Von der Kommunikation zum Dialog: Wolfgang Pauli und C.G. Jung

Noch nie gab es eine Zeit, in der Menschen sich so leicht untereinander austauschen, miteinander kommunizieren konnten, wie es uns heute möglich ist. Mittlerweile haben viele in so gut wie jeder Lebenssituation entsprechende Kommunikationsmittel in Reichweite, immer öfter finden sich darunter auch solche, die sofort und auf der Stelle gleich eine weltweite Veröffentlichung dessen, was man da so dringend loswerden muss, ermöglichen.
Und doch scheinen Viele in der Masse der ausgetauschten Telefonate, E-Mails, SMS, Forumsbeiträge und „Kontakte“ etwas Wesentliches zu vermissen. Denn mitten aus der Kommunikationsflut sind zunehmend Klagen über Kommunikationsunfähigkeit, fehlendes Einfühlungsvermögen, Verständnislosigkeit oder gar über eine seltsam diffuse Einsamkeit herauszuhören, die sich trotz aller Kommunikationsmittel einfach nicht verscheuchen lässt. Es scheint, als ob uns Heutigen unsere Kommunikation immer weniger sagt und uns immer weniger berührt, egal ob verbindend oder abstoßend. Je mehr wir davon haben, desto mehr stumpfen wir ab und müssen wie Junkies die Dosis erhöhen, um überhaupt noch etwas zu spüren.

Schaut man sich dagegen probe halber einmal Überbleibsel einer Jahrzehnte zurück liegenden Kommunikation an, so fällt als erstes das vergleichsweise lächerliche Volumen ausgetauschter Briefe oder anderer „Kommunikationsartefakte“ auf. Wir können uns schlichtweg kaum mehr vorstellen, mit wie wenig von dem, was heute als Kommunikation daherkommt, die Menschen vor nur 60 oder 80 Jahren ausgekommen sind. Es ist uns auch nicht mehr präsent, wie aufwändig der Austausch dieses relativ geringen Volumens für alle Beteiligten damals trotzdem noch war.
Auch fällt es uns nicht eben leicht, nachzuempfinden, welcher persönliche menschliche Einsatz zu jener Zeit hinter einem Briefwechsel gesteckt haben muss, der mitten in Europa über 25 Jahre hinweg aufrecht erhalten wurde und dabei die Hitlerdiktatur, den zweiten Weltkrieg und die ersten Etappen des ja nur in Europa „kalten“ Krieges überdauerte, ehe er mit dem krankheitsbedingten Tod eines der beiden Schreiber ein gemessen an den äußeren Umständen erstaunlich „natürliches“ Ende fand.

Neben den äußeren hatten es jedoch auch die inneren Bedingungen dieses Briefwechsels in sich. Versucht man nämlich einmal, sich an die großen geistigen Unterschiede heran zu tasten, die zwischen einem Vollblut-Psychologen und einem ebenso tief in seinem Fach verwurzelten Physiker auftauchen, sobald sich das Gespräch von persönlichen Themen wie Gesundheit und Familie wegbewegt um sich hin zu den ureigenen Fachgebieten der beiden weiter zu entwickeln, dann wird es noch erstaunlicher, dass es einen solchen Briefwechsel wirklich gegeben hat. Wie tief die Kluft ist, die hierbei überbrückt worden sein werden muss, das lässt einen ein Blick auf die allen Kommunikationsmitteln zum Trotz heute wie damals weiter bestehenden enormen Gesprächsblockaden zwischen den Vertretern beider Disziplinen erahnen.

Und selbst wenn beide Beteiligten auch dies meistern, wenn sie also über die Barrieren unterschiedlicher geistiger Prägungen hinweg eine gemeinsame Sprache für einen längeren Austausch gefunden haben, hängt die Sache immer noch an einem seidenen Faden. Denn beide werden in der Folge nicht darum herum kommen zu erleben, wie der jeweils andere an fundamentalen, sicher geglaubten „Erkenntnissen“ des ihm fremden Fachgebietes seines Gegenübers rüttelt, und das natürlich ganz ohne selbst irgendwelche besonderen Erfolge darin vorweisen zu können. Wie nahe liegt da die Empörung über die „Frechheit“ dessen, der ja „überhaupt keine Ahnung hat wovon er redet“. Und dies umso mehr, wenn man auf dem eigenen Gebiet eine der international am meisten respektierten Koryphäen ist
Wird dann gar noch eine gemeinsame Veröffentlichung der im Austausch geborenen Gedanken gewagt, so ist obendrein das Risiko einzugehen, seinen bis dahin makellos glänzenden Ruf zu ruinieren. Irgendwie müssen Wolfgang Pauli und C.G. Jung auch diese Hürde der Hybris und der Eitelkeiten ihrer Wissenschaftler-Egos genommen haben.

