Zwischenzeit
Bodenkontakt
Die
Augusthitze hatte die Temperaturen schon auf über dreißig Grad
klettern lassen. Die Luft war in den letzten Tagen zunehmend
drückender geworden, aber noch war es Vormittag. Es blieben ihr
zwei, drei Stunden, bis in der brütenden Schwüle des Mittags
alles zum Erliegen kommen würde.
Jetzt ist wirklich nicht
die Jahreszeit für so etwas, dachte Anna, während sie Schwung
holte um den Spaten mit Nachdruck zwischen Grasbüschel,
Brombeerwurzeln und Hahnenfuß in die Erde zu treiben. In diesem
Punkt musste sie den leise kopfschüttelnden Blicken der Nachbarn
recht geben, die allem, was sich auf dem vorher verlassenen
Grundstück in den letzten Wochen zu regen begonnen hatte, mit
Neugierde folgten.
Hier,
in diesem Garten und in diesem Haus, war es auch früher schon
so gewesen. Drüben umrahmten überpflegte Vorgärten frisch
gestrichene Siedlungshäuschen, in denen das Leben sich im Takt des
Kirchenjahres entlang vorhersehbarer Biographien abspulte, alles zur
rechten Zeit und wie es sich gehört. Hier dagegen eine brüchig vor
sich hin taumelnde Welt zerrütteter Beziehungen, deren Kraft eben
gerade noch reichte, um eine vom Drüben akzeptierte Fassade aufrecht
zu erhalten.
Schon damals deutete fast nichts in der Siedlung
mehr darauf hin, dass sich hier bis Anfang der fünfziger Jahre
Obstwiesen und Äcker den Hang hinaufgezogen hatten. Die Umwandlung
war von den neuen Bewohnern zügig und gründlich vollzogen worden.
Gepflasterte Wege wurden zu den Haustüren und durch die Vorgärten
verlegt, die Grenzen wurden mit Mauern, Jäger- oder Metallzäunen
eingehegt, die Straßen wurden geteert und an Unkraut in anderer
Leute Vorgärten konnte Anna sich auch bei noch so gründlichem
Graben in ihrem Gedächtnis nicht erinnern.
Aber
hier, wo sie jetzt fortfuhr den lehmigen Erdklumpen mitsamt
Unkrautbüscheln aus dem zähen Wurzelgeflecht zu hebeln, ihn
anzuheben bis die Wurzeln widerwillig den Spaten freigaben um ihn
umzuwenden zu können, hier war die Entwicklung schon damals anders
verlaufen.
Man sah noch immer, dass es ein Acker gewesen war, auf
dem einst eine tatkräftige Witwe zusammen mit ihren beiden Töchtern
ein Haus gebaut hatte. Die kurze Strecke zwischen Grundstücksgrenze
und Hauseingang bedeckte ein hingegossener Flickenteppich aus Teer-
und Betonresten, der auch heute noch seine Aufgabe erfüllte. Das
heißt, man musste bei Regen nicht durch Matsch steigen, wenn man ins
Haus hinein wollte. Für eine ordentliche Hofpflasterung, wie sie auf
den umliegenden Grundstücken die Regel war, hatten die Mittel jedoch
nie gereicht.
Natürlich gab es auch sonst keine gepflasterten
Wege auf dem Grundstück und die Aufgabe einer Grenzmauer war von
einer Ligusterhecke übernommen worden.
Annas
Blick schweifte über die langen, kräftigen Ruten, die die
stellenweise über Kopf hohe üppig wuchernde Hecke in die gleißende
Augustsonne streckte. Der dahinter liegende öffentliche Fußweg
wurde schon zu mehr als der Hälfte von ihnen eingenommen und
gelegentlich hatte Anna in letzter Zeit vom Haus aus hören können,
wie Fußgänger ihrem Unmut über Regentropfen oder Spinnweben
zwischen den Ruten laut und vorwurfsvoll Luft machten, während sie
sich an der Hecke vorbei den Weg entlang schoben.
Es gab noch so
viel zu tun im Garten. Und erst das Haus! Der sich dort immer
deutlicher abzeichnende Sanierungsstau war vor allem finanziell eine
viel größere Herausforderung, als es der verwilderte
Garten jemals sein konnte. Denn im Haus war handwerkliches Können
verschiedenster Gewerke gefragt, wozu Anna selbst nur sehr wenig
beitragen konnte. Aber wie sollte sie die Last einer Finanzierung
schultern, wo sie zur Zeit ja noch nicht einmal auf einen geregelten
Broterwerb zurückgreifen konnte?
Klar, einfach alles verkaufen,
dann wäre sie auf einen Schlag alle Sorgen los! Ohnehin war es nur
noch eine Frage der Zeit, bis der Druck der Umstände sie zu diesem
Schritt zwingen würde und dann wäre sie mit einem Mal von all der
Last befreit, die mit diesem Ort verbunden war.
Es
war für sie selbst unerklärlich, aber diese Vorstellung war alles
andere als befreiend für Anna. Im Gegenteil, für sie war es eher
so, als sollte sie sich eine Hand abhacken. Der Punkt, an dem
sie diesen Weg dennoch beschreiten musste, würde
jedoch eher früher als später kommen und ein verwilderter
Vorgarten wäre bei Verhandlungen mit potentiellen Käufern wenig
hilfreich. Aber ganz gleich, wie hoch der Preis war, den
sie vielleicht erzielen konnte, für sie würde es sich wie eine
Niederlage anfühlen. Mit gedrückter Stimmung senkte sie den
Blick und stach den Spaten erneut in die Erde.
Es dauerte nicht
lange und Schweiß hatte Annas T-Shirt vollständig durchnässt.
Sie musste immer häufiger mit den Händen nachhelfen, um die fest
miteinander verfilzten Pflanzen aus der Erde zu ziehen und sie mit
den Wurzeln nach oben der Augustsonne auszusetzen. In der Hitze
wollte Anna keine Gartenhandschuhe tragen und so sahen ihre Hände
bald aus wie die mit Erde verkrusteten Zinken einer Harke. Verbissen
arbeitete sie weiter. Ab und zu kitzelte der über die Haut rinnende
Schweiß sie im Gesicht. Unwillkürlich griff dann eine ihrer
erdverklebten Harkenhände an die juckende Stelle, eine lehmige
Erdspur nach der anderen im Gesicht hinterlassend. Sie bemerkte es
nicht.
Eine
knappe Stunde später hatte der bereits umgegrabene Flecken erst eine
Größe von etwas mehr als einem Quadratmeter erreicht. Das
bedeutete, Anna würde für das ganze Stück etwa drei Wochen
brauchen, denn mehr als drei Stunden Umgraben pro Tag schaffte sie
bei der Hitze nicht. Frustriert fuhr sie fort, den Spaten in die Erde
zu treten. Noch war die Energie des heutigen Tages nicht aufgebraucht
aber Tritt um Tritt begann die grobe körperliche
Anstrengung langsam und von ihr zunächst unbemerkt Annas
inneren Druck abzubauen.
Da war also diese mutige Witwe
gewesen, ging es Anna durch den Kopf, deren Unterschrift den
ausgebleichten Bauplan des alten Hauses besiegelte. Er war ihr vor
Kurzem in die Hände gefallen, als sie sich an eine erste Sichtung
der Gerümpelberge gewagt hatte, die im Haus auf Entsorgung
warteten.
Lange hatte Anna den Plan angesehen. „Neubau eines
Zweifamilienhauses für Frau Anna Hofmann, Wtw, Fabrikarbeiterin“,
lautete die mittlerweile stark vergilbte Überschrift. Darunter waren
die vier Außenansichten des Hauses nebeneinander abgebildet, in
der unteren Hälfte des Planes dann die vier Grundrisse der
Geschosse. Nicht alles war mit Lineal und Zeichentusche aufgetragen,
manches, wie beispielsweise Dachgauben und der Schornstein, war
nachträglich von Hand und mit Bleistift eingezeichnet. Die
Grundrisse waren spärlich mit Maßangaben versehen, mehr schien man
damals nicht benötigt zu haben um ein Haus zu bauen.
Ganz unten
fanden sich links Unterzeichnungsort und -datum, in der rechten Ecke
hatten hatten Bauleiter und Architekt unterschrieben, letzterer sogar
mit Stempel. Und in der Mitte dazwischen stand mit vergilbten
Druckbuchstaben zu lesen: „Der Bauherr:“ , darunter in leicht
ungelenker aber großer, gut lesbarer Schrift ihr Name. Sie hatte
dafür einen Federhalter und eine schwarze Tinte verwendet, die
im Gegensatz zu allem anderen auf dem Plan auch nach all den Jahren
noch kein bisschen ausgebleicht war. Noch ein oder zwei Jahrzehnte
weiter, und ihr Name wird das einzige sein, das auf dem alten Papier
noch erkennbar sein wird, war es Anna durch den Kopf
gegangen.
Mittlerweile war das umgegrabene Stück Garten auf die
doppelte Größe angewachsen.
Anna sah auf und bemerkte nun auch
selbst, wie ihre Anspannung etwas nachließ. Eine Schwere begann ihre
Arme hoch zu kriechen und das Kreuz schmerzte vom ungewohnten Bücken
und Buckeln.
Sie gönnte sich einige tiefe Züge aus der
Wasserflasche, atmete in der flirrenden Augustluft ein paar Mal
kräftig durch und fügte den Erdspuren im Gesicht bei dem
vergeblichen Versuch, den Schweiß von den Augenhöhlen fern zu
halten, eine weitere hinzu. Komm, ein Stück schaffst Du noch, redete
sie sich zu und trat den Spaten erneut in die Erde. Es ging bei
weitem nicht mehr so zügig voran wie noch zu Beginn.
Vor diesem
Acker muss damals auch meine Großmutter gestanden haben, jene Anna
Hofmann deren Vornamen ich trage, spannen sich Annas Gedanken weiter
fort.
Jene Anna, die es gewagt hatte zu träumen, auf Neuland
einen Anfang zu setzen, trotz aller Schwierigkeiten, trotz
Hindernissen und fehlender Mittel. Wohl hatte sie die Unterstützung
ihrer beiden erwachsenen Töchter gehabt, immerhin. Aber jeder, der
die drei Frauen gekannt hatte wusste, wer das Herz dieses Gespanns
gewesen war.
Anna wie Anfang, das passt zusammen, ging es ihr
durch den Kopf, während sie zunehmend müder werdend fortfuhr,
Brombeerwurzeln aus der Erde ziehen. Wenn sie vorher geahnt hätte,
dass Brombeeren Wurzeln haben, die noch länger und kräftiger
sind als ihre Ranken, hätte sie dann je damit angefangen, dieses
Stück Garten umzugraben? Wahrscheinlich nicht.
Konnte es Anna
Hofmann nach ihrem Neuanfang auf diesem Acker soviel anders ergangen
sein? Wahrscheinlich ebenfalls nicht.
Nach
einer weiteren halben Stunde des Grabens, Wühlens und Zerrens gelang
es den warmen, klaren Schlägen der Kirchturmuhr so weit zu Anna
durchzudringen, dass sie sich aufrichtete und ihnen nach lauschte. Es
war Mittag geworden und Anna beschloss, dass es genug Plackerei
gewesen war für den heutigen Tag. Sie stellte die Gartengeräte im
Keller ab und stieg die alte, knarrende Holztreppe hinauf bis in den
ersten Stock.
Im Badezimmer angekommen sah sie unwillkürlich in
den Spiegel, der über dem Waschbecken hing, und erschrak.
War das noch ein menschliches Wesen, das ihr da entgegen blickte?
Die
Erdspuren im Gesicht von Schweißspuren durchzogen, die Haare teils
struppig vom Kopf abstehend, teils schweißnass im Gesicht klebend,
das T-Shirt nass und erdfleckig und die Hände so verkrustet,
das sie auf allem, das Anna anfasste,
erdigbraune Spuren hinterließen. All das war es
aber nicht, was ihren Blick nun zunehmend hypnotisiert an
ihr Spiegelbild zu fesseln begann.
Strahlende Augen blickten ihr entgegen, blaugraugoldenes Leuchten zwang Lachfältchen in die Augenwinkel und begann, in feinen Linien in die schweißigen Erdspuren darum herum zu strömen. War das noch sie? Wann hatte sie sich zuletzt so strahlen gesehen? Vielleicht als Kind? Drogen hatte sie jedenfalls keine genommen. Anna hielt inne. Während sie immer noch fassungslos versuchte, ihr inneres Bild von sich selbst mit dem zur Deckung zu bringen, was sie dort aus dem Spiegel anleuchtete, begann sie zur ersten Mal zu ahnen was es war, das sie mit diesem Ort verband.
Maiausflug im Wintermantel
Mit
Frost und dem ersten Schnee hatte sich der Winter
eingenistet. Die Gartenwildnis war einer leer geräumten
Landschaft gewichen, die unter einer dünnen, weißen Decke dem
Frühling entgegen schlummerte. Anna hatte viel Zeit für die
Gartenarbeit gehabt. Die Gründe dafür waren jedoch
nicht erfreulich. Beruflich hatte sich immer noch keine
Perspektive aufgetan und auch mit der Frage des Hausverkaufs war
sie nicht voran gekommen.
Anna seufzte und schenkte sich eine
zweite Tasse Tee ein.
Immerhin fühlte sie sich in dem alten Haus
zunehmend wohl, genoss es, den vielen Gerüchen nachzuspüren, die es
noch genau so verströmte wie in ihrer Kindheit und liebte es, abends
vor dem Einschlafen dem Knacken der alten Dielen und
Balken zu lauschen.
Zeit hatte Anna nun mehr, als ihr lieb
war. Was der Frühling wohl bringen mochte?
Sie lehnte
sich in dem gemütlichen Schwingsessel zurück und ließ Ihren Blick
hinaus gleiten in die herab sinkende Dämmerung. Draußen schwebten
vereinzelte, verträumte Schneeflocken vom Himmel, taumelnd
und zögerlich. Sanft schmeichelnd entführten sie Annas
Gedanken.
Frühling…
obwohl es schon Jahre her war, erinnerte Anna sich noch genau an
jenen regnerischen Märzabend, an dem er ganz unvermittelt in ihr
Leben gepoltert war.
Einige Tage zuvor hatte Frau Boldt, eine
Mitarbeiterin aus Annas Sprachschule, Anna wissen lassen, dass sich
ein Partner für das Deutsch-Chinesische Sprachtandem gefunden hatte,
für das sie sich angemeldet hatte.
Schon seit einem guten Jahr
nahm sie sich endlich wieder Zeit für ihr altes,
eingeschlafenes Hobby und hatte sich in den Chinesisch-Kurs
eingeschrieben. Er hatte ihr so viel Spaß gemacht, dass sie diesmal
bei der Stange geblieben war. Jetzt reizte es sie, die
erworbenen Kenntnisse einmal mit leibhaftigen Chinesen
auszuprobieren. Frau Boldt hatte einen Termin zum ersten Kennenlernen
organisiert und nun saß Anna in einem leeren Seminarraum der
Sprachschule, zwei Gläser Wasser standen auf dem Tisch und sie
wartete gespannt, was wohl kommen mochte.
Ein
Haustürklingeln drang durch die angelehnte Tür des Seminarraums
herein. „Deine Tandem-Partnerin ist schon da“ hörte Anna Frau
Boldts Stimme. Umgehend polterte jemand die Treppe in den ersten
Stock herauf und schon im nächsten Augenblick stürmte ein
schlaksiger junger Mann mit großen Schritten in den Raum. Als er
Anna erblickte hielt er abrupt inne und sah mit einem etwas
unsicheren Lächeln zu ihr herüber. Er war langhaarig, klapperdürr
und für einen Chinesen sehr groß gewachsen. Anna stand auf und ging
ihm entgegen. Ein übervorsichtiger Händedruck wurde ausgetauscht.
„Ni Hao“ sagte er, „Ni Hao“ erwiderte Anna. Frau Boldt
war inzwischen ebenfalls in dem Seminarraum angelangt. Noch
etwas außer Puste stellte sie beide einander kurz vor, um sie dann
für eine Weile ihrem Schicksal zu überlassen.
Xiaomin, so hieß
er, nahm seinen Rucksack ab und setzte sich Anna gegenüber an den
Tisch. Er wirkte sehr jung, so jung, dass sie sich zunächst fragte,
ob sie beide überhaupt eine gemeinsame Wellenlänge finden könnten.
Seine Ausstrahlung hatte etwas Unstetes, wie die eines Reisenden und
es lag etwas Vorwitziges darin, etwas, das sie einen Hang zur Show
vermuten ließ. Xiaomin schien in vielerlei Hinsicht das genaue
Gegenteil zu den korrekten, zurückhaltenden und überfreundlichen
Chinesen zu sein, die Anna bisher flüchtig
kannte.
