehe er wieder zurück war.

Nicht einmal dann, wenn andere Menschen ganz nah hinter ihr vorbei gingen, drehte die Kleine sich um. Dies hatte Eva einmal mit Befremden beobachten können, als eine junge Familie mit zwei Kindern, die etwa im Alter des Mädchens waren, den Strand entlang kam. Den beiden Erwachsenen schien das verlassen am Strand hockende Kind aufzufallen. Während ihre eigenen Kinder lachend voraus tollten, blieben die Eltern hinter der Kleinen stehen. Eva konnte sehen, dass die Frau sich zu ihrem Mann umdrehte, bekam aber nicht mit, was sie zu ihm sagte. Dann sah sie, wie der Mann auf das Meer zeigte, wo der Schwimmer gerade noch sichtbar war. Die Frau schaute daraufhin in die Richtung in die der Mann zeigte, schüttelte dann verständnislos den Kopf. Ihr Mann sagte noch etwas und zuckte mit den Achseln, dann gingen sie weiter. Währenddessen hatte die Kleine erstarrt am Boden gekauert. Erst als sich die Familie schon ein ganzes Stück entfernt hatte, begann sie wieder, sich mit etwas zu beschäftigen, das vor ihr im Sand lag.

Nur selten kamen Leute an diesen Strand und die Ungestörtheit war der Grund, warum Eva ihn liebte. Auch heute blieb sie hier allein, bis auf das Kind, das am Wasser hockte während der Mann draußen seinen Bahnen zog.
Eva wandte sich wieder ihrem Buch zu aber es wollte ihr nicht mehr gelingen, sich so in den Roman zu vertiefen wie zuvor. Immer wieder bemerkte sie, wie ihr Blick von den Sei­ten zu der Kleinen am Wasser glitt und ein paar Augen­blicke an ihr haften blieb, ehe sie ihn zurück ins Buch zwingen konnte.
Wie die vorigen Male auch konnte es dem Mann nicht schnell genug gehen, als er wieder aus dem Wasser gestiegen war. Hastig trocknete er sich ab, zog sich an, raffte die Sachen zusam­men, packte die Kleine an der Hand und zerrte sie in der Richtung, aus der er ge­kom­men war, aus Evas Blickfeld. Er ließ nicht erkennen, ob er Eva bemerkte oder nicht.

Evas Gedanken kreisten noch eine ganze Weile um diese seltsame … ja was war das eigentlich … Familie? Als sie die beiden das erste Mal sah, hatte sie unwillkürlich an­ge­nom­men, dass es sich um Vater und Tochter handelte. Später waren ihr Zweifel gekom­men. Der Mann war in guter körperlicher Verfassung aber nicht mehr der Jüngste. Vom Alter her müsste er der Großvater sein, nicht der Vater. Spätestens seit jener Beo­bach­tung mit der jungen Familie war sie sich da sicher. Aber ging ein Großvater so mit seiner Enke­lin um? War er der Stiefvater oder gar ein Onkel? Evas Befremden wuchs von Mal zu Mal, wenn sie ihn mit der Kleinen im Schlepptau zum Wasser gehen sah. Was passierte da, vor ihren Augen?

Eva versuchte erneut, sich mit ihrem Roman abzulenken. Was bisher letztlich immer ge­klappt hatte, funktionierte heute nicht mehr. Nach ein paar Seiten gab sie entnervt auf, packte ebenfalls ihre Sachen zusammen und beschloss, einen längeren Strand­spazier­gang zu unternehmen. Wenn das so weiter geht, muss ich mir einen ande­ren Platz suchen, grübelte sie, während sie hinunter zum Wasser ging.

Einige Tage später war der Mann mit der Kleinen schon vor Eva Richtung Strand unter­wegs. Wäh­rend sie dem sandigen Pfad vom Dorf zu den Dünen folgte, entdeckte sie beide in eini­ger Entfernung vor sich auf dem Hohlweg, der über den Dünenkamm führte. Die Kleine hatte wohl wieder nicht Schritt gehalten, Eva meinte sogar, sie schluchzen zu hören. Da blieb der Mann abrupt stehen und schlug ihr ins Gesicht. Eva stockte der Atem. Die Kleine schrie zweimal auf vor Schmerz, da drohte er ihr mit dem nächsten Schlag. Das Kind ver­stummte abrupt. Der Mann packte sie erneut an der Hand und zerrte sie weiter.
Wieder wusste Eva nicht, ob er sich unbe­ob­achtet fühlte oder ob es ihm gleich­gül­tig war, dass sie alles mit angesehen hatte.
Als Eva an ihrem Lieblingsplatz das Handtuch ausrollte, sah sie am Strand das bekannte Bild. Der Mann schwamm hinaus, die Kleine hockte am Wasser und hielt ihn im Blick wäh­rend sie spielte. Wer ist das wirklich, da draußen? Die Frage jagte Eva einen kalten Schauer über den Rücken. Erschrocken schaute sie auf das Handtuch zu ihren Füßen.

Sie setzte sich und holte ihr Buch aus dem Rucksack. Aber die Lust zum Lesen war ihr vergangen. Bedrückt schaute sie auf‘s Meer hi­naus. Ihr Blick blieb un­will­kür­lich am Kopf des Schwimmers haften, den sie im Wasser gerade noch aus­machen konnte. Sie glaub­te zu spüren, dass er trotz der Entfernung alles am Strand be­o­bachtete, auch sie.
Eva schaute zu der Kleinen. Langsam glitt ihr Blick den schmalen Kinderrücken hinauf, sie sah den Wind mit dem vollen Haar spielen. Mutterseelenallein, das Wort bohrte sich in ihr fest. Mutterseelenallein.

Er ist weit draußen jetzt, Zeit genug um … „Was fällt Dir ein? Das ist Kindesentführung!“ versuchte Eva, den Ge­dan­ken zu verscheuchen. „Außerdem, was gehen Dich die Kinder fremder Leute an?“ Sie hielt es nicht länger aus und beschloss, einen anderen Platz zu suchen um wenigstens nicht weiter hinschauen zu müssen. Eva schob das Buch in den Rucksack und wollte aufstehen. Es ging nicht. An einem anderen Platz würde Eva erst recht keine Ruhe finden, das wusste sie nun. Sie saß fest.

Ihre Ge­dan­ken begannen zu rasen. Was, wenn er das Mädchen entführt hat? Du schaust zu, wie er in aller Öffentlichkeit Bade­ur­laub mit ihr macht! Entführung oder nicht, spielte das eine Rolle? Eva war kurz davor, auf­zu­sprin­gen.
Aber … würde das Kind einfach so mit ihr weggehen? Eva hielt inne. Die Kleine traut sich ja nicht ein­mal dann, wenn er weit draußen ist, auch nur eine Sekunde den Blick von ihm ab­zu­wenden. Nein, die Kleine würde nicht mitgehen können, das begann Eva zu ahnen.

Allmählich dämmerte ihr, dass sie in einer Falle saß. Sie begann erneut, den Kopf des Man­nes draußen zu verfolgen. „Genau wie die Kleine!“ Jäh durchflutete der Gedanke sie wie läh­mendes Gift. Hilflos auf ihr Handtuch gebannt sah sie dem Schwim­mer zu, beo­bach­tete wie er nach einiger Zeit wieder näher kam, sich in Strandnähe auf­rich­tete, aus dem Was­ser watete, sich abtrocknete und anzog. Wut und Verzweiflung schnürten Evas Kehle zu, während der Mann nach der Kleinen griff und sie mit sich zerrte.

© Alice Maier, Mai 2022