Was war es aber nun, das diese beiden so faszinierte, dass sie ihren Austausch wider alle Umstände mehr als 25 Jahre ohne jedes Anzeichen eines Überdrusses lebendig halten konnten? Und was vermissen im Gegensatz dazu viele von uns Heutigen, wenn wir wieder einmal leer und ausgelaugt zurücksinkend endlich „abschalten“ konnten nachdem alle anstehenden Telefonate geführt, die 148 Mails „gecheckt“ und die von uns frequentierten „Social Media“ mit unseren Beiträgen bereichert wurden?
Führt es uns vielleicht auf eine hilfreiche Spur, wenn wir über unsere Abstumpfung hinaus einmal einen Blick auf die Frage wagen, warum W. Pauli und C.G. Jung die Gedanken und Fragen des anderen eben nicht einfach „abgearbeitet“ haben, um sie dann mit der für uns Heutige so geläufigen Haltung der als Toleranz maskierten Gleichgültigkeit abzuhaken, immer entlang dem Lieblingsmotto vieler gestresster Alltagsmenschen von heute: „Ich bin o.k., Du bist o.k., es läuft am Ende eh alles auf das Gleiche raus, gegönnt sei daher jedem sein Geschwätz!“?
Wieso machten diese beiden sich ganz im Gegensatz dazu die Mühe, sich dem anderen soweit nur irgend möglich mit zu teilen, ja, wieso rangen sie regelrecht darum, vom anderen verstanden zu werden? Was war es, dass sie die Visiere ihrer Egos herunterklappen, ihr zweifelsohne bestens ausgestattetes rhetorisches Waffenarsenal bei Seite lassen und jene Brücke bauen ließ, auf der ihre Kommunikation zu einem von gegenseitiger Achtung und zwischenmenschlicher Berührung gekennzeichneten Dialog werden konnte?

Auf der Suche nach einer Antwort finden sich in der auf die Veröffentlichung dieses Briefwechsels antwortenden Sekundärliteratur dutzende Erklärungen. Sehr viele davon ranken sich um die persönlichen Charakterzüge und um die Biographien der beiden Schreiber, beleuchten ihre philosophischen Grundüberzeugungen sowie deren Entwicklung oder versuchen, die von W. Pauli und C.G. Jung in ihrem Dialog in Jahrzehnten herausgearbeiteten Denkansätze mit zeitgenössischen Gedanken weiter zu führen.
So spannend und richtig all diese Arbeiten zweifelsohne sind, eine Antwort auf die oben gestellten Fragen nach der Motivation, nach dem Treibstoff, der diesen mehr als 25-jährigen Dialogprozess befeuert hat, die findet sich darin nicht. Aber sie findet sich erstaunlich klar und deutlich in den Briefen selbst sowie in den Veröffentlichungen beider. Hier stößt man nämlich wiederholt auf Stellen, die ein Licht auf die im Untergrund wirksamen Kräfte werfen, mit denen die Brücke dieses Dialogs erbaut wurde.
Eine der Textstellen, an denen dies am deutlichsten geschieht, taucht in C.G. Jungs Beitrag zu einer gemeinsam mit W. Pauli herausgegebenen Veröffentlichung auf. Er stellt hier der Einseitigkeit des westlichen, wissenschaftlich geprägten Weltbilds die Kerngedanken der auf Zusammenhänge und Einheit ausgerichteten taoistischen Lebensweisheit als Ausgleich direkt gegenüber. Zusammenfassend zitiert er dabei Chuang-Tsu mit folgenden Worten:
„… Es klingt wie eine Kritik unserer naturwissenschaftlichen Weltanschauung, wenn Chuang-Tsu sagt: „Der SINN (Tao) wird verdunkelt, wenn man nur kleine fertige Ausschnitte des Daseins ins Auge fasst.“, oder: „Die Begrenzungen sind nicht ursprünglich im Sinn des Daseins begründet. Die festgelegten Bedeutungen sind nicht ursprünglich den Worten eigentümlich. Die Unterscheidungen entstammen erst der subjektiven Betrachtungsweise.“
Und wie als Antwort auf diese Passage C.G. Jungs findet sich in einem der Aufsätze von W. Pauli folgender Absatz:
„… Ich glaube, dass es das Schicksal des Abendlands ist, diese beiden Grundhaltungen, die kritisch rationale, verstehen wollende auf der einen Seite und die mystisch irrationale, das Einheitserlebnis suchende auf der anderen Seite immer wieder in Verbindung miteinander zu bringen. In der Seele des Menschen werden immer beide Haltungen wohnen und die eine wird stets die andere als Keim ihres Gegenteils schon in sich tragen. Dadurch entsteht ein dialektischer Prozess, von dem wir nicht wissen, wohin er uns führt.“