Dieser Eindruck hatte es ihr wieder leichter
gemacht und sie begann, recht unbekümmert mit ihren drei Brocken
Chinesisch um sich zu werfen. Xiaomin tat das Gleiche mit seinem
Deutsch, das deutlich besser war als ihr Chinesisch, wie sich schnell
herausstellte. Er erzählte, er sei Fotograf von Beruf, aber nun
schon seit über einem Jahr auf Reisen. Zunächst hätte er ganz
China und Tibet bereist und nun sei Europa dran. Er wolle möglichst
viele Länder sehen und viele Leute kennen lernen, denn das sei ein
gutes Leben für ihn. Anna amüsierte sich über die
Abenteurergeschichte, die er ihr da in holprigem Deutsch auftischte
und begann, ebenfalls über ein paar Eckpunkte ihres
vergleichsweise geregelten Lebens zu erzählen.
Das erste Eis
war damit gebrochen und als Frau Boldt einige Zeit später mit
der Frage vorbei schaute, ob beide Seiten mit ihrem Tandem-Partner
einverstanden seien, war die Antwort ein eindeutiges Ja.
Die
nächsten Treffen, an die Anna sich erinnern konnte, hatten nicht
mehr in der Sprachschule stattgefunden. Bei schönem Wetter waren sie
statt dessen lieber zu einem Frühlingsspaziergang mit
Sprachunterricht in den Park aufgebrochen, bei schlechtem Wetter war
Annas Wohnung zum Treffpunkt geworden. Dann endete der Tag
gelegentlich auch mit gemeinsamem Kochen und Essen, mal
kochte Xiaomin etwas Chinesisches, mal Anna etwas Europäisches.
Beiden bereitete es einen Riesenspaß, mit den großen Unterschieden
zwischen den Koch- und Esskulturen herum zu experimentieren, die da
aufeinander prallten und sich nebenbei neue Vokabeln
beizubringen.
Anna erfuhr beispielsweise, dass ihr großes,
schweres Kochmesser für Xiaomins chinesische Kochweise viel zu
klein und leicht war, die deutsche Pfanne hingegen war ihm viel zu
schwer. Es war ihm völlig unerklärlich, wozu es in einem
deutschen Haushalt soviel verschiedenerlei Essbesteck gibt, während
man in China für alles mit einem Paar Stäbchen und einem
Suppenlöffel auskommt. Und er schaute erstaunt, als er Anna einmal
dabei beobachtete wie sie die Farfalle, die gerade im Nudeltopf vor
sich hin simmerten, wiederholt auf ihre Bissfestigkeit
hin testete. „Warum machst Du das?“ hatte er gefragt. „Damit
sie nicht zu Brei werden.“ hatte Anna ihm verwunderten Blickes
erklärt. „Das kann mit chinesischen Nudeln nicht passieren“
sagte er. „Die kann man sehr lange kochen. Aber diese Nudeln hier,
die sehen viel schöner aus als die chinesischen!“. „Sie heißen
Schmetterlinge“ erwiderte Anna, „Weil sie wie Schmetterlinge
aussehen“. Er kannte das Wort nicht und Anna schrieb es ihm auf.
Als er es dann im Wörterbuch gefunden hatte lachte er und begann
begeistert, das für ihn schwierig auszusprechende Wort zu üben.
Bei
einem ihrer ersten Treffen hatte Anna einmal gefragt, warum
er so intensiv Deutsch lerne, obwohl das für seine
Abenteuerreisen ja gar nicht notwendig sei. Da erfuhr sie, dass
Xiaomin sich zum Wintersemester um einen Studienplatz für ein
künstlerisches Fach bewerben wollte, das ihm als Zusatzstudium zu
seiner chinesischen Fotografie-Ausbildung geeignet erschien.
Überhaupt verstand er sich voll und ganz als Künstler und gab sich
betont unkonventionell. Auch hatte er im Künstlermilieu der Stadt
einige Freunde und es war einer von ihnen gewesen, ein Maler, der
Xiaomin während seiner ersten Zeit in Deutschland beherbergt und
unterstützt hatte.
Ein anderes Mal erwähnte Anna, dass
sie sich sehr für chinesische Kalligrafie interessiere. Damit
hatte sie ein Thema berührt, auf das er mit Begeisterung
einstieg. In ihren Gesprächen war es nun immer öfter um Kunst,
Künstler und Kunstwerke gegangen. Mehr noch als im kulinarischen
Bereich boten Gegenüberstellungen der künstlerischen Welten beider
Kulturen eine schier unerschöpfliche Quelle für Gesprächsstoff.
Langsam breitete sich eine völlig neue Welt vor Anna aus.
Gelegentlich hatte Xiaomin Anna mit dem einen oder anderen seiner Freunde bekannt gemacht, unter anderem auch mit Liang, jenem Maler. Der hatte sie beide eines Tages zu einem Besuch in sein Atelier eingeladen. Es befand sich im Dachgeschoss einer alten Fabrikhalle aus Backstein, die zu Künstlerwerkstätten umfunktioniert worden war.
Als
Anna und Xiaomin ankamen, war Liang noch nicht anwesend, dafür aber
seine Frau Ina, die ebenfalls malte. Sie lud Anna und Xiaomin in eine
kleine Kaffeeküche im Erdgeschoss der Fabrikhalle zum Plaudern ein.
Aber Anna zog es zunächst hinauf in das Atelier. „Ja geh‘ nur rauf
und schau‘ Dich um!“ sagte Ina lachend und verschwand mit Xiaomin
in Richtung Kaffeeküche.
Anna stieg die Eisengitterstufen hinauf
und betrat den ersten von mehreren ineinander übergehenden hellen
Räumen, in die das Dachgeschoss eingeteilt worden war.
Die Düfte
von Farben und vielerlei Materialien schwängerten die
Luft. Annas Blicke glitten über Bilder, Staffeleien,
Farbpaletten, Tuschesteine, Pinsel, Tuben, Töpfe, Bilder,
Bilder und nochmals Bilder.
Von Raum zu Raum unterschieden sich
Malstile und -techniken so stark voneinander, dass Anna unwillkürlich
annahm, durch ein Gemeinschaftsatelier zu streifen, in dem
mehrere Künstler arbeiteten. Vielleicht sind einige Räume auch die
von Ina, dachte Anna, während sie weiter ging.
In einen Raum sah
sie chinesische Tuschebilder. Tuschesteine, Tuschepinsel und große
Rollen dünnen Papiers lagen herum. Irgendetwas an diesen
Bildern war jedoch anders als bei den klassischen
chinesischen Bildern, die sie bisher gesehen hatte. Annas laienhafter
Blick gelang es nicht auszumachen, was diesen Eindruck
verursachte, aber er blieb ihr im Gedächtnis haften.
In einem
anderen Raum standen dicht an dicht Ölbilder im europäischen Stil
und Farbpaletten, Tuben mit Ölfarben und die passenden Pinsel
bedeckten ein kleines Tischchen am Fenster. In einem
dritten Raum waren die Bilder in einem modernen, abstrakten Stil
gemalt, den Anna keiner der beiden Kulturen zuordnen
konnte.
Anna ging neugierig durch alle Räume, die offen
zugänglich waren, sog jeden Eindruck auf, blieb von Zeit zu
Zeit verträumt vor einzelnen Bildern stehen und musste sich
irgendwann mit einem Ruck losreißen um wieder nach unten zu den
anderen zu gehen.
Liang
war inzwischen ebenfalls eingetroffen. Er war deutlich älter als
Xiaomin und lebte schon längere Zeit in Deutschland. Nach seinem
Studium in China hatter er an der gleichen Universität, an der auch
Xiaomin sich mittlerweile beworben hatte, ein Kunststudium absolviert
und arbeitete seither als frei schaffender Maler.
Sehr schnell
hatte sich zwischen den vieren ein lebhaftes Gespräch entwickelt.
Noch ganz ausgefüllt von den vielen Eindrücken aus dem Atelier
hatte Anna gefragt, wer denn noch alles in dem
Gemeinschaftsatelier oben arbeite?
Liang schaute sie
daraufhin verdutzt an, während Ina schnell begriff
und schmunzelnd sagte: „Anna, dort oben malt niemand außer
Liang. Ich male woanders, die Bilder oben sind alle seine!“
Nun war es Anna, die zunächst verblüfft inne hielt und
dann langsam zu ahnen begann, welchen für sie fast unvorstellbaren
Umfang die künstlerische Kreativität dieses Malers haben musste.
Inzwischen
war es Mai geworden. Unbemerkt hatten sich die Treffen mit Xiaomin
für Anna immer mehr zu Höhepunkten ihres Alltags zu entwickelt. Sie
genoss die Farbigkeit und Lebendigkeit ihres Austauschs, das
verspielte Herumprobieren mit der fremden Sprache, die Begegnungen
mit der anderen Kultur, die Streifzüge durch die Kunstwelt und
die vielen Überraschungsmomente, die dies alles mit sich brachte.
Welch ein Gegensatz zu ihrem beruflichen Alltag, in dem es in tief
eingefahrenen Gleisen ausschließlich um staubtrockene Zahlenspiele
und zählebige Bürointrigen ging. Und was das Chinesischlernen
anging, so war nun auch Annas Ehrgeiz voll erwacht und sie begann,
mehr und mehr ihrer Freizeit darauf zu verwenden.
Xiaomin hatte
derweil seine Reisepläne weiter verfolgt und war mit dem Zug
durch Österreich und Italien gefahren. Nach seiner Rückkehr erfuhr
Anna, dass ihm die Pizza in Deutschland besser schmeckte als in
Italien und dass von allen Europäern, die er bisher kennengelernt
hatte, das Verhalten der Süditaliener dem der Chinesen am meisten
ähnle. Irgendwann kramte er dann den Prospekt eines
Reiseunternehmens aus der Tasche und erzählte, es sei für ihn ein
lang gehegter Traum, auch einmal nach Paris zu fahren.
In dem
Prospekt hatte er die billigsten Kurzreisen per Bus mit
Ziel Paris markiert und unvermittelt fragte er Anna, ob sie ihn
am nächsten Wochenende auf so eine Bustour begleiten wolle? Obwohl
Anna Überraschungen von ihm gewohnt war, fühlte sie sich nun
doch überrumpelt. Sie müsse zunächst mit ihrer Arbeitsstelle
klären, ob sie den Freitag so kurzfristig frei bekommen könne, ließ
sie ihn wissen.
Am nächsten Tag war Anna im Büro nicht ganz bei
der Sache. „Eigentlich sind solche superbilligen
Busreisen doch eher etwas für Achtzehnjährige, oder?“
fragte sie sich. „Was für eine Schnapsidee, sich auf so
etwas einzulassen! … Andererseits, warum nicht auch mal was
Verrücktes tun?“
Hin- und herschwankend zwischen der
mittlerweile in ihr wachgekitzelten Lebenslust und dem, was sie
als gesunden Menschenverstand ansah, vergingen die Stunden. Dann am
Spätnachmittag, als das Büro fast einen ganzen Arbeitstag Zeit
gehabt hatte, sie mit seiner Monotonie zu ersticken, stand Anna
abrupt auf, ging zu den Kollegen, mit denen sie sich hierfür
abstimmen musste und bekam den Urlaubstag den sie wollte.
Am
folgenden Donnerstag fanden sich Anna und Xiaomin gegen Abend am
zentralen Busbahnhof ein. Die noch warme, langsam untergehende
Maisonne beschien einen quietschgrünen Reisebus älteren Baujahrs,
dessen fragwürdigen Zustand der frisch aufgetragene Lack nicht an
allen Stellen verbergen konnte. Insbesondere die Reifen sahen so aus,
als müßten sie schon länger ohne Profil auskommen.
„Regegenbogenreisen“, stand auf dem Firmenemlogo unter einem
farbenprächtigen Regenbogen zu lesen.
Anna gesellte sich zur
Gruppe der übrigen Fahrgäste, die sich langsam vor dem
Buseingang sammelten. Zu ihrer Überraschung bestand die Gruppe
zu fast zwei Dritteln aus Chinesen, die alle lauthals durcheinander
schnatterten. Xiaomin, der in einer geräumigen Hängetasche seine
Fotoausrüstung mitschleppte, fiel unter ihnen nicht weiter auf, Anna
dafür umso mehr. Die chinesischen Sprachfetzen, die nun von allen
Seiten auf sie einprasselten, ließen Anna kurzzeitig daran zweifeln,
dass sie sich noch in Deutschland befand. Später, als der
Bus über die Autobahn in die Nacht rollte, vertrieben Anna und
Xiaomin sich die Zeit so lange mit Sprachunterricht bis sie zu müde
waren um noch länger die Augen offen zu halten.
Am nächsten
Morgen waren sie nicht mehr weit von Paris entfernt, als
Anna erwachte. Trotz der unbequemen Sitzposition in dem für
solche Reisen kaum geeigneten Bus musste sie tief geschlafen haben.
In
Paris angekommen, beschränkte sich die Reiseleitung auf das
Notwendigste. Die ganze Gruppe wurde einfach in einer engen
Seitenstraße im Stadtzentrum ausgesetzt. Vorher hatte man noch
bekannt gegeben, man solle sich am nächsten Tag gegen fünf Uhr
nachmittags wieder am selben Ort zur Heimreise einfinden. Diejenigen,
die wie Xiaomin und Anna eine Hotelübernachtung mitgebucht hatten,
könnten in dem Hotel jederzeit einchecken, die Rezeption sei auch
nachts besetzt. Den meisten Chinesen schien dies alles mehr als recht
zu sein. Ganz offensichtlich verfolgten sie ihre eigenen Pläne und
kaum ausgestiegen waren sie in wenigen Augenblicken in alle
Himmelsrichtungen davongeeilt. Xiaomin meinte, dass kaum die Hälfte
von ihnen wieder nach Deutschland zurück fahren würde. Er
sollte recht behalten damit.
Er selbst wollte auf dieser Reise
möglichst viele der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt sehen und
fotografieren: den Eiffelturm, den Triumpfbogen, die Champs Elysees,
die Seine, den Place de la Concorde, Sacre Coueur, Montmarte und das
Centre Pompidou standen auf seiner Wunschliste. Anna, deren
Kenntnisse der Stadt von früheren Besuchen her nur lückenhaft
waren, hatte sich vor der Abreise einen Stadtplan besorgt und ließ
sich vom Busfahrer zeigen, wo sie sich gerade befanden. Schnell
einigte sie sich dann mit Xiaomin auf den Eiffelturm als erstes
Ziel und beide setzten sich in Bewegung.
Für
Anna war bald absehbar gewesen, dass Xiaomins Besichtigungspläne
auch dann noch viel zu sportlich waren, wenn sie alles mit
größtmöglicher Eile abzuarbeiten versuchten. Aber schon auf dem
Weg zum Eiffelturm stellte sich heraus, dass es noch weitere Gründe
gab, die ihre Wanderung durch Paris ganz anders verlaufen lassen
würden als zuerst gedacht.
Xiaomin ließ sich nämlich immer
öfter von Fotomotiven einfangen, die ihm an den überraschendsten
Stellen ihres Weges geradezu in die Augen zu springen schienen. Er
packte dann seine Kamera aus, manchmal kam zusätzlich ein
Klappstativ zum Einsatz, er suchte die richtige Perspektive und das
richtige Licht und vergaß darüber die Zeit. Mehr und mehr schien er
in seiner Arbeit aufzugehen, während Anna ihn mit zunehmenden
Interesse zu beobachten begann.
Neugierig geworden, begann sie
nachzufragen, was ihn an diesem oder jenem Motiv gefallen hatte und
worauf er beim Fotografieren Wert legte. Er begann, ihr von der
Wirkung von Licht und Farbe, von Perspektiven und Blickwinkeln zu
erzählen und davon, was für ihn Schönheit bedeutete. Anna verstand
bald, dass es ihm bei der Wahl seiner Motive viel mehr um
künstslerische Aspekte ging, als darum, Sehenswürdigkeiten
möglichst hübsch abzulichten. Eine für Anna durchaus willkommene
Nebenwirkung dieser Gespräche war, dass ihn die Erklärungsversuche
mit seinem für solche Themen noch unzulänglichen deutschen
Wortschatz vorübergehend von der Jagd nach weiteren Fotomotiven
ablenkte und sie so auf ihrem Weg ein Stück weiter kamen.
Am
Eiffelturm angekommen, holte Anna ebenfalls ihre Kamera aus dem
Rucksack. „Irgend jemand muss ja auch die Touristenfotos machen“,
erklärte sie lachend und überließ ihn für eine Weile seiner
Kamera, während sie sich auf die Suche nach Motiven machte, die sie
selbst interessierten.
So
sehr Anna sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht mehr daran
erinnern, wie sie anschließend in den Turm hinauf gefahren waren,
wie es oben gewesen war und welches Ziel sie danach angesteuert
hatten. Der ganze Rest des Tages verschwamm in einen
sonnenbeschienenen Reigen aus Place del la Concorde, Champs Elysees,
einem Café irgendwo am Straßenrand, Invalidendom, Triumpfbogen und
Sacre Coeur, dazwischen ein bißchen Metro und viele Kilometer
Fußmarsch.
