Spätnachmittag
Blicke in Spiegel gab es mehrmals täglich.
Nach dem Aufstehen, vor dem Verlassen der Wohnung oder vor dem Schlafengehen. Kontrollgänge über körperliches Territorium, absolviert in weißem Lampenlicht. Kein Makel entging ihrem prüfenden Blick. „Das Licht der Wahrheit!“, dachte sie dabei oft mit einer seltsamen Befriedigung. Denn Makel gab es viele, nannte sie doch eine hohe Messlatte ihr eigen. Und auf die war sie stolz.
Nun war es Spätnachmittag. Drang und Zwang des Tages hatten sich gegenseitig aufgezehrt und ziellose Mattigkeit zurück gelassen. Pläne für den Abend entglitten dem Zugriff ihrer Gedanken, ließen unerwartet eine Lücke im sonst nahtlosen Gefüge ihrer Betriebsamkeit entstehen. Unschlüssig stand sie einige Augenblicke im Flur, tappte dann, ohne genau zu wissen, was sie dort wollte, ins Bad.
Das diffuse Licht des nahenden Abends zeichnete ihr Gesicht im Spiegel unerwartet weich, so … anders. Eine … Fremde? Ihre Hand, schon auf dem Weg zum Lichtschalter, hielt inne, rettete sich verlegen auf den kühlen Waschbeckenrand. Ihr Blick, der sich im Dämmerlicht an keinem Makel festbeißen konnte, tastete ziellos über das Gesicht.
Es wirkte so … empfindsam, fühlte es das Tasten? Überrumpelt schaute es zurück. Huschte da nicht verschämt ein rosa Hauch über seine Züge?
Vorsichtig begann ihr Blick, um die Augen herum zu balancieren. Ein sanfter Sog ging von ihnen aus, ließen ihn sacht in ihre Tiefe rinnen wie Schalen das Regenwasser. „Hast Du mir jemals in die Augen geschaut?“ Die Frage durchzuckte ihre Gedanken wie fernes Wetterleuchten, brachten sie zum Schweigen. Die Augenblicke dehnten sich.
„Wo warst Du all die Zeit?“ fragte ihr Gesicht. „Ich … ich … weiß es nicht“, stammelten ihre Gedanken, verstummten erneut.
„Wer hat mir jemals zugehört?“ Jäh stürzte ihr Blick in einen gähnenden Abgrund aus Einsamkeit, fiel und fiel. Ihr schwindelte. Ihre Hand klammerte sich an den Waschbeckenrand, ihre Kehle zog sich zusammen. Tränen begannen in ihren Augen zu glitzern, füllten die Schalen bis sie überliefen. Aber sie konnte nicht blinzeln, nicht wegschauen.
„Wer hat jemals meine Schönheit gesehen?“ fragte ihr Gesicht nun leise, fast flehend.
Schönheit? Vorsichtig begann ihr Blick, das Gesicht im Spiegel erneut abzutasten, fragend, fast zärtlich. Zitterte es? Wie verletzlich es war! Und so … lebendig!
Staunen stahl sich in ihre Züge, griff um sich, wuchs zu einem verwunderten Strahlen.
Das … bin ich?
© Alice Maier, November 2022