Zugegeben, diese Sätze von W. Pauli kommen in einer alltagsfernen und reichlich theatralisch klingenden Akademikersprache daher, die uns auf den ersten Blick ebenso fremd anmuten mag wie Zitate von Chuang-Tsu oder gar Lao-Tsu. Und instinktiv taucht die sehr berechtigte Frage auf, ob und wie hier überhaupt eine Verbindung zu unserem Alltag bestehen kann. Lassen wir jedoch einmal die abstrahierende und gleich auf‘’s ganze Abendland verallgemeinernde Tendenz dieses Abschnitts bei Seite, kann unversehens ein Alltagsschuh draus werden.
Eher unerwartet scheint dann nämlich die sehr persönliche Aufforderung an jeden einzelnen von uns „Abendländern“ durch die Zeilen, nebeneinander zwei gegensätzliche Haltungen, die unseres subjektiven Ichs UND die einer Suche nach Vereinendem, neben einander in ein und derselben Seele, unserer eigenen nämlich, wohnen zu lassen.
Ein paradoxes und obendrein anstrengendes Unterfangen, und vielleicht am besten gleich als weltfremdes Akademikergeschwafel abzuhaken? Kann aber nicht gerade diese Reaktion ein Fingerzeig auf etwas sein, das wir in unserem Alltag nur allzu oft ausleben, über dessen Folgen wir aber am liebsten nichts hören oder gar lesen möchten?
Was, wenn unsere Abwehr nur der Tarnspiegel unserer fehlenden Offenheit für das widersprüchliche und fordernde Hin-und-Her zwischen trennendem Ich und verbindendem Du ist, der Boden also, auf dem die bequeme Gleichgültigkeit unseres „Ich bin o.k., Du bist o.k.“ -Geschwätzes so gut Wurzeln schlägt?
Eines vermeiden wir damit jedenfalls äußerst wirkungsvoll, nämlich uns auf die Spannung und die Paradoxie des emotionalen Wechselbads und des Ringens um Verständnis einzulassen, das sich in jedem echten Dialog zwischen der Abgrenzung des subjektiven Ichs und der Suche nach einer Verbundenheit mit dem Anderen aufbaut. Aber brauchen wir uns dann wirklich zu wundern, wenn uns all unsere Kommunikation zunehmend weniger sagt und gibt, wenn kaum etwas dabei entsteht, das uns selbst befriedigt und inspiriert, geschweige denn andere?

C.G. Jung und W. Pauli haben in ihrem Briefwechsel, im Schutz (rückblickend) vermeintlicher Privatheit, unzählige Möglichkeiten ausprobiert, eigene persönlich-biographische, psychische, physikalische, mathematische und philosophische Begriffe und Ideen über alle Unterschiede hinweg miteinander in Dialog zu bringen. Aber letztlich war es die von beiden immer wieder bewusst vollzogene und sogar direkt ausgesprochene Bewegung zwischen den Positionen ihrer subjektiven Ichs und ihrer Suche nach den vereinenden Elementen, die ihren Dialog so lange lebendig und fruchtbar gemacht hat.
Diese Seite des Vorgangs hat jedoch nur sehr wenig mit der akademischen Prägung der Beteiligten zu tun, viel mehr jedoch mit einer menschlichen Offenheit sowohl für Andere als auch für sich selbst, die bei uns heute am ehesten mit dem Begriff Dialogfähigkeit umschrieben werden kann. Und bei der Vielzahl unserer heute alltäglichen Kommunikationsvorgänge können wir uns mit etwas Aufmerksamkeit sehr wohl Gelegenheiten einräumen, uns einmal ehrlich zu fragen, ob wir wieder nur unsere Kommunikation abarbeiten wollen, oder ob sich das eine oder andere Gegenüber nicht für etwas mehr, für einen kleinen Schritt hin zu einem echten Dialog nämlich, eignen könnte.
Klar, bei solchen Versuchen wird uns auch etwas Mut abverlangt. Denn wie W. Pauli oben schon bemerkte, wir lassen uns damit auf einen Prozess ein, der notwendiger Weise beide Dialogpartner verändern wird. Und instinktiv spüren wir, einen solchen Austausch können wir weder kontrollieren noch können wir sein Ziel vorausahnen. Wagen wir aber den Sprung über diesen Schatten, dann kommunizieren wir nicht mehr nur, sondern wir überlassen uns einer Entwicklung, die die schale Tristesse unseres Kommunikationsalltags in etwas Lebendiges verwandelt.

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 © Alice Maier, August 2012, geschrieben für TAGundTAO: www.tonundtao.de/index.php?page=tagundtao