Gegen Abend waren sie am Seineufer unterwegs
gewesen. Beide spürten den zurückgelegten Weg in ihren Beinen,
während sie auf eine der alten Seinebrücken zugingen. Xiaomin
wollte die Brücke unbedingt noch fotografieren, bevor das Abendlicht
dafür nicht mehr ausreichte. Anna hatte schon vor einiger Zeit
bemerkt, daß er zu hinken begonnen hatte und plötzlich sagte er:
„Deutsche Frauen marschieren wie chinesische Soldaten!“.
Anna konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, aber auch ihr reichte
es für diesen Tag und sie beschlossen, sich von der Brücke aus
auf die Suche nach dem Hotel zu machen.
Auf
halbem Weg dorthin gönnten sie sich einen Nachtimbiss in einem
kleinen Schnellrestaurant und als sie sich danach wieder auf den Weg
machten, war es längst dunkel geworden.
Die Orientierung
wurde schwieriger und sie mussten mehrfach unter einer
Straßenlaterne anhalten, um mit Hilfe des Stadtplans die Richtung zu
finden. Einmal fragte Xiaomin einen Chinesen nach dem Weg, der
ihnen auf dem Bürgersteig entgegen geeilt kam. Anna konnte das
Gespräch der beiden nur bruchstückhaft verstehen, aber sie bekam
mit, dass die Antwort des Chinesen sehr verlegen geklungen hatte. Auf
ihr Nachfragen erklärte Xiaominn, nun selbst verlegen, dass das
Hotel im „schlimmsten“ Viertel von Paris liege und sein
Tonfall ließ wenig Zweifel daran, wie dies zu verstehen war.
Bei
dem geringen Reisepreis, den sie bezahlt hatten, hatte Anna damit
gerechnet, dass es sich bei dem „Hotel“ um eine
heruntergekommene Hinterhofpension handelte. Aber dass es mitten
im berüchtigtsten Rotlichtviertel von Paris lag, das dämmerte ihr
erst jetzt.
Trotz aller Verlegenheit blieb ihnen nun jedoch
nicht viel anderes übrig, als in Richtung dieses Hotels weiter zu
gehen. Als sie es endlich erreicht hatten, wurden sie von einem
mürrischen Nachtportier in einer winzigen Hotellobby empfangen.
Nachdem
sie ihm ihre Reiseunterlagen auf den Rezeptionstresen gelegt hatten,
schob er ihnen wortlos den Zimmerschlüsse zu und deutete in
Richtung einer Treppe, die hinauf zu den Zimmern zu führen
schien.
Während die Hotellobby noch recht neutral ausgesehen
hatte, wurde beim Hinaufsteigen schnell deutlich, um welche Art von
Hotel es sich hier handelte. Scharlachrote Tapeten zierten die Wände
und der Fußboden war mit einem Teppich ausgelegt, der vor langer
Zeit wohl ebenfalls diese Farbe gehabt haben mochte. Xiaomin war vor
Anna her gegangen, schloss oben am Ende des Gangs die Tür ihres
Zimmers auf und als sie aufschwang blieb er mit einem erschrockenen
„Oh!“ wie angewurzelt im Türrahmen stehen.
An ihm
vorbeischauend konnte Anna ein französisches Bett mit einer
rosengemusterten, billigen Tagesdecke, darunter ein umgeschlagenes
Laken und zwei Nackenkissen ausmachen. An der gegenüber
liegenden Wand befand sich die Dusche, eine zylinderförmige,
schrankgroße Tonne aus Duschwänden, mitten im Zimmer
aufgestellt. Daneben war das schäbige Waschbecken montiert und eine
Toilette gab es nur auf dem Flur. Offensichtlich hatte Xiaomin mit so
etwas wie einem französischen Bett überhaupt nicht gerechnet.
Zögerlich betrat er das Zimmer, um dann unschlüssig und hilflos
darin herumzustehen.
Anna war hin und her gerissen zwischen
Verlegenheit und Belustigung. Schließlich stellte sie ihren Rucksack
auf einen der beiden Stühle, die die karge Ausstattung des Zimmers
vervollständigten, zog den Trainingsanzug heraus, den sie für die
Nacht mitgenommen hatte und verschwand damit in Richtung
Flurtoilette. Sie ließ sich mit dem Umziehen länger Zeit als
nötig. Als sie nach ihrer Rückkehr die Zimmertür
öffnete, musste sie an sich halten um nicht laut
loszulachen.
Xiaomin lag kerzengerade und stocksteif im
Bett, hatte sich das Laken bis unter das Kinn hochgezogen und
Anna hatte den Eindruck dass er einschließlich seiner Windjacke nach
wie vor so angezogen war wir vorhin draußen auf der Straße. Nur
seine Schuhe standen vor dem Bett. Die Augen hielt er fest
zugedrückt und stellte sich schlafend.
Anna schloss die
Zimmertür hinter sich. „Was um Himmels willen erwartet
er?“ fragte sie sich schmunzelnd. Sie holte ihren Wecker heraus
und stellte ihn auf sechs Uhr, damit sie auch den nächsten Tag noch
gut ausnutzen konnten. Dann griff sie sich die Rosendecke und kaum
hatte sie sich auf der noch freien Betthälfte darin eingerollt, war
sie auch schon eingeschlafen.
Vom
ganzen nächsten Reisetag war Anna nur noch der Besuch beim Centre
Georges Pompidou in Erinnerung geblieben. Wie sich dort
herausstellte, konnte man wegen Sanierungsarbeiten nicht hinein. Aber
auch von außen war das Gebäude mit seiner modernistischen
Fassadenarchitektur den Weg wert gewesen und Anna hatten es
insbesondere die farbenfrohen Skulpturen im Brunnen vor dem
Gebäude angetan. Xiaomin hatte wieder begonnen, mit seiner Kamera
auf Motivjagd zu gehen und so schlenderten sie langsam durch die
Straßen des Viertels Richtung Louvre.
In einer Seitenstraße,
noch ganz in der Nähe des Centre, fielen Anna ein paar leuchtend
himmelblaue Linien ins Auge, die wie ein Graffiti auf
den Bürgersteig gesprüht waren. Xiaomin war schon darüber
hinweg geschritten, während er mit seinem Objektiv die Hausfassaden
ins Visier nahm. Anna blieb stehen und entdeckte, dass da jemand mit
einfachsten gestalterischen Mitteln einen Gullydeckel als
Ausgangspunkt für eine versunken vor sich hin tanzende Figur
genommen hatte. Gerührt versuchte Anna, den Anblick mit ihrer Kamera
einzufangen. Im Stillen freute sie sich, dass auch sie
einmal ein Motiv entdeckt hatte, das nicht nur ein
„Touristenfoto“ abgab.
Nach
dieser Reise war Anna die Rückkehr in ihren Alltag sehr schwer
gefallen. Es war ihr so vorgekommen, als ob sie 2 Wochen weg gewesen
wäre, nicht nur zweieinhalb Tage und es dauerte fast die ganze
folgende Arbeitswoche, bis sie wieder in ihr Leben hineingefunden
hatte.
Anna investierte nun noch mehr ihrer ohnehin knappen
Freizeit ins Chinesisch-Lernen und als sie erfahren hatte, dass Liang
demnächst einen Kalligrafie-Kurs anbieten wollte, hatte sie sich
ohne Zögern bei ihm angemeldet.
Auch die Treffen mit Xiaomin
setzten sich bis in den Sommer hinein fort. Bis er einmal
an einem verregneten Nachmittag ungewohnt bedrückt und wie ein
Häufchen Elend an Annas Küchentisch hockte. Sie hatte ihn
noch nie in einer solchen Stimmung erlebt und fragte ihn, was
denn passiert sei.
Da zog er einen Umschlag aus dem Rucksack
und sagte, die Universität hätte seine Bewerbung um einen
Studienplatz abgelehnt, so viel könne er aus diesem Schreiben
entnehmen. Darüber hinaus stünde darin aber noch eine Begründung,
deren Bedeutung er nicht richtig verstehen könne. Er schob den
Umschlag zu Anna hinüber und bat sie, so gut wie möglich zu
übersetzen. Sie überflog den Brief. „… unzureichend ausgeprägte
kreative Eigenständigkeit …“ stand da in der Rubrik Begründung
zu lesen.
Anna zögerte. Wie sollte sie ihm das erklären?
Sie hatte ja selbst kaum einen Begriff davon, was kreative
Eigenständigkeit sein mochte. Und auch wenn sie das gehabt
hätte, wäre sie mit ihren begrenzten
Chinesisch-Kenntnissen kläglich an einer
Übersetzung gescheitert. Außerdem bedrückte es sie,
diejenige zu sein, die für ihn ein solches Urteil übersetzte.
„Ich kann jedes einzelne dieser Wörter verstehen“, brachte sie
schließlich hervor, „aber den Sinn dieses Satzes könnte ich dir
nicht einmal auf Deutsch erklären. Ich habe selbst kein
Verständnis davon, was mit kreativer Eigenständigkeit gemeint
ist“.
Es vergingen einige Augenblicke ratlosen Schweigens, bis
Anna der Gedanke kam, den Maler Liang als Vermittler einzuschalten.
Xiaomin fand den Vorschlag gut und wollte gleich auf dem
Nachhauseweg noch versuchen, bei Liang vorbei zu schauen.
Nach
diesem Treffen war alles sehr schnell gegangen. Mangels
Studienplatz lief Xiaomins Visum zum Ende des folgenden Monats
aus. Innerhalb weniger Tage hatte er seine Bleibe aufgelöst und war
in Richtung Griechenland zu einer letzten Reise durch in Europa
aufgebrochen. Zurück blieb eine Anna, die lange Zeit brauchte, um
das Loch zu füllen, das er in ihrem Leben hinterlassen hatte.
Inzwischen
war es Nacht geworden. Der Wintermond schien fahl durch einen dünnen
Wolkenschleier auf den Dielenboden vor Annas Sessel.
Der restliche
Tee war kalt geworden und Anna stand auf, um sich die vom Mittagessen
übrig gebliebene Suppe warm zu machen. Wie gegenwärtig ihr die
Erinnerungen an jenen Frühling doch immer noch waren …
nachdenklich rührte Anna im Suppentopf. Und hätte es
jenen Maiausflug nicht gegeben, ihr Leben wäre in den
letzten Jahren völlig anders verlaufen, da war sie sich sicher.
Sommersonnenwende
Und
wirklich, der Frühling brachte auch dieses Jahr Bewegung in
Annas Leben. Sie hatte allerdings ihr Blatt bis zum letzten
Trumpf ausgereizt, um einen Ausweg aus der lähmenden Stagnation
zu finden, in die sie mit Anbruch des Winters hinein geschlittert
war.
Während eines am Ende erfolglosen Bewerbungsgesprächs
hatte sie einmal einen Hinweis auf eine berufliche Weiterbildung
aufgeschnappt, in die sie nun ihre ganze Hoffnung setzte.
Da das Arbeitsamt eine Kostenbeteiligung verweigerte,
zehrte der Kurs mit einem Schlag ihre finanziellen
Reserven auf. Hätte sie danach nicht umgehend eine
Anstellung gefunden, wäre der Gang zum Sozialamt noch vor Beginn des
Sommers unumgänglich geworden.
Anna sträubte sich lange
dagegen, ein so hohes Risiko einzugehen. Irgendwann sah sie
jedoch keinen anderen Ausweg mehr und buchte die
Intensivkurs-Variante. Sie hoffte, so das Abschlusszeugnis
schneller in der Hand zu halten.
Anna war es nicht leicht
gefallen, sich unter dem Druck, den ihre Situation auf sie
ausübte, auf das Seminar zu konzentrieren, auf die beiden
sechsstündigen Abschlussprüfungen zu lernen und auch während der
Prüfungen noch die Nerven zu behalten. Es zeigte sich jedoch schon
im ersten Bewerbungsgespräch, zu dem sie anschließend eingeladen
wurde, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Noch während des
Gesprächs wurde ihr die Stelle zugesagt, mit Beginn am 1. Mai, dem
„Tag der Arbeit“, wie Anna rückblickend
feststellte.
Anschließend dauerte es fast drei Tage,
bis Anna ganz begriff was passiert war. Aber dann konnte sie das
erste Mal seit Monaten tief durchatmen. Die wochenlange Anspannung
glitt von ihren Schultern wie die Lawinen tauenden Altschnees, die
zum Ende des Winters vom Steildach ihres Häuschens in den Garten
gestürzt waren. Anna konnte den Frühling nun unbeschwert
genießen.
An
einem Wochenende im April hatte Annas hoch betagte Tante Sofia ihren
Besuch angekündigt. Sie war das letzte noch lebende der fünf
Kinder Anna Hofmanns, deren Häuschen Anna vorsichtig anfing
ihr Eigen zu nennen. Für ihre neunzig Jahre war Sofia körperlich
sehr rüstig, am meisten beeindruckten aber ihre Neugierde, ihre
Schlagfertigkeit und der schiere Umfang ihres Erinnerungsschatzes,
in den sie bei ihren lebhaften Erzählungen hinein griff wie ein
virtuoser Pianist in die Tasten seines Steinway.
Nachdem
Sofia von ihrem Sohn bei Anna abgesetzt worden war, wollte sie zuerst
sehen, wie Anna sich in dem alten Haus eingerichtet hatte, wie sie
die Zimmer nutzte, was sie renoviert hatte, welche Möbel vorhanden
waren und ob sie anders standen als früher. Danach sollte auch
der Garten noch eingehend begutachtet werden.
Während
Anna hinter der alten Dame her durch die Räume ging, blieb
diese plötzlich vor der alten Pendeluhr stehen, die Anna vor kurzem
aus den Umzugskisten geholt und im Flur aufgehängt hatte, ohne sie
jedoch in Gang zu setzen. „Nicht wahr, die hängt nur zur Zierde
hier, die ist schon seit Deiner Kindheit immer kaputt bei Euch
herumgehangen weil man sie nicht mehr reparieren kann.“ stellte
Sofia mit der untrüglichen Präzision ihres Gedächtnisses fest. „Ja
stimmt“ bestätigte Anna, „meine Eltern brachten sie
sogar mal zum Uhrmacher hier am Ort zur Reparatur. Hinterher fluchten
sie über die hohe Rechnung, und die Uhr lief immer noch nicht. Und
ob Du’s glaubst oder nicht, jetzt tickt sie wieder richtig, ich habe
sie nur noch nicht angestoßen!“.
Das rührte die alte Frau
sichtlich. „Weißt Du diese Uhr ist wirklich uralt… Die hing
schon in meiner Kindheit in Oma Annas Wohnstube. Wir waren ja fünf
Kinder damals, und an dieser Uhr haben wir uns gegenseitig die Zahlen
und die Uhrzeiten beigebracht!“ erzählte sie mit hörbar
belegter Stimme weiter. „Und wer hat sie nun wieder in Ordnung
gebracht?“
Anna öffnete die gläserne Fronttür der Uhr und
versetzte dem Pendel einen sanften Schubs. Tick, Tack, Tick, Tack…
setzte sich die Mechanik in Bewegung und für einige Sekunden gelangt
es dem Hin und Her des Pendels, die Blicke der beiden Frauen an sich
zu fesseln. Auf dem Boden des Uhrkastens fand sich ein
unförmiger Flügelschlüssel, mit dem man die Uhr aufziehen musste,
wenn sie länger durchhalten sollte. Anna setzte den Schlüssel in
die Nabe, die im Ziffernblatt neben der Acht saß und drehte ihn
sanft ein paar mal um seine Achse. Der Uhr entlockte dies ein
metallisches Schnarren.
„Das ist eine längere
Geschichte… “ griff Anna den Faden wieder auf.
Nachdenklich schloss sie den Uhrkasten. „Komm, ich habe
uns Kuchen besorgt und der Kaffee ist auch schon fertig. Lass
uns in der Küche eine Pause einlegen, dann erzähl‘ ich Dir, wer
unsere Familienuhr wieder repariert hat. Unser Uhrmacher hier,
der war’s jedenfalls nicht!“ fügte sie augenzwinkernd hinzu.
Auch wenn es schon Jahre her war, seit die beiden sich das letzte Mal begegnet waren, war der Draht zwischen ihnen nie unterbrochen worden. Immer wieder hatte sich Tante Sofia in langen Telefonaten über das Wichtigste im Leben ihrer Nichte auf den neuesten Stand bringen lassen. Sie konnte oft nicht nachvollziehen, was es eigentlich war, das Anna durch ihr Leben trieb und welche Beweggründe hinter ihren Entscheidungen standen. Aber sie war eine der Wenigen, die auf dem Laufenden waren, ob es Anna gerade gut ging, welche Ziele sie verfolgte und wer gerade in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielte. Auch über die Ereignisse, die Annas letzte Jahre geprägt hatten, hatte sie sich so einen groben aber lückenlosen Überblick verschafft.
„Ich
hab‘ Dir doch mal von diesem Fotografen erzählt, der, den die
Sprachschule mir mal als Sprachpartner vermittelt hatte…?“
sprudelte Anna los, kaum dass die beiden sich an Annas rundem
Küchentisch nieder gelassen hatten. „Ja, Ja, ich erinnere mich,
der mit dem Du dann gleich nach Paris gefahren bist… den meinst Du
doch, oder?“ „Genau den meine ich“, bestätigte Anna.
„Aber ist der nicht kurz darauf wieder zurück nach China?“
„Ja, ist er, und als er weg war hab ich gemerkt, dass mir mein
Chinesisch-Kurs an der Sprachschule immer weniger gab. Ich fand den
Unterricht plötzlich fade. Ich merkte, das mir auch die Begegnungen
mit Chinesen fehlten. Unsere Lehrerin war zwar auch eine Chinesin und
machte einen guten Unterricht, aber mit jeder weiteren Woche
fühlte sich alles immer mehr an wie Autofahren im
Simulator.
Und dann kam ich auf die Idee, meinen
Jahresurlaub für eine Sprachreise nach China zu nutzen…“ „Ha,
ich wusste doch, Du wolltest diesem… wie hieß der noch? …
hinterher!“ bohrte Tante Sofia prompt in die weiche Flanke, die
Anna ihr zu bieten schien. Anna musste erst mal Luft holen. „Nun
mach mal langsam, so war es doch gar nicht“ wiegelte sie ab,
„Xiaomin war zu der Zeit beruflich im Süden Chinas
unterwegs.“
Tante Sofia war Enttäuschung anzumerken,
was Anna die Möglichkeit bot, das Gespräch in eine Richtung zu
lenken, die ihr besser zusagte. „Du hast schon recht,“ gab sie
zu, „der fehlte mir schon. Vor allem aber wollte ich sein
Land endlich mit eigenen Augen sehen. Das ist alles so
vielgestaltig und faszinierend, dieser Schritt war einfach
notwendig geworden. Also bin ich ins Reisebüro und die hatten
eine Sprachreise an diese Pekinger Universität im Angebot. Ich
buchte einen zweiwöchigen Kurs und noch eine Woche zur freien
Verfügung hintendran. Ab da habe ich nur noch auf diesen Urlaub
hin gelebt und Reisevorbereitungen getroffen. Sogar der
Chinesisch-Kurs war plötzlich wieder interessant!
Und
wie aufgeregt ich war, als ich dann endlich im Flugzeug saß, wie ein
kleines Kind! Ich musste zuerst nach Amsterdam und dort in den
Langstreckenflieger umsteigen. Irgendwo über Russland wurde
es Nacht. Oben sah man den Sternenhimmel und unten
leuchteten die Lichtpünktchen von Ortschaften aus dem Schwarz,
die sahen auch aus wie kleine Sternhaufen. Alles floss
ineinander und mir wurde fast schwindlig davon. Danach konnte ich
aber ein bisschen schlafen und als ich wieder aufwachte war es
schon taghell. Unter mir gab es plötzlich nur noch ockerfarbene oder
rötliche Gebirgszüge und dazwischen sandfarbene Ebenen soweit ich
schauen konnte. Einzelne kleine Seen sah man
gelegentlich türkisfarben schimmern, aber sonst kein
Grün, nichts als Wüste, über Stunden hinweg. Das änderte sich
erst kurz vor Peking, ich hatte den Eindruck als bestünde das ganze
Land nur aus Sand und Steinen.“
„Ich bin noch nie
geflogen…“ bemerkte Tante Sofia. „Ich traue mich einfach
nicht, in so ein Ding einzusteigen. Aber es muss wunderschön
sein…“ „Ach weißt Du, solche Langstreckenflüge sind
oft einfach nur öde, die meisten vergesse ich gleich wieder.
Aber an diesen kann ich mich noch genau erinnern.“ nahm Anna den
Faden wieder auf. „Am Flughafen wurde ich abgeholt und was meinst
Du, wie froh ich war, dass ich den Taxi-Transfer zur Universität
gleich mit gebucht hatte. Erst beim Verlassen des Flughafens
habe ich nämlich gemerkt, dass ich hier nicht nur die Sprache
kaum verstehe, sondern dass ich eben gerade Analphabetin
geworden war. Ich war es bisher gewohnt, im Ausland aus der
Schrift immer noch ein paar Bedeutungsfetzen herauslesen zu
können, auch wenn ich die Sprache nicht konnte. Aber hier?“
„Aber
hättest Du Dir das nicht denken können?“ hakte Tante Sofia
gleich ein. „Doch, denken schon… aber wie es wirkt, wenn
ich dann in der Situation drin bin, das habe ich mir
nicht vorstellen können. Und es ging den ganzen
restlichen Tag so weiter. Je weiter das Taxi in die Stadt rein fuhr,
umso dichter und lauter wurde das Leben draußen. Du kannst Dir das
Gewühl nicht vorstellen! Autos, Radfahrer, Straßenhändler,
Fußgänger, überfüllte Busse, alles quirlte und schob sich kreuz
und quer durcheinander, als gäbe es keinerlei Verkehrsregeln. Der
Fahrer hat auf seinem Weg kein Risiko gescheut und mich hat es
zwischen Panik und Apathie hin und her geworfen. Weißt
Du, Straßenverkehr in Rom, das ist etwas Geordnetes und
Beschauliches dagegen, und hier in Deutschland sowieso.
Auch an
der Uni ist es chaotisch weiter gegangen. Nichts war in Englisch
oder irgend einer anderen westlichen Sprache ausgeschildert und ich
habe mich mit Händen und Füßen bis zu dem Gebäude
durchgefragt, in dem die Anmeldung war. Und als ich endlich in
meinem Wohnheimzimmer ankam war ich so erschossen, dass ich mich erst
mal für eine Stunde aufs Bett geworfen habe.“ „War es da
nicht ohnehin schon wieder Nacht?“ wollte Tante Sofia
wissen. „Nein, es war erst Nachmittag und ich hab‘ mir den Wecker
gestellt, weil ich gegen Abend noch raus wollte.
Als ich dann
los bin hat die Sonne noch geschienen. Ich bin zuerst auf dem
Uni-Gelände herumgelaufen. So ne chinesische Uni ist eine
kleine Welt für sich, viele langgezogene Backsteingebäude, ein paar
größere und neuere Bauten und ein hoher Eisenzaun um das
Ganze rum. Auf dem Gelände gab es alles, Unterrichtsgebäude,
Wohnheime, mehrere Kantinen, Sportstätten, eine Bibliothek, eine
kleine Parkanlage und sogar eine Bank hatten sie.
Die meisten
Leute, die mir begegnet sind, waren asiatische Studenten, chinesische
und solche aus anderen asiatischen Ländern. Damals konnte ich
diese Gruppen noch nicht auseinander halten. Ich hab‘ nur
gewusst, dass etwa die Hälfte der Studenten dieser Uni Chinesen
sind, der Rest Ausländer wie ich.“ „ Kann man die
Asiaten denn überhaupt auseinander halten?“ „Doch, mit
der Zeit geht das immer besser, aber hundertprozentig richtig liege
ich auch heute nicht immer. Leute aus dem Westen waren übrigens nur
sehr wenige da und fast alle, denen ich begegnete, waren deutlich
jünger als ich. Alles wirkte ruhig, gepflegt und aufgeräumt.
Ich
hatte noch ein bisschen Zeit und bin dann raus auf die Straße. Das
Haupttor war von Männern in Uniform bewacht, die erst meinen
nagelneuen Studentenausweis sehen wollten, bevor sie mich durch
ließen. Und draußen brodelte dann wieder das Chaos.
Gott sei
Dank gab es einen breiten Bürgersteig und ich habe mich einfach vom
Strom der Menschen mitziehen lassen.“ „Also da hätte ich
Angst gehabt mich zu verlaufen!“ wandte Tante Sofia ein. „Die
hatte ich auch, aber ich wollte nicht weit von der Uni weg, nur so
mal einen Block oder zwei die Straße rauf.
Es war aber schon
ziemlich viel Fremdheit auf einmal… Allein die schiere Masse
fremder Menschen, aber auch die Gebäude sahen anders aus als bei
uns. Bei den meisten konnte ich mir keinerlei Reim drauf machen, ob
sie nun Wohnhäuser, Geschäftshäuser oder noch etwas anderes waren.
Manchmal hatte ich beim Gehen den Eindruck, dass der Boden unter
meinen Füßen schwankt. Als ich dann an der Kreuzung zum
nächsten Block ankam, musste ich ja irgendwie durch das
Gewühl da rüber kommen. Ich hab‘ ziemlich lange an der
Bordsteinkante gestanden und versucht, irgendwas zu erkennen, das mir
weiter helfen könnte.“
„Gab es denn keine Ampeln, in einer
Stadt wie Peking?“ wunderte sich Tante Sofia. „Doch, da waren
wohl welche, und die waren auch in Betrieb. Aber niemand hat
auch nur einen Blick auf sie verschwendet. Nach einer Weile habe ich
mich dann einem jungen Paar mit kleinem Kind an die Fersen geheftet.
Die hatten anscheinend verstanden wie es mir ging. Sie lächelten
mich an und schauten sich ein paarmal um ob ich auch gut hinterher
komme.
Ein paar hundert Meter weiter kam dann ein
Gelände, das war wie eine kleine Plantage in Reih und Glied
mit Pinien bepflanzt, mitten im Häusermeer. Es war
ein bisschen ruhiger dort und ich habe zugeschaut, wie hinter den
Bäumen die Sonne untergeht.
Ich war richtig froh, dass wenigstens
die Sonne die gleiche ist wie bei uns und dachte: ‚Von
dort, wo sie untergeht, bin ich heute her gekommen.‘ Da kam
die schwankende Erde unter mir zum Stillstand, als würde sie
irgendwo einrasten. In meinen Ohren hörte ein Rauschen auf, das
die ganze Zeit da gewesen war ohne dass ich es bemerkt hatte.
Ich spürte den Abendwind auf meiner Haut, hörte die
Leute um mich rum rufen, lachen und trappeln, es war, als wäre eine
Blase geplatzt.“ „Ja, da warst Du erst richtig
gelandet.“ stellte Tante Sofia fest.
„Aber
sag mal, was hat das jetzt alles damit zu tun, wer die alte Uhr
repariert hat? Du hast das Ding doch nicht mit nach Peking
geschleppt, oder?“ Anna kicherte, als sie sich mit
der fast einen Meter hohen Pendeluhr unterm Arm durch das Gewimmel
der Menschen in Pekings Straßen stolpern sah. „Um Himmels Willen,
das hätte die Uhr niemals überlebt. Aber ich glaube, ohne diese
Reise hätte ich den richtigen Uhrmacher nie gefunden!
In der
letzten Woche hatte ich doch noch ein paar unterrichtsfreie Tage und
da habe ich Xiaomins Familie kennen gelernt, seine
Schwester und seine Eltern. Keine Sorge, Sofia, das hat auch was mit
der Uhr zu tun. In China laufen halt viele Dinge über ein paar
mehr Ecken als bei uns. Ich war überrascht, dass
diese Familie gläubige Christen sind. Davon hatte Xiaomin mir nie
etwas erzählt.“
Tante Sofia war selbst sehr gläubig
und nun war sie sprachlos, was bei ihr einiges hieß. „Das
gibt’s doch gar nicht!“ entfuhr es ihr dann. „Ja, sie luden
mich sogar zu einem Gottesdienst ein. Das war eines
der erstaunlichsten Erlebnisse der ganzen Reise für mich! Du
weißt ja, dass ich mir nicht viel aus Religion mache, aber dieser
Gottesdienst hat mich berührt. Von der Predigt habe ich
nichts verstanden, die Liedtexte und die chinesische Bibel
konnte ich auch nicht lesen. Der ganze Rahmen, das kleine weiße
Kirchlein, die Melodien und das Zeremoniell wirkten, als fände
der Gottesdienst im Westen statt. Nur die Menschen nicht,
denn sie nahmen mit so einer stillen, fröhlichen Hingabe teil, ganz
anders als ich das bei uns je erlebt habe.
Später sind wir
alle noch zusammen in ein kleines Restaurant gegangen. Xiaomins
Schwester kann Englisch sprechen und zusammen mit meinem etwas
besser gewordenen Chinesisch konnten wir uns einigermaßen
unterhalten. Die Familie erzählte, dass es auch im Ausland Ableger
dieser Gemeinde gibt, unter anderem in meiner Stadt. Sie würden mich
gerne mit den Freunden bekannt machen, die sie unter den
Gemeindemitgliedern dort hätten. Und so schrieb ich mir
Namen und Adressen einer gewissen Familie Wu auf, mehr aus
Höflichkeit als in der Absicht, sie nach meiner Rückkehr
wirklich zu kontaktieren.“
„Wie
war das überhaupt nach Deiner Rückkehr,“ unterbrach Tante
Sofia da. „Wir hatten damals ja einmal telefoniert und Du
wirktest am Telefon so durcheinander, dass ich mir Sorgen gemacht
habe“ fuhr sie mit ihrem untrüglichen Gespür für Annas weiche
Stellen fort.
„Ja, Du hast recht, danach wurde es erst richtig
schwierig für mich.“ gab Anna zu. „Ich habe bald gemerkt,
dass ich nicht mehr in mein altes Leben zurückfinden konnte. Es ist
mir auch früher schon passiert, dass ich nach einer längeren
Fernreise eine Weile gebraucht habe, bis ich mich wieder an meinen
Alltag gewöhnt hatte. Aber spätestens nach zwei Wochen war das dann
vorbei und ich war wieder drin im alten Trott.
Diesmal passierte
das einfach nicht, im Gegenteil! Ich hatte das Gefühl, als schaute
ich meinem bisherigen Leben von außen zu, als wäre es nach meinem
Abflug hinter meinem Rücken in eine riesige Schneekugel
verwandelt worden, an deren Glaswand ich mir jetzt die Nase
platt drücken konnte so lange ich wollte, ich kam nicht mehr rein.
Mit der Zeit wurde es eher schlimmer als besser, es war, als
würde etwas, das vorher fugenlos zusammengepasst hatte langsam
auseinanderdriften. Und ich konnte es nicht aufhalten.
Am meisten
habe ich es bei der Arbeit gemerkt, aber da hatte es seine guten
Seiten. Die Querelen zwischen Kollegen, die Taktiken der Chefs,
Verzögerungen der Projekte, unrealistische Erwartungen der Kunden,
das alles hat mich vorher immer schnell gestresst
und fertig gemacht. Jetzt jedoch ließ es mich plötzlich kalt.
Ich ging hin, machte meine Arbeit und war abends fertig damit. Weißt
Du, so gut mir diese plötzliche Gelassenheit tat, sie machte mir
auch Angst.
Und im privaten Kreis passierten Sachen, bei
denen mir manche Leute immer sonderbarer vorkamen…“
„Was meinst Du denn damit?“ Tante Sofia schaute
skeptisch. „Dieser China-Aufenthalt scheint Dir wirklich nicht
gut getan zu haben!“. „So würde ich das auch wieder
nicht sagen…“ Anna war nachdenklich geworden. „Aber
Du hast recht, ich war nach meiner Rückkehr verändert,
ohne dass ich sagen konnte was es war…“. Nach wie vor
sprach Skepsis aus Tante Sofias Blick und Anna versuchte, sich
an die Erlebnisse zu erinnern, die ihr damals zu
schaffen gemacht hatten.
„Eines
Sonntags war ich bei Monika und Franz zum chinesischen Essen
eingeladen. Ich kannte die beiden vom Chinesisch-Kurs und an dem Tag
waren außer mir auch noch zwei, drei andere Leute eingeladen.
Es sollte Kanton-Ente geben. Du glaubst gar nicht, wie viel Mühe sie
sich gemacht hatten! Außer der Ente gab es noch fünf weitere
Gerichte. Als ich ankam, briet die Ente noch im Ofen und Monika
strich sie wiederholt mit einer speziellen Soße ein. Um den
Gästen die Zeit bis zum Essen zu vertreiben führte Franz uns durch
Haus und Garten.
Die beiden schienen richtige China-Fetischisten
zu sein. Das Wohnzimmer war mit chinesischen Möbelstücken
eingerichtet, ein krummbeiniger Couchtisch, mehrere kleine
Kommoden und dann ein riesiger chinesischer Medizinschrank mit 60
Schubladen! So einer ist richtig teuer, und leicht zu
beschaffen ist er bestimmt auch nicht. Natürlich hatten sie auch
chinesische Vasen auf den Kommoden und Tuschebilder an den Wänden.
Sogar im Esszimmer und im Flur gab es noch chinesische
Accessoires.
Aber erst der Garten! Da war zwar einiges noch
Baustelle, aber man sah schon einen Teich, umgeben
von einem kleinen Gebirge aus aufgeschichteten
Felsbrocken, wie in den alten chinesischen Gärten. Das
Essen war vorzüglich und alles wurde mit chinesischem
Essgeschirr und Stäbchen serviert.
Natürlich haben wir uns auch
über China, die Reisen und über Chinesen im Allgemeinen
unterhalten. Monika und Franz haben schon mehrere lange Reisen durch
China unternommen und kennen das ganze Land. Aber während sie
so erzählten fiel mir auf, dass sie nie über Kontakte zu Chinesen
berichteten, jedenfalls keine, die über die organisatorische
Abwicklung ihrer Reisen hinaus gingen. Mir kam das seltsam vor,
denn die Beiden sprechen ja viel besser Chinesisch als ich es damals
konnte. Aber ich bin in China immer schnell in Kontakt
mit Chinesen gekommen…“ „Ja vielleicht war es gerade
das, was Dir hinterher solche Schwierigkeiten machte…“
rätselte Tante Sofia und Anna wusste nicht, was sie darauf erwidern
sollte.
„Irgendwann habe ich Monika dann gefragt, wie sie sich
denn merkt, was sie in welcher der 60 Schubladen des
Medizinschranks untergebracht hat. Die sehen ja alle gleich aus. Da
hat sie gelacht und gesagt, anfangs hätte sie den Schrank sehr gerne
zur Aufbewahrung ihres Hausrats benutzen wollen. Aber als sie dann
die Sachen eingeräumt hatte bemerkte sie, dass sie jedes
Mal wenn sie etwas davon herausnehmen wollte, so gut wie alle
Schubladen durchsuchen musste, bis sie gefunden hatte was sie
brauchte. Am Ende hat sie alles wieder ausgeräumt und der
riesige Schrank steht seither leer.
Wie ich das hörte,
fühlte ich mich in die Loge eines Theaters mit perfekter
China-Kulisse versetzt, während auf der Bühne „China ohne
Chinesen“ gespielt wird, unwirklich und ein bißchen schräg.
Und dann mußte ich mir Xiaomins Eltern und seine Schwester
vorstellen, wie sie in einer mit bayrischen Bauernmöbeln, rotweiß
karierten Vorhängen und Herrgottswinkel ausgestatteten Wohnstube
hinter Bierseideln sitzen und Weißwurst mit Brezeln
essen…“.
„Nein, nicht einmal ich glaube, dass Chinesen je
so etwas machen würden!“ kicherte Tante Sofia dazwischen. „Aber
sag mal, Anna, wenn Du von China erzählst, kommen wir ständig vom
Hundertsten ins Tausendste, du platzt ja schier aus allen Nähten. Du
musst mir unbedingt noch erzählen, was dann auf der China-Reise
weiter passiert ist, aber jetzt will ich wirklich erst mal wissen,
was das alles mit unserer alten Pendeluhr zu tun hat.“ „Nun,
Du hattest ja gefragt, was mir nach meiner Rückkehr so zu schaffen
gemacht hat.“ erwiderte Anna augenzwinkernd.
„Es
muss bald nach dieser Kanton-Ente bei Monika und Franz gewesen
sein, als mich Xiaomins Schwester per E-Mail fragte, ob ich Lust
hätte, am nächsten Wochenende bei Familie Wu zum Mittagessen vorbei
zu schauen. Sie hatte den Wus von mir erzählt und diese würden sich
über meinen Besuch freuen!“ „Was? Das ist aber schon
erstaunlich!“ Tante Sofia war verwundert. „Ja,
anfangs konnte ich solche Erfahrungen mit
Chinesen auch nicht einordnen. Vielleicht hätte ich die
Einladung auch ausschlagen sollen, aber ich war neugierig geworden
und bin hin.“
„Und wie war es dann bei den Wus?“
„Rate mal was es da zu Essen gab?“ ließ Anna sie rätseln.
Aber sie hatte Sofias Scharfsinn wieder einmal unterschätzt. „Na,
wenn Du schon so fragst, muss es wohl Kanton-Ente gegeben haben!“
kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen zurück. „Genau so
war es, die Wus stammen nämlich aus Kanton. Herr Wu hatte die
Ente zubereitet und seine Frau hatte noch acht weitere Gerichte dazu
gemacht.
Das Wohnzimmer der Wus war übrigens ganz anders als
das bei Monika und Franz. Schlicht und praktisch, alles Notwendige
war vorhanden, aber für unsere Verhältnisse war es leer. Das habe
ich später noch oft in chinesischen Wohnungen gesehen. So klein sie
auch waren, sie waren nie so vollgestopft wie unsere. Zuerst
haben wir uns ausführlich über das Essen unterhalten,
über die Kniffe bei der Zubereitung der Ente, warum
die Gerichte und die Zutaten so ausgewählt waren und nicht
anders, wo es gute Einkaufsmöglichkeiten für chinesische
Lebensmittel gibt und so weiter. Über Essen können sich
Chinesen stundenlang unterhalten. Nach einer Weile hatten
wir auch persönlichere Themen am Wickel. Warum Familie Wu nach
Deutschland gekommen war, wer noch alles zur Familie gehört und was
für Berufe wir haben. Nun erfuhr ich, dass Herr Wu Uhrmachermeister
ist. Er begann richtig zu schwärmen, als er auf seine Arbeit zu
sprechen kam. Das war nicht nur Broterwerb für ihn sondern
Berufung. Am meisten hatten es ihm alte deutsche und Schweizer
Uhren angetan. Da konnte ich gar nicht anders, ich
habe ihm von unserer kaputten alten Pendeluhr erzählt
und gefragt, ob er einen Reparaturversuch machen
wolle. Natürlich wollte er. Ich hab‘ sie ihm dann gleich am
nächsten Abend hingebracht.
Seine Werkstatt war
im Keller des Mietshauses, in dem seine Familie auch wohnte. Als
ich hinkam war sonst niemand da und er machte eine kleine
Werkstattführung für mich. Hier gab es das ganze Gegenteil der
Leere, die mir im Familienwohnzimmer aufgefallen war. Alle
Wände waren bis unter die Decke mit Regalen, Schubladen,
Glasvitrinen und mechanischen Uhren ausgefüllt. Die Uhren pendelten,
tickten, gongten und schlugen unruhig durcheinander, aber alle
zeigten die richtige Uhrzeit an. In der Mitte stand ein
großer Arbeitstresen, auf dem Lupenbrillen, Pinzetten, Zangen,
Halterungen, Schraubenzieher, Einspannwerkzeuge und weitere
Spezialwerkzeuge lagen, die ich nicht einordnen konnte. Alles fein
säuberlich in Reih und Glied. Über allem hing eine meterlange
doppelte Neonröhre, die laut brummte und den Tisch unter
sich in gleißendes Licht tauchte. Dann gab es noch eine weitere Tür
im Raum, die offen stand und in einen Lagerraum führte.
Anfangs
sei ein kleiner Laden in der Innenstadt sein Traum gewesen,
erzählte er. Aber es kam so viel Kundschaft durch
Mund-zu-Mund-Propaganda zu ihm, dass er die Arbeit kaum
bewältigen konnte. Da entschloss er sich irgenwann, auf den
Laden zu verzichten, so lange sein Geschäft auch ohne läuft und
er seine Familie damit ernähren kann.
Dann fing er
an, verschiedene Schubladen zu öffnen und erklärte, wofür die
Teile zu gebrauchen waren, die darin lagen. Ich bin richtig
erschrocken, wie winzig manche waren. Sie müssen so präzise
gefertigt werden, dass es für einige nur noch
einen Betrieb weltweit gab, wo Herr Wu sie kaufen konnte.
Und für viele gab es gar keine Hersteller mehr. Die
sammelte Her Wu dann aus schrottreifen Uhren
zusammen.
Er blühte richtig auf, als er mir das
alles zeigte. Nur als ich ihn fragte, ob sein Sohn einmal
bei ihm in die Lehre gehen wolle, wurde er traurig. Der
Teenager war nämlich nur versessen auf seinen Computer,
saß den größten Teil seiner Freizeit dahinter und wollte
auch später mal „irgendwas mit Computern“ machen. Herr Wu
fand es nicht schlecht, dass der Sohn mit Computern
herumspielte. Aber dass er sich Tätigkeiten in der Werkstatt völlig
verweigerte und die Handhabung der winzigen Teile nicht üben
wollte, das machte ihm Sorgen. Er war überzeugt, wenn der Sohn seine
Hände nicht jetzt schon trainiere, dann könnte er
später die notwendige Geschicklichkeit für das Handwerk nicht
mehr aufbauen. Sollte er es sich irgendwann anders
überlegen und doch Uhrmacher werden wollen, dann sei es zu
spät, dann könne Herr Wu ihm sein Handwerk nur noch
lückenhaft beibringen. Es war ihm anzumerken, wie sehr
ihm diese Aussicht zu schaffen machte.
Als
ich unsere Uhr drei Wochen später bei ihm abholte, ließ
er mich wissen, dass die Uhr über hundert Jahre alt sein
muss und von bester Qualität ist. Ich hatte ja gar nicht
geahnt, dass sie schon so alt ist! Und dann fing er an über
den Uhrmacher zu fluchen, der die Uhr vor ihm in den Händen
gehabt hatte. Der hätte nämlich das Herzstück des
Uhrwerks gegen ein nicht richtig passendes neueres Modul
ausgetauscht und den Rest der Uhrmechanik dann durch Verbiegen
der Originalteile zu einem Ganzen zusammen gezwungen, das nie
funktionieren konnte.
Herr Wu war entsetzt, wie man einer
solchen Uhr so etwas hatte antun können…“ „Vielleicht hat
es auch sein Gutes für Herrn Wu, wenn sein Sohn später irgendwas
mit Computern macht.“ warf Tante Sofia da ein. „Wie meinst Du
das denn?“ „Na ja, wer weiß wie es ihm erst ginge, wenn
er mit ansehen müsste wie aus seinem eigenen Sohn so ein Uhrmacher
würde, wie der, der unsere alte Uhr so zugerichtet hat.“ führte
sie ihren Gedanken zu Ende. „Da magst Du recht haben.“ Anna
rührte nachdenklich in ihrer Kaffeetasse.
„Wir hatten wohl
ziemlich Glück, dass noch genügend passende Teile in seinen
Beständen waren, um das Ersatzmodul und die verbogenen
Teile auszutauschen und das Uhrwerk neu zusammen zu bauen. Und
stell Dir vor, er war sich nicht zu schade, auch noch das
Ziffernblatt, den Messingkranz und das Pendel zu polieren!
Die
Uhr läuft bei mir nun schon seit Jahren ohne dass ich
Ungenauigkeiten feststellen kann, ich darf halt nur nicht vergessen,
sie aufzuziehen. Als ich sie damals das erste Mal in meiner
Wohnung aufgehängt hatte, hörte ich sie gerne ticken und
schlagen. Es beruhigte und ich hatte dabei so ein
Gefühl als wäre in meinem Leben etwas in Bewegung geraten das bis
dahin blockiert gewesen war…“.
Als hätte sie auf ihren
Einsatz gewartet, ließ die Pendeluhr sechs klare Schläge
in die nachdenkliche Stille fallen, die sich in der Küche
ausgebreitet hatte. Tante Sofia und Anna sahen sich verdutzt an
und lachten beide laut los, als sie bemerkten, wie
sehr sie die Zeit vergessen hatten.
„Du musst mir noch erzählen, wie die erste Reise verlaufen ist und wie Du Dich danach wieder gefangen hast.“ Tante Sofias Neugierde schien unerschöpflich zu sein. „Es ging ja nicht gerade ruhig weiter bei Dir, zumindest soweit ich das aus der Ferne mitbekommen habe… “ „Bist Du denn nicht müde geworden vom vielen Zuhören?“ wunderte sich Anna. „Ich? Müde? Wieso? … Aber Du siehst ein bisschen müde aus, Anna…“ lenkte Tante Sofia schmunzelnd ein. „Komm, lass uns in den Garten gehen, bevor es zu dunkel dafür ist, und danach mache ich ein Vesper für uns.“ schlug Anna vor. „Zum Erzählen ist morgen auch noch ein Tag“.
Springflut
Am nächsten Morgen war das Wetter umgeschlagen. Ein kräftiger Wind hetzte schwere Wolken über den Himmel bis sie sich in kräftigen Schauern ihrer Last entledigten. „Gut dass wir den Garten gestern Abend noch angeschaut haben. Heute wäre es mir zu ungemütlich draußen.“ Tante Sofia strich sich dick Himbeermarmelade auf ihr Frühstücksbrötchen während Anna sich Kaffee nachschenkte. „Sag mal, Anna, was gab es in China denn zum Frühstück? Frühstücken die Chinesen überhaupt etwas?“ „Und ob, das Frühstück ist sogar sehr wichtig. Es wird aber einfach gehalten und auch an Feiertagen nicht so zelebriert wie gerade bei uns beiden heute.“ Anna ließ zähflüssigen Kastanienhonig auf eine Brötchenhälfte tropfen um dann genüsslich abzubeißen. Sofia musste sich wohl oder übel ein paar Augenblicke gedulden, bis Anna wieder sprechen konnte.
„In der Uni-Kantine habe ich oft Ölstangen gegessen, in Öl aus gebratene Teigstreifen. Man konnte auch Reissuppe haben, Tee-Eier oder einfache Omelettes und natürlich in Dampf gegarte, gefüllte Teigbällchen. Die waren immer lecker. Es gab sie mit einer herzhaften Fleischfüllung oder mit einer süßen Maulbeerfüllung. Und wer es noch süßer wollte, der konnte zum Klebreis in Bambusblättern greifen. Die Reissuppe war immer dann erste Wahl, wenn die Verdauung mal nicht so gut beieinander war. Das Essen wird in der Nordhälfte Chinas mit viel Öl zubereitet und gerade anfangs kann einem das zu schaffen machen. Manche gewöhnen sich auch nie daran, vor allem die Japaner nicht. Deren Küche ist eine der fettärmsten weltweit und entsprechend schwer tun sie sich mit der öligen nordchinesischen Küche. Wenn sie wieder mal im Unterricht fehlten weil sie von der Toilette nicht weg kamen, taten sie uns anderen manchmal richtig leid.“
„Ja, gab es denn gar kein Brot?“ wollte Tante Sofia wissen. „Und keinen Kaffee?“ „Nein, wer so etwas unbedingt haben wollte, der konnte Sammies Café aufsuchen, ein kleines Bistro-Café das man auf dem Campus eingerichtet hatte. Dort gab es halbwegs trinkbaren Kaffee, Sandwiches oder süße Teilchen. Auch chinesische Studenten gingen gerne dort hin. Allerdings waren nicht nur Speisen und Getränke westlich, sondern auch die Preise. Ein Becher Kaffee kostete so viel wie 4 einfache Mittagessen in der Kantine. Das konnten sich nur die wenigsten chinesischen Studenten leisten.“ „Und was kostete dann ein Kantinenessen umgerechnet?“ „Man konnte sich schon für eine Mark satt essen, während der Becher Kaffee vier Mark und mehr kostete. Das fanden auch wir Ausländer überteuert. Aber Kaffee war in China ein exotisches Getränk damals.“ „Stimmt, als Du das erste Mal in China warst hatten wir hier ja noch die D-Mark.“ erinnerte sich Sofia.
„Und
was hatte man für die eine Mark dann auf dem Teller?“ – „Das war
vielfältig und abwechslungsreich. Es gab drei ähnlich aufgebaute
Kantinen. Außen an der Wand entlang befanden sich Garküchen, jede
mit einer kleinen Kochmannschaft und ihrer eigenen kleinen Auswahl an
Gerichten aus verschiedenen Regionalküchen Chinas. Man
bestellte in der Garküche seiner Wahl ein Gericht, das frisch
zubereitet wurde, zahlte und suchte sich einen Platz an einem der
langen Tische in der Mitte der Halle. Der Haken an der Sache waren
die Tafeln, auf denen die Garküchen ihre Speisekarten ausschrieben.
Sie waren ausschließlich auf Chinesisch geschrieben, oft in einer
unleserlichen Handschrift. Man spielte Speise-Lotto, indem man auf
irgend ein Gekritzel zeigte und hoffte, dass die Leute hinter dem
Tresen daraufhin etwas zubereiteten, was einem schmeckte. Wenn das
der Fall war, versuchte man, sich das Gekritzel für den nächsten
Tag einzuprägen oder abzuschreiben. Oder man deutete auf ein
Gericht, das jemand anders gerade entgegen nahm, wenn man das
ebenfalls bestellen wollte. Wenn wenig los war zeigte eine der
Köchinnen dann manchmal breit grinsend auf die entsprechende Stelle
auf der Tafel, so dass man sich die Zeichen abmalen konnte, während
sie das Gericht zubereitete. Das war spannend und man lernte so
Gerichte aus allen Teilen Chinas kennen.
Später habe ich
mitbekommen, dass die Köche Wanderarbeiter waren, die einfach das
kochten, was es bei ihnen zu Hause immer gegeben hatte. Gelegentlich
konnte man ihnen einen schlichten Erzeugerstolz anmerken, wenn sie
feststellten, dass man ihre Gerichte schätzte. Ich hatte natürlich
bald meine Favoriten, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas
völlig Ungenießbares auf dem Teller gehabt zu haben.“
„Für
jemanden, der sehr wählerisch mit dem Essen ist, wäre das aber
nichts.“ stellte Tante Sofia fest. – „Stimmt, wir hatten
noch eine andere Deutsche in der Klasse, eine junge Frau
zwischen Abi und Studium, die damit überhaupt nicht zurecht kam. Ich
glaube sie hatte auch eine Nahrungsmittelallergie und hat während
ihres Aufenthalts mehrere Kilo abgespeckt, während ich aufpassen
musste, dass mir nicht das Gegenteil passierte.“
„Und
gab es denn nur Stäbchen als Besteck?“ „Na klar, und für
die Suppe gab es noch einen Löffel dazu. Ich hatte die ersten Tage
manchmal Krämpfe in der Hand, weil ich die Stäbchen nicht mehr
halten konnte. Zwar hatte ich das Essen mit Stäbchen vorher geübt,
aber als ich dann von heute auf morgen nur noch mit diesen Dingern
essen sollte, kam ich bald an meine Grenzen. Manche Westler haben
sich woanders Gabeln organisiert und brachten sie immer mit in die
Kantine. Gegen Ende des Aufenthalts hatte ich mich halbwegs an die
Stäbchen gewöhnt, aber ungelenk war ich damit immer noch.“ „Na
ja, das war bestimmt hilfreich, damit Du nicht all zu viel zugelegt
hast.“ Tante Sofia grinste schelmisch.
„Und nach dem Frühstück
bist Du dann wohl fleißig zum Unterricht gegangen?“ fragte sie
weiter. „Wie läuft der an einer chinesischen Uni denn ab?“ – „Es
ist nicht viel anders als eine Schule bei uns. Wir waren in Klassen
eingeteilt und der Unterricht war sehr gut, aber auch fordernd. In
unserer Klasse waren wir um die fünfzehn Studenten, Koreaner,
Japaner und ein paar Westler“
– „Konnten denn wenigstens die
Lehrer Englisch sprechen?“ – „Diejenigen, die es konnten, ließen
es sich nicht anmerken oder weigerten sich, es zu verwenden. Der
Unterricht war von Anfang an ausschließlich auf
Chinesisch. Es wäre auch gar nicht anders gegangen, denn den meisten
asiatischen Mitstudenten hätte Englisch nicht viel genutzt. Kaum
einer der Japaner oder Südkoreaner in der Klasse verstand es, obwohl
die meisten in ihrer Schulzeit Englischunterricht gehabt
hatten.
Anfangs fand ich die drei Stunden Chinesisch-Unterricht
jeden Morgen anstrengend. An Nachmittag waren noch Hausaufgaben zu
machen, ein ungewohntes Lernpensum, während die Südkoreaner es als
wenig empfanden. Einige von ihnen nutzten die Freiheit und schienen
abends ständig Party zu machen. Im Unterricht schliefen sie dann mit
dem Kopf auf dem Tisch aus. Später habe ich erfahren, dass der
Stoffumfang auch im Vergleich zu dem, was den chinesischen Studenten
in ihren Studienfächern abverlangt wird, reduziert war.“
„Wurden
nicht wenigstens die Vokabeln in den Büchern auf Englisch erklärt?“
wollte Tante Sofia weiter wissen. „Ja schon, auf Englisch,
Koreanisch und Japanisch. Aber wir merkten bald, dass die englischen
Übersetzungen die Bedeutung oft falsch wiedergaben und uns mehr
verwirrten als halfen. Da war es am Ende besser, die Wörter
selbst im Wörterbuch nachzuschlagen.“
„Wie funktioniert
das denn bei diesen chinesischen Zeichen?“ Wieder einmal war Anna
verblüfft, über was Tante Sofia alles informiert sein wollte. „Die
komplexeren Zeichen sind wie ein Baukastensystem aus einfachen
Grundsymbolen zusammengesetzt. Im Wörterbuch sind die Zeichen dann
nach Grundsymbolen sortiert aufgelistet. Man zerlegt das Zeichen nach
bestimmten Regeln, bis man das richtige Grundsymbol gefunden hat,
sucht das Zeichen in der entsprechenden Liste im Wörterbuch und
findet dort die Seitenzahl, auf der die Übersetzung steht.“ – „Hm,
hört sich nach einem ziemlich langwierigen Verfahren an.“ bemerkte
Tante Sofia. „Hast Du denn überhaupt noch etwas von Land und
Leuten mitbekommen, wenn Du immer nur gebüffelt hast?“
„In
der zweiten Woche fiel es mir leichter und nachmittags blieb mehr
Zeit für Ausflüge. Natürlich wollten wir mehr erleben als nur
Unterricht und Hausaufgaben. Wir Westler fanden uns meist zu kleinen
Grüppchen zusammen und quetschen uns in einen der Busse Richtung
Innenstadt hinein, die draußen vor der Uni hielten. Am Anfang hätte
sich das niemand alleine getraut, bald war das aber kein Problem
mehr. Denn selbst wenn wir uns völlig verirrt hatten, konnte immer
eines der allgegenwärtigen roten VW-Santana-Taxis als Rettungsboot
herhalten, vorausgesetzt man hatte die Adresse der Uni auf einem
Zettel parat.“
„Ganz schön mutig, wo Du am ersten Tag noch
nicht mal über die Kreuzung an der Ecke hinüber gekommen bist!“
sagte Sofia anerkennend. „Ja, anfangs habe ich mich über mich
selbst gewundert. Nach der allerersten Verwirrung hatte sich nämlich
unerwartet schnell das Gefühl einer Vertrautheit eingestellt, die
einfach da war, obwohl das gar nicht sein konnte. Es war paradox.
Einerseits prasselte dauernd Neues, Ungewohntes und Unverständliches
auf mich ein, ein ununterbrochener Strom, so viel, dass ich über das
Gejammer über Informationsüberflutung, das ich von daheim her
kannte, bald nur noch lachen konnte. Ich wurde schnell müde, konnte
jeden Nachmittag eine Stunde schlafen und nachts noch problemlos neun
bis zehn Stunden durchschlafen. Aber ich fühlte kein Bedürfnis,
mich gegen das, was da auf mich einströmte abzuschirmen, im
Gegenteil.
In
der zweiten Woche begann ich mich zu fragen, wie es sein kann, dass
alles sich so wenig fremd anfühlte, so passend und stimmig, obwohl
fast nichts so war wie daheim. Ich konnte spüren, wie die Flut
der Eindrücke langsam Dämme in mir aufweichte und einen nach dem
anderen wegspülte, wie sie mich mehr und mehr öffnete, aufweichte
und auf eine Weise beschenkte, für die ich keine Worte fand. Ich
fühlte mich mittendrin zur richtigen Zeit am richtigen Ort und
badete darin als würde ich dort hinein gehören. Dieses Grundgefühl
ging auch bei späteren Aufenthalten in China nie ganz verloren,
selbst als es dann durch weniger angenehme Gefühle überlagert
wurde.“
„Langsam verstehe ich Dich etwas besser.“ bemerkte
Sofia. „Alles Weitere hat sich also schon damals, auf Deiner
allerersten Reise abgezeichnet.“ Anna war überrascht „So habe
ich das noch gar nicht gesehen. – Aber ich glaube Du hast mal wieder
recht“, erwiderte sie nachdenklich.
„Nur ich selbst hatte
damals nicht begriffen was dieses paradoxe Gefühl der Vertrautheit
des völlig Fremden bedeuten mochte. – Und wenn ich’s recht überlege,
dann begreife ich es auch heute noch nicht…“ – „Nun, wenn Du so
schwer von Begriff bist, dann solltest Du vielleicht doch noch einmal
hinreisen.“ Tante Sofias verschmitztem Lächeln konnte man den Spaß
anmerken, den es ihr bereitete, Anna ein wenig necken zu können.
„Oder eben mit offenen Fragen leben lernen.“ konterte Anna eine
Spur zu heftig. „Zur Zeit ist mir jedenfalls nicht nach Fernreisen
zumute.“ – „Schon gut, schon gut! Zugegeben, immerhin hast Du ja
auch eine ordentliche Dosis davon abbekommen.“ lenkte Tante Sofia
ein.
Draußen
hatten die Regenschauer sich verzogen. Die Wolkendecke riss
unvermittelt auf und im Garten ließen Sonnenstrahlen die letzten
Regentropfen glitzern, die sich noch unschlüssig an Knospen und
Blättern festhielten. Annas Blick wanderte versonnen zum Fenster
hinaus, während Tante Sofia die Pause nutzte, um sich ihrem
Frühstücksei zu widmen.
„Du hast immer hier gelebt.“ fuhr
Anna nach einer Weile fort. „Siehst Du überhaupt noch, wie schön
es hier ist? – Neulich bin ich morgens nach so einem Aprilschauer wie
dem gerade eben durch die Obstwiesen hierher gefahren. In der klaren
Luft konnte man von den Anhöhen aus weit in die Landschaft schauen,
am Horizont die Berge, die Wiesen mit frisch geduschtem Frühlingsgrün
überzogen, darüber die Kirschbäume, ein einziges weißes
Blütenmeer. Und als die Morgensonne hineinleuchtete strahlten die
Blüten zurück als wollten sie alle selbst kleine Sonnen werden. –
Ich wusste gar nicht, dass Schönheit weh tun kann…“ Anna
verstummte.
„Vielleicht musstest Du erst in der gelben Flut
getauft werden, um sehen zu lernen.“ In Tante Sofias Augenwinkeln
hatte sich schon wieder der Schalk eingenistet.
„Der Aufenthalt dort hat Dich jedenfalls verändert, das sieht ein Blinder, und nicht zum Schlechteren, wie ich meine. Früher, da wolltest Du immer nur weg von hier. Es war Dir alles zu eng, zu ländlich, zu kleinkariert. Glaub‘ mir, auch ich hatte so meine Schwierigkeiten mit dem Landleben und manchmal tut es mir auch heute noch leid, von der Welt nicht viel gesehen zu haben. Aber ich will Deiner Frage nicht ausweichen. Weißt Du, in jungen Jahren habe ich furchtbare Zeiten durchgemacht, an denen viele Menschen zerbrochen sind, wenn sie überhaupt überlebten. Bei mir haben diese Erfahrungen dazu geführt, dass es mir leicht fällt, Schönheit zu sehen, wenn ich ihr begegne. Leichter jedenfalls als vielen Jungen, die in Friedenszeiten groß werden konnten. Ja, ich sehe noch, wie schön es hier ist.“ Wieder wurde es für eine Weile still.
„Na,
dann kann ich ja jetzt ein bisschen was von der großen weiten Welt
zu Dir nach Hause bringen.“ Anna hatte sich wieder gefangen.
„Genau, und wo wir gerade bei der gelben Flut waren, hast Du
eigentlich mal den gelben Fluss gesehen?“ Tante Sofias Neugierde
war schon wieder aktiviert. „Ja, mehr als einmal. Das erste Mal auf
der Busrundreise, die ich damals im Anschluss an die zwei Wochen
Unterricht gebucht hatte. Sie wurde von der Uni für die
ausländischen Studenten veranstaltet.
Zwei Busse voller junger
Leute aus aller Herren Länder, die in Schwindel erregenden Tempo von
Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit verfrachtet wurden. Große
Mauer bei Peking, Shaolin-Kloster, Xi-An mit Tang-Zeit-Palästen und
Terrakottaarmee, Tempel in Kaifang, Buddhistische Grotten in Luoyang
und schließlich der gelbe Fluss bei Zhengzhou. Dort ist der gelbe
Fluss schon ein mächtiger Strom, lehmfarben und so breit, dass man
von einem Ufer aus das andere nicht mehr sehen kann. Auf beiden
Seiten ziehen sich fruchtbare Schwemmlandgürtel den Flusslauf
entlang und im Fluss gibt es viele lehmige Inseln.
Wir wurden mit
einem Hoovercraft herum geschippert und dann auf eine der Flussinseln
gebracht, auf der man die angeblich ältesten Artefakte der
Besiedelung Chinas gefunden hatte. Ich weiß gar nicht mehr so recht,
was genau wir dann dort besichtigt haben, aber die Fahrt auf dem
Fluss war ein Riesenspaß. Überhaupt war es spannend, mit so vielen
jungen Leuten unterwegs zu sein.
Anfangs gluckten alle nach
Nationalitäten getrennt in Gruppen zusammen, aber schon ab dem
zweiten Tag mischte es sich immer bunter durcheinander. Nur der
italienische Block, wie wir anderen die Italienischen Studenten nach
einer Weile nannten, der ließ sich nicht aufweichen. Mit einer
Japanerin habe ich mich sogar soweit angefreundet, dass wir uns auch
bei meinen späteren China-Reisen immer wieder trafen und auch heute
halten wir noch Kontakt.“
„Es
wundert mich nun gar nicht mehr, dass Du nach der Rückkehr von
dieser ersten Reise daheim nicht mehr richtig klar gekommen bist.“
stellte Tante Sofia fest. „Du hattest geradezu Feuer gefangen und
solltest dann wieder brav hinter der Bürotür verschwinden, bis der
nächste Urlaub Dir wieder ein paar kurze Schnapper Frischluft
zukommen lassen würde.“ – „Ja, spätestens nach dem Erlebnis mit
dem leeren Medizinschrank in Monikas Wohnzimmer wurde auch mir
bewusst, dass es bei mir mit ein paar weiteren Urlaubsreisen nach
China, Sprachkursen und dem Sammeln von Kulturfetischen nicht
getan sein würde.
Aber eine klare Vorstellung davon, was ich
machen wollte, hatte ich da immer noch nicht. Die reifte erst in den
folgenden Wochen, als ich merkte, wie ich immer mehr den emotionalen
Kontakt zu meiner alten Lebenswelt verlor. Das Schiff hatte so zu
sagen schon den Anker gelichtet und driftete aus dem Hafen hinaus,
der Kapitän schlief aber noch in seiner Kajüte.“ – „Oder
verkroch sich darin vor lauter Angst, etwas unternehmen zu
müssen.“ kicherte Tante Sofia dazwischen. Erneut stellte Anna
fest, dass sie keine Chance hatte, vor Sofias klarem Blick etwas zu
verbergen.
„Ja,
irgendwann musste ich dann doch reagieren, wenn das Schiff nicht auf
Grund laufen sollte. Ich wusste wohl, dass ich für länger nach
China wollte, aber wie sollte ich das umsetzen? Damals habe ich für
eine ziemlich kleine Firma gearbeitet und es war von vorne herein
klar, dass sie jemand Neues einstellen würden, wenn ich länger weg
war als es die Urlaubszeiten vorsahen. Aber die Entscheidung, seinen
Job hin zu schmeißen, ist nicht so einfach wie es von außen
aussehen mag. Als der Handlungsdruck stieg, setzte ich mich an
einem ruhigen Wochenende dann doch hin und versuchte
auszurechnen, wie ich mir ein Sabbatjahr in China leisten und für
die Zeit der erneuten Arbeitssuche danach noch ein finanzielles
Sicherheitspolster anlegen konnte. Das Ergebnis war nicht sehr
ermutigend. Wenn ich meinen damaligen Lebensstandard beibehalten
wollte, hätte ich fünf Jahre sparen müssen, bis ich das Geld
zusammen hatte. Das war aber viel zu lang für mich. Ich musste mir
eine andere Lösung einfallen lassen.
In der Stadt war günstiger
Wohnraum für Studenten knapp und so entschied ich mich, ein Zimmer
unter zu vermieten. Blieben noch drei Jahre, und auch das war
mir noch zu lang. Als nächstes strich ich dann das Auto von der
Liste der Dinge, die ich unbedingt besitzen musste und landete bei
zwei Jahren. Das fühlte sich gut an, nicht zu lang und nicht zu
kurz. Ich konnte es mir so sogar noch leisten, die Urlaube während
der zwei Jahre Ansparzeit für weitere Reisen nach China zu nutzen.“
– „Das ist aber ein heftiger Schnitt, den Du da vorgenommen hast.“
Tante Sofia war nachdenklich geworden.
„Wenn
ich mir vorstelle, ich sollte von heute auf morgen meine Wohnung mit
einem wildfremden Menschen teilen… Nein, ich glaube, ich könnte
das nicht. Aber wie ist es Dir damit ergangen?“
„Auch ich
hatte anfangs meine Zweifel. Aber fünf Jahre warten,
das konnte ich einfach nicht, etwas Besseres ist mir auch nicht
eingefallen, also habe ich es eben probiert. Und zwei Monate später
ist dann dieses junge Ding aus Tianjin bei mir eingezogen, neunzehn
Jahre alt und zum ersten Mal im Ausland.“ – „Und gleich auch
noch eine Chinesin! Wie hat sich das denn ergeben?“ – „Damals
habe ich einmal pro Woche Sprachunterricht bei einem chinesischen
Studenten genommen der aus Tianjin stammte. Nachdem ich ihm von
meinem Vorhaben erzählt hatte, dauerte es nicht lange und der
Kontakt zu meiner ersten Untermieterin war hergestellt.“
–
„Hattest Du denn mehrere?“ – „Ja, über die zwei Jahre hinweg
insgesamt vier. Zwei Chinesinnen, eine Deutsche und eine junge Frau
aus der Slowakei.“ – „Da hattest Du ja Leben in der Bude, das
hört sich schon fast nach einem Taubenschlag an. Waren diese Leute
nicht alle ganz verschieden? Wie lief es denn mit ihnen?“
„Ja,
die Unterschiede im Verhalten und auch in der Art der Beziehung, die
sich ganz automatisch entwickelt wenn man sich eine Wohnung teilt,
waren enorm. Auch die beiden Chinesinnen waren charakterlich ganz
unterschiedlich gestrickt, die zweite war außerdem ein paar
Jahre älter als die erste. Aber mit beiden hat sich ein sehr
angenehmes, freundschaftliches Verhältnis herstellen lassen. Die
Deutsche habe ich fast gar nicht mitbekommen. Sie war nur zum
Schlafen da und ansonsten völlig unproblematisch. Richtig Ärger gab
es nur mit der Slowakin, die jeden Versuch einer Abstimmung über
irgend etwas im Haushalt als persönlichen Angriff wahrnahm und dann
sofort zur Gegenattacke überging. Sie war das reinste
Kontrastprogramm zu den Chinesinnen.“
Tante Sofia schaute
verwundert. „Von der Slowakin hast Du mir gar nichts erzählt…
Wenn ich mich recht erinnere, warst Du in jener Zeit ständig von
Chinesen umringt. Auf den Fotos, die Du mir ab und zu von Dir daheim
geschickt hast, waren jedenfalls außer Dir kaum noch Leute drauf,
die nicht chinesisch aussahen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass
der runde Tisch mit der roten Decke wirklich in Deiner Küche steht,
hätte ich wohl angenommen, dass die Fotos in China geschossen worden
waren.“ – „Ja, es kam ab und zu vor, dass die Chinesinnen Freunde
da hatten, vor allem bei der ganz jungen Frau aus Tianjin was
das öfter der Fall.
Wenn es sich ergab, bereiteten wir zusammen
Jiaozi zu, die chinesischen Maultaschen. Dieses Gericht wird in China
oft zubereitet, wenn jemand die Familie für längere Zeit verlässt
oder wenn er wieder zurück kommt. Es dauert eine ganze Weile, bis
Teig und Füllung vorbereitet sind und der Teig zu kleinen Scheiben
gewalkt, gefüllt und kochfertig zusammengefaltet ist. Alle
Anwesenden machen mit und entsprechend lebhaft geht es dabei zu. Das
anschließende gemeinsame Essen ist dann der zweite Akt dieses
Familienrituals. Solche Erlebnisse haben das Zusammenleben mit
den Chinesinnen sehr angenehm gemacht.“
– „Und das war sicher
keine schlechte Vorübung für Deinen China-Aufenthalt.“ ergänzte
Tante Sofia. „Aber sag mal, war das nicht ein seltsames
Lebensgefühl, in Deutschland zu leben und gleichzeitig so viel
Freizeit mit Chinesen zu verbringen? Du hattest doch auch deutsche
Freunde, was sagten denn die dazu?“ – „Ja, meine deutschen
Freunde taten sich allesamt schwer mit der Entwicklung, die ich in
jener Zeit nahm. Es gab Ausnahmen, die ein begrenztes Interesse
für das aufbrachten, was sich bei mir da tat. Davon abgesehen lernte
ich aber schnell, dass ich, von oberflächlichen Andeutungen einmal
abgesehen, das meiste am besten für mich behielt. Ich hätte das
anfangs so nicht erwartet, aber es ergaben sich zwangsläufig zwei
getrennte Freundeskreise, einen chinesischen und einen deutschen. Und
leider es blieb auch nicht aus, dass sich einzelne der deutschen
Freunde distanzierten, weil sie gar nicht mit der Entwicklung umgehen
konnten.
Außerdem
waren da noch die Beziehungen am Arbeitsplatz. Natürlich wusste
man dort, dass ich neuerdings meine Urlaube in China verbrachte und
mich für das Land sehr interessierte, aber ich konnte unmöglich
jahrelang vorher verkünden, dass ich beabsichtigte, für ein
Sabbatical in China alles hin zu schmeißen. Ich führte dort also
ein Doppelleben und das war auf seltsame Weise schwer und leicht
zugleich.
Der leichte Teil ergab sich daraus, dass ich aus meiner
Unschlüssigkeit herausgefunden hatte und ein Ziel anstrebte, das
mich stärkte. Meine Arbeit fiel mir leicht und vieles, mit dem ich
vorher gehadert hatte, löste sich nun wie von selbst. Andererseits
erschienen mir die Themen, über die sich meine Kollegen beim
Mittagessen unterhielten, immer unbedeutender. Während es ihnen um
das neue Auto, die Eigentumswohnung, das Haus oder den
alles-inklusive Karibik-Urlaub ging, zählte ich die Groschen, fuhr
mit dem Fahrrad zur Arbeit und überlegte, was ich sonst noch alles
einsparen konnte, um mein Ziel zu erreichen. Schritt für Schritt
bewegte ich mich so auf ein Studentenleben zu, während sie in der
Gegenrichtung unterwegs waren. Ich wunderte mich manchmal selber
darüber, wie gleichgültig mir all das war, in was sie ihre gesamten
materiellen und geistigen Ressourcen investierten. Und in
unbeobachteten Momenten holte ich meinen kleinen Kalender aus der
Schublade, in dem ich die noch verbleibenden Arbeitstage bis zur
Kündigung zählte und abstrich.“
Anna versank für einige Augenblicke in ihren Erinnerungen. – „Es muss eine Erlösung gewesen sein, als Du dann endlich kündigen konntest.“ bemerkte Tante Sofia nach einiger Zeit. – „Und wie! Ich habe die Szene noch lebhaft vor Augen, wie ich meinem damaligen Chef die Immatrikulationsbescheinigung für mein erstes Semester an der Pekinger Universität unter die Nase hielt. Es war in Englisch und Chinesisch verfasst und er drehte und wendete es erst ein paarmal ungläubig hin und her, bis er begriff was es bedeutete. Er sagte nicht viel, ich kann mich nicht einmal mehr an seine Worte erinnern. Was ich aber noch heute spüren kann, ist das Plumpsen der Wagenladung Steine, die mir vom Herzen fielen, als ich die Tür seines Büros hinter mir schloss.“
Wieder wurde es still im Raum. „Ich glaube, ich sollte langsam mal meine Siebensachen packen.“ meinte Tante Sofia nach einer Weile. „Dieter wollte mich gegen Mittag abholen kommen. Schade, dass ich nicht länger bleiben kann… Aber wie wäre es, wenn Du demnächst einmal bei mir vorbei schaust? “ – „Na klar, abgemacht!“ stimmte Anna zu. „Alleine schon wegen Deiner sensationellen Pfannkuchen mit Apfelmus!“ – „Die gibt es aber nur wenn Du mir erzählst, wie’s Dir in China weiter ergangen ist!“ erwiderte Tante Sofia. „Oh, mit dieser Art von Arbeitsteilung habe ich kein Problem!“ kicherte Anna. „Ich erzähle während Du am Herd stehst und einen Pfannkuchen nach dem andern bäckst…“ – „Aha, was das angeht hat China Dich offensichtlich nicht verändern können.“ schmunzelte Tante Sofia.
Brücken …
Annas
zweite China-Reise unterschied sich deutlich von ihrer ersten. Der
Frühling begann gerade Einzug zu halten und sie brannte darauf, Land
und Leute zum ersten Mal auf eigene Faust erkunden zu können. Drei
Wochen Urlaub waren nicht viel für ein Land der Größe Europas,
also galt es, die wertvolle Zeit zu nutzen. Vorab hatte sie einen
Gabelflug nach Shanghai mit Rückflug von Peking aus gebucht und sich
einen groben Plan zurechtgelegt, welche Orte sie auf dem Weg
dazwischen mit Eisenbahn und Linienbussen ansteuern wollte.
Für
die ersten drei Tage konnte sie in Shanghai in Qiangs Elternhaus
Station machen. Sie hatte ihn bei dem chinesischen Studenten kennen
gelernt, der ihr in den letzten Monaten Chinesisch-Unterricht gegeben
hatte. Qiang studierte Maschinenbau, ein in sich gekehrter
Technik-Freak, der seine Freizeit damit verbrachte, in
Elektronikläden seinen Rucksack mit Platinen, Speicherchips und
Festplatten voll zu stopfen um in seinem Studentenzimmer daraus
Computer der Marke Eigenbau zusammen zu bauen. Nun jedoch hatte er
Semesterferien, die er daheim in Shanghai verbrachte.
Anna
hatte damit gerechnet, dass er sie am Flughafen abholen würde. Als
sie jedoch in der Ankunftshalle ankam, wurde sie zur ihrer
Überraschung von einem Empfangskomitee aus vier Personen
erwartet. Außer Qiang waren seine Mutter und ein befreundetes
Ehepaar gekommen, die Anna mit freundlicher Neugierde begrüßten.
Qiangs Mutter war eine auch für chinesische Verhältnisse klein
gewachsene, etwas pummelige Frau mit flink hin und her huschenden
Augen, Minipli-Frisur, einer schlichten grauen Strickjacke über
einer ebenso schlichten schwarzen Leinenhose und einer schwarzen
Schultertasche. Letztere klemmte sie sich resolut unter den Arm, als
sie nach der Begrüßung mit zügigen Schritten vor der Gruppe her in
Richtung Ausgang strebte.
Die nächste Überraschung waren die
beiden schwarzen Limousinen mit Fahrer, dunklen Scheiben und
Klimaanlage, die draußen auf sie warteten. Qiang, der neben Anna im
Fond Platz genommen hatte erzählte, dass sie zuerst in ein
Restaurant zum Essen fahren wollten, bevor es dann zu ihnen nach
Hause ging. Wie sich heraus stellte, handelte es sich um ein sich
langsam um seine eigene Achse drehendes Nobelrestaurant im 28. Stock
eines Wolkenkratzers des neuen Schanghaier Geschäftsbezirks Pudong,
das sie nun ansteuerten. Trotz ihrer schlicht gehaltenen Erscheinung
zählten Qiang und seine Mutter ganz offensichtlich zu den
Wohlhabenden.
Anna
war vom langen Flug und durch die Zeitumstellung müde und
aufgekratzt zugleich und hoffte, das Essen würde nicht allzu lange
dauern. Sie sehnte sich nach Ruhe und einer Möglichkeit, für eine
Weile abzuschalten. Aber Qiangs Mutter hatte ihre eigenen Pläne.
Im
Restaurant wurden sie zu einem großen runden Tisch mit einer
Drehplatte in der Mitte geführt und bald gesellten sich noch weitere
Freunde mit ihren Ehefrauen hinzu, die nach der Begrüßung
begannen, lebhaft im Shanghaier Dialekt durcheinander zur schnattern.
Da dieser Dialekt sich von Mandarin etwa so stark unterscheidet wie
Italienisch von Schwedisch, hatte Anna keine Chance, auch nur
Bruchstücke zu verstehen.
Qiang hatte neben Anna Platz genommen
und machte sich einen Spaß daraus, für Anna die Gespräche aus
seiner Sicht zu kommentieren. „Das sind alles Geschäftspartner
meiner Mutter.“ begann er mit einem ironischen Lächeln zu
erklären. „Bei diesen Leuten geht es nur um Geschäfte, Geld und
Gewinn. Du verpasst also nicht viel, wenn Du nichts verstehst.“
Anna war perplex. Offensichtlich hatte sie die Frau, die ihr vorhin
in der Ankunftshalle des Flughafens mit dem Charme einer resoluten
Hausfrau entgegen getreten war, völlig falsch eingeschätzt.
Was
macht Deine Mutter denn beruflich?“ – „Nun, sie handelt mit
Aktien. Bis vor einigen Jahren war sie Buchhalterin in einem
Staatskonzern. Aber das hat sie jetzt nicht mehr nötig. Als die
Shanghaier Börse öffnete, ist sie als eine der ersten
Privatpersonen mit ihrem Ersparten dort eingestiegen und mittlerweile
gehört sie zu den größten Fischen im Teich. Alle, die hier mit am
Tisch sitzen, sind mehr oder weniger stark vor ihrer Gunst abhängig,
deshalb sind sie heute auch ihrer Einladung gefolgt.
Jetzt
besprechen sie, welche Strategien sie nächste Woche an der Börse
verfolgen wollen, mit welchen Koalitionen sie ihre Konkurrenten
fertig machen können und welche Anlagemöglichkeiten
erfolgversprechend sind.“ Qiang schien zum neu erworbenen Reichtum
seiner Mutter ein gespaltenes Verhältnis zu haben. Anna lauschte
gespannt. Ihre Müdigkeit war wie weg geblasen und sie hätte ein
Vermögen dafür gegeben, direkt verstehen zu können, was am Tisch
erzählt wurde. „Das klingt ja, als würden sie sich wie ein
Wolfsrudel gemeinsam auf die Jagd machen, wenn sie an der Börse
spekulieren.“ wunderte sich Anna. Qiang lachte auf. „Dieser
Vergleich ist nicht übertrieben. Und meine Mutter ist die
Rudelführerin.“ Anna war über seine Offenheit fast noch mehr
erstaunt als über das, was sie eben über seine Mutter und ihre
Geschäftsfreunde erfahren hatte.
Als die bestellten Gerichte serviert wurden, bemerkte Anna, dass einige darunter waren, die sie zuvor noch nie gegessen hatte. Unverkennbar spielten Meeresfrüchte und Fisch die Hauptrolle in Shanghais Küche, was Annas Geschmack sehr entgegen kam. Nach und nach wurden über zwanzig verschiedene Schüsseln und Teller auf die Drehplatte gestellt, darunter zwei Teller die mit etwas belegt waren, das Anna als in Stücke geschnittene Hälften eines Aals oder einer ähnlich lang gestreckten Fischart ansah. Nachdem sie sich ein Stück davon in ihr Schälchen genommen hatte fiel ihr auf, dass die Gräten dieses Fisches keine spitzen Enden hatten sondern keulenförmige. Auch waren sie viel kräftiger und elastischer als sie das von Gräten anderer Fische her kannte. Geschmack und Konsistenz des Fleisches konnte Anna weder Fisch noch Geflügel zuordnen, es schmeckte leicht nach Nuss. „Was ist das für ein köstlicher Fisch?“ fragte sie Qiang nach den ersten Bissen. „Das ist kein Fisch, das sind Schlangenfilets, dafür ist dieses Restaurant berühmt.“ meinte er, während er neugierig ihre Reaktion beobachtete. Vielleicht hätte Anna gezögert, überhaupt davon zu essen, wenn sie dies gewusst hätte bevor sie probierte. Nun aber hatte der Kopf gegen den Gaumen keine Chance mehr und Anna nahm sich später noch ein weiteres Stück Schlangenfilet.
Auf
der Drehplatte wartete eine weitere Überraschung auf Anna. Das
Gericht befand sich in einer Glasschüssel mit Deckel und schien
kochend heiß zu sein, denn es spritzte und blubberte in einer
dunkelbraunen Soße vor sich hin. Nach einer Weile hatte sich der
Inhalt der Schüssel abgekühlt, einer der Geschäftsfreunde öffnete
den Deckel und fischte eine weißlich durchscheinende Garnele aus der
Soße. Da sah Anna, wie das Tier sich langsam zwischen seinen
Stäbchen hin und her krümmte, während er es zum Mund führte.
Qiang konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als er Annas
entsetztes Gesicht sah. „Das sind betrunkene Garnelen. Sie werden
lebendig in eine Soße aus hochprozentigem Schnaps und Sojasoße
gegeben und gleich serviert. Sie schlagen noch eine Weile mit den
Schwänzen, während der Alkohol sie langsam lähmt und abtötet.“
Obwohl er Deutsch gesprochen hatte, schienen mittlerweile alle am
Tisch mitbekommen zu haben, worum es bei dem Gespräch zwischen Qiang
und Anna gerade ging. Prompt fordere der Geschäftsfreund Anna auf
Mandarin dazu auf, ebenfalls von den Garnelen zu probieren. Anna
erstarrte für einen Moment, während sie in Gedanken fieberhaft nach
einem Ausweg suchte. Augen zu und durch schien die einzige Lösung zu
sein. Tapfer tauchte sie ihre Stäbchen in die braune Soße und
versuchte, eine Garnele zu erwischen, die sich nicht mehr bewegte.
Sie schaute das Tier nicht an während sie es hastig in den Mund
schob, biss einige Male hektisch darauf herum, schluckte und spülte
umgehend mit ein paar kräftigen Zügen Bier nach. Der
Geschäftsfreund schlug sich auf die Schenkel und lachte, Qiang fiel
ein und während Anna langsam durchatmete begann die ganze Runde,
fröhlich in der Schüssel nach den Garnelen zu fischen. Später
bemerkte Qiang, Anna sei die einzige Ausländerin gewesen, die er
jemals von diesem Gericht hätte essen gesehen.
Nach dem
Garnelentest widmete die Runde sich wieder ihren Finanzthemen, die
Geschäftsfreunde prosteten sich von Zeit zu Zeit mit Reissschnaps zu
und Anna konnte den Rest des Essens in Ruhe genießen, zumindest
soweit es ihre nun wieder zurück kehrende Müdigkeit noch zuließ.
Es gab offenbar viel zu besprechen, das Essen war vielfältig und
reichhaltig und zog sich in die Länge. Aber sie wusste, dass bei
chinesischen Essenseinladungen alles Wesentliche während des Essens
besprochen wird und die ganze Veranstaltung ihr natürliches Ende
findet, sobald der Letzte seine Stäbchen nieder legt. Der westlichen
Gewohnheit, die wichtigen Themen erst nach dem Essen beim
anschließenden Genuss alkoholischer Getränke anzusprechen, würden
diese Geschäftsfreunde hier nicht folgen.
Die
Qiangs wohnten in der Innenstadt Shanghais, in einem mit hohen Zäunen
und Wachpersonal abgeriegelten Wohnviertel, das sich „Europagarten“
nannte. Fassaden, Balkone und Eingangstüren waren Fassaden
nachempfunden, wie sie in den besseren Altstadtvierteln europäischer
Hauptstädte zu finden sind. Der einzige ins Auge stechende
Unterschied war die Höhe der Häuser, die man in Europa wohl eher
als Wolkenkratzer angesehen hätte. Wie Anna mittlerweile fast
vermutet hatte, war die Wohnung der Qiangs weitläufig und luxuriös
ausgestattet. Man bot ihr ein Gästezimmer mit eigenem Badezimmer an,
dessen Ausstattung abgesehen von den vergoldeten Armaturen fast
gänzlich aus Marmor bestand. Auch sonst schien Qiangs Mutter Marmor
zu lieben, denn Marmorböden dominierten auch den Flur, ihr
Gästezimmer und den Rest der Wohnung, soweit sie diese hatte
überblicken können.
Nachdem Anna die Tür ihres Gästezimmers
hinter sich zu gezogen hatte, bemerkte sie, dass es in dem Raum nicht
wärmer war als in der kühlen Frühlingsluft draußen und das
Kältegefühl wurde vom Marmorboden noch zusätzlich verstärkt. Die
Suche nach einem Heizkörper, den man aufdrehen konnte, verlief
jedoch erfolglos. Während sie etwas ratlos begann, ihren
Kulturbeutel aus dem Trekking-Rucksack zu kramen, erinnerte sie sich
vage daran, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass in China südlich
des Jangtse-Flusses Wohngebäude grundsätzlich nicht beheizt werden
durften, um Energie zu sparen. Anna hatte sich jedoch nie klar
gemacht, dass dies auch für Shanghai galt. Die Europa-Ähnlichkeit
dieser Luxuswohnanlage hier endete also damit, dass man im Frühling
mit dicken Jacken und Hosen schlafen ging. Die Vorstellung, wie Qiang
und seine Mutter im Winter zwischen Marmorböden und goldenen
Wasserhähnen dick eingemummelt vor sich hin bibberten ließ Anna
schmunzeln. Offensichtlich endete an diesem Punkt der sicher nicht
geringe Einfluss, den der Reichtum den Qiangs verschaffte.
Am
nächsten Tag war Anna schon früh auf den Beinen. Da in der Wohnung
der Qiangs noch völlige Stille herrschte, hinterließ sie eine Notiz
mit ihren Plänen für den Tag auf einer Kommode in der Diele und
machte sich leise auf den Weg. Draußen war die Stadt schon längst
erwacht und Anna ließ sich mit einem Taxi in den Lu-Xun-Park fahren.
Es war etwa halb sieben morgens und die Sonne war noch nicht
aufgegangen, als sie dort anlangte. Trotz der frühen Stunde war der
Park voll quirligem Leben, bevölkert von hunderten älterer
Menschen, die diesen Ort für ihren morgendlichen Ausflug an die
frische Luft nutzten. Dabei handelte es sich jedoch in den seltensten
Fällen um bloßes Spazierengehen. Im Gegenteil, die Alten waren mit
den verschiedensten Sportarten und Hobbies beschäftigt und
konzentriert bei der Sache. Viele machten Tai-Ji-Übungen, andere
umarmten Bäume, liefen rückwärts die Parkwege entlang oder nutzten
die aufgestellten Fitnessgeräte für ihre Übungen. Einige Grüppchen
saßen zusammen und spielten chinesisches Schach, auf einem
gepflasterten Platz wurde nach westlichen Melodien Walzer getanzt und
in den stilleren Ecken hatten Männer Vogelkäfige in die Bäume
gehängt und animierten ihre Vögel zum Singen.
Mit neugierigem
Staunen bewegte sich Anna durch die verschiedenen Bereiche des Parks
und beobachtete das eifrige Treiben der Alten. Es war offensichtlich,
dass sie nicht nur ihren Spaß daran hatten, sondern auch um die
heilsame Wirkung ihres Tuns wussten. Viele schienen gelenkiger und
körperlich fitter zu sein als sie selbst und die meisten hatten eine
selbstbewusste und lebensfrohe Ausstrahlung. „Kaum jemand, der in
China ein hohes Alter erreicht hat, kann auf ein angenehmes, leichtes
Leben zurückblicken.“ ging es Anna durch den Kopf. „Und trotzdem
sind so viele Alte hier körperlich und geistig agil und voller
Energie, während alt sein bei uns daheim fast nur mit Leiden,
Verfall und Depressionen in Verbindung gebracht wird.“ Anna konnte
sich dem Eindruck, den der krasse Gegensatz zwischen der
Lebensbejahung vieler alter Menschen in China und der Leidensmiene
ihrer Altersgenossen in Europa auf sie machte, nur schwer
entziehen.
Nachdem sie einige Zeit durch den Park geschlendert
war, suchte sie sich eine Bank, die von den ersten Strahlen der
aufgehenden Sonne beschienen wurde und von der aus sie das bunte
Treiben um sich herum weiter beobachten konnte. Damit war sie die
einzige Person weit und breit, die untätig herumsaß.
Anna genoss
die zunehmende Sonnenwärme, musste plötzlich gähnen und merkte,
wie sich das Gefühl der Fremdheit langsam auflöste, das sie seit
ihrer Ankunft in Shanghai wie durch eine Glasscheibe auf ihre Umwelt
hatte blicken lassen. Die Scheibe schien langsam zu zerfließen und
an den Rändern auszufransen. Sie blieb einfach sitzen, döste vor
sich hin oder schaute den Alten zu bis der Park sich gegen acht Uhr
allmählich zu leeren begann.
Anna spürte, wie ihr Magen mit zunehmender Deutlichkeit nach Frühstück verlangte und beschloss, sich nach Shanghais Altstadtviertel aufzumachen. Diese Viertel waren nicht nur wegen ihrer typisch chinesischen Straßenszenen ein Erlebnis, sondern es gab dort auch eine große Auswahl an Straßenverkaufsständen und kleinen Restaurants, in denen man seinen Hunger stillen konnte. Die schmalen Straßen und engen Gassen waren gesäumt mit einem bunten Durcheinander, das aus den meist zwei Stockwerke hohen Altstadthäusern heraus quoll. Auslagen kleiner Läden auf schmalen Tischen oder in Säcken, dazwischen abgestellte Transportdreiräder mit weiteren Säcken voller Ware auf der Tragfläche, mannshohe Kübelpflanzen, Stühle neben Eingangstüren, auf denen Mütter mit Baby auf dem Schoß die Vormittagssonne genossen, hungrige junge Männer schlürften auf den Stufen vor der Haustür sitzend Bandnudeln aus ihrer Frühstückssuppe, Vogelkäfige baumelten mit ihren zwitschernden Insassen aus den Fenstern im ersten Stock, winzige Ein-Mann-Garküchen auf Rädern boten Dampfbrötchen oder chinesische Maultaschen an und über all dem bildeten quer über die Gassen gespannte, voll behängte Wäscheleinen einen bunt in der Frühlingsluft flatternden Baldachin. In vielen Gassen war in der Mitte kaum mehr als die Hälfte der ursprünglichen Breite für die hindurch eilenden Fußgänger, Fahrrad- oder Mopedfahrer frei. Autos waren hier, wo die Menschen in bescheidenen Verhältnissen lebten, so gut wie keine zu sehen. Auf Anna wirkten die Gassen, deren Anwohner einen Großteil ihres Lebens draußen vor ihrer Haustür zu verbringen schienen, wie große Gemeinschaftswohnzimmer, die nicht für Durchgangsverkehr oder neugierige Touristen gedacht waren. Fast hatte sie das Gefühl, irgendwo klingeln oder anklopfen zu müssen, wenn sie in eine Gasse einbog. Aber die Leute schienen sich nicht weiter an den Passanten zu stören. Nur gelegentlich traf Anna ein neugieriger Blick, den sie mit einem „Ni Hao“ erwiderte. Sie genoss es, durch das bunte Treiben von einer Gasse in die nächste zu schlendern, sich hier und da einen Imbiss zu gönnen und möglichst unauffällig die Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu beobachten.
Es
war schon früher Nachmittag, als Anna bemerkte, wie müde sie der
ständige Strom neuer Eindrücke und das Durchstreifen der Gassen
mittlerweile gemacht hatte. Als sie ein paar Ecken weiter
auf eine breite Durchgangsstraße mit Autoverkehr stieß, ergriff sie
die Gelegenheit und winkte eines der Taxis heran. Zurück im
Europa-Garten öffnete ihr ein Hausmädchen die Tür zur Wohnung der
Qiangs. Anna war froh, dass sonst niemand anwesend zu sein schien und
verschwand in ihrem Gästezimmer, um sich eine ausgiebige Siesta zu
gönnen.
Gegen Abend schienen die Bewohner der Wohnung
zurückgekehrt zu sein denn Anna wurde von Geräuschen und Stimmen
aus ihrem Dämmerschlaf geholt. Sie wollte gerade den Flur in
Richtung Küche überqueren, aus der sie Qiangs Mutter mit dem
Hausmädchen diskutieren hörte, da kam Qiang ihr entgegen und lotste
sie weiter in Richtung Essraum, wo der Tisch schon gedeckt war.
„Heute Abend gibt es ein Gericht, das ich aus Deutschland
mitgebracht habe.“ erklärte er Anna. „Und das soll natürlich
eine Überraschung sein!“. Nachdem sich wenig später auch Qiangs
Mutter zu den beiden hinzu gesellt hatte, schleppte das Hausmädchen
eine Riesenschüssel mit Kartoffelsalat herbei, dann eine mit grünen
Salat der noch eine Platte mit Buletten folgte. Auch Senf, Ketchup
und Qingdao-Bier fehlten nicht. Die Überraschung war gelungen und
wie Anna kurz darauf feststellte, war alles so gut zubereitet, dass
es sich geschmacklich problemlos mit dem messen konnte, was in
deutschen Küchen gekocht wurde. „Wir dachten, wir können Dir
nicht immer scheintote Garnelen, Schlangen und Seegurken vorsetzen.“
kommentierte Qiang mit seinem trockenen Humor. Gut gelaunt langten
alle zu und Anna musste ausführlich erzählen, wo und wie sie
tagsüber ihre Zeit verbracht hatte.
Nach
dem Essen schlug Qiang vor, zusammen noch zum Waitan (Bund) zu fahren
und von der Uferpromenade aus die nächtliche Skyline des auf der
anderen Seite des Huangpu neu entstehenden Geschäftsviertels Pudong
zu genießen.
Es war ein krasser Gegensatz, der sich Annas Blicken
von der Uferpromenade aus bot. An der Promenade selbst reihte sich
ein dezent angestrahlter Prachtbau aus der Kolonialzeit an den
anderen und vermittelte den Eindruck eines europäischen
Stadtzentrums. Ließ man den Blick jedoch über den Huangpu-Fluß
nach Pudong hinüber schweifen, so traf er dort auf in Bonbonfarben
erleuchtete Türme verschiedenster Formen, die zusammen mit den rosa
gestreiften Perlen des Fernsehturms eine quietschbunte Szenerie
abgaben. Einzig der Jinmao-Turm setzte sich davon mit wohltuender
Zurückhaltung ab. Qiang schien sich der Wirkung bewusst zu sein, den
die Farbwahl der Illumination der Pudong-Türme auf Europäer hatte
und meinte mit einem sardonischen Grinsen: „Ja, wir Chinesen lieben
es sehr bunt, in manchen Parks strahlen wir nachts sogar die Bäume
grün und die Felsen rosa an .“ – „Ach komm, so schlimm wird es
schon nicht sein.“ versuchte Anna einzuwenden. „Doch, doch, warte
nur ab, früher oder später wirst auch Du so etwas zu sehen
bekommen, aber dann bist Du wenigstens vorgewarnt.“ beharrte Qiang,
dessen Grinsen nun noch breiter geworden war.
Langsam schlenderten
sie weiter die Uferpromenade hinunter, beobachteten die verschiedenen
Grüppchen westlicher oder asiatischer Touristen, die offenbar das
Gleiche taten wie sie und von Zeit zu Zeit versuchte Anna, etwas von
der Atmosphäre mit ihrem Fotoapparat einzufangen.
Am
nächsten Tag hatte Anna erst spät aus den Federn gefunden und der
Vormittag war schon zur Hälfte vorbei, als sie sich vor dem
Europa-Garten ein Taxi heranwinkte. Sie wollte sich die ehemalige
Residenz Lu Xuns anschauen, des ersten modernen Schriftstellers und
Intellektuellen Chinas. Der erste, der Anna etwas über Lu Xuns
Leben und Schreiben erzählt hatte, war Xiaomin gewesen. Dadurch
aufmerksam geworden, hatte Anna in der Folge gelesen, was immer ihr
von und über Lu Xun an Berichten oder Übersetzungen in die Hände
gefallen war. Seine in krasse Symbolbilder verpackte Kritik der
traditionellen chinesischen Gesellschaft faszinierte sie und viele
seiner Gedanken schienen so zeitlos zu sein, dass sie auch bezogen
auf moderne westliche Gesellschaften ihre Gültigkeit behielten. Das
zweistöckige Backsteinhaus, das sich Lu Xun während seiner letzten
Lebensphase mit seinem Sohn geteilt hatte, befand sich in einer
ruhigen kleinen Wohnstraße in der Nähe des Lu-Xun-Parks. Es war
unmittelbar nach Lu Xuns Tod zum Museum gemacht worden,
Wohnungseinrichtung und alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs
waren originalgetreu erhalten. Anna war die einzige Besucherin an
diesem Vormittag und konnte die Räumlichkeiten völlig ungestört
auf sich wirken lassen.
Ihr nächstes Ziel war das Viertel der
ehemaligen französischen Konzession mit seinen wunderschönen
Kolonialbauten und den alten chinesischen Wohnhäusern. Sie genoss
es, durch die für Shanghaier Verhältnisse erstaunlich ruhigen,
platanengesäumten Straßen zu schlendern und die Fassaden der alten
Häuser zu bewundern. Straßenhändler oder gar das in den
Altstadtgassen übliche Menschengewimmel gab es hier nicht.
Der
benachbarte Bezirk Xintiandi war bekannt für seine typischen
Shanghaier Shikumen-Häuser, ein Wohnhaustyp, der sich im 19.
Jahrhundert aus westlichen und chinesischen Elementen entwickelt
hatte. Außerdem lag hier das Gründungshaus der KPCH, in das Anna
ebenfalls einen Blick hinein werfen wollte.
Aber diese Etappe
ihres Weges gestaltete sich anders als erwartet. Das gesamte Viertel
war eine einzige Baustelle. Die Häuser zu beiden Seiten der Straßen
waren durchgehend mit Bambusgerüsten umgeben, viele von ihnen
schienen auch innen entkernt und komplett saniert zu werden. Sie
konnte kaum erkennen, welche der Häuser Shikumen-Häuser waren und
welche nicht. Die schmaleren Seitengassen waren völlig gesperrt und
auch die Straßen selbst waren Baustellen, fest gestampfte
Schotterpisten ohne Fahrbahndecken, mit endlos langen, gelben
Baustellenzäunen in verschiedene Zonen unterteilt, durch die sich
Fußgänger, Radfahrer und einige Autos ihren Weg zu bahnen
versuchten.
„Im Sommer wollte ich bei den in Shanghai dann
üblichen starken Regenfällen nicht hier durch müssen…“ dachte
Anna, während sie sich vorsichtig die Straße hinunter bewegte, an
deren Ende das Gründungshaus der KPCH liegen musste.
Das
dunkelgraue Backsteinhaus war zwar nicht mehr eingerüstet, aber
innen war es ebenfalls noch Baustelle und eine Besichtigung
unmöglich. Das einzige fertige Haus weit und breit befand sich
gegenüber auf der anderen Straßenseite und beherbergte eines der
mittlerweile überall wie Pilze aus dem Boden schießenden Starbucks
Coffeeshops. Da Anna noch nicht entschieden hatte, wie sie ihre
heutige Tour fortsetzen wollte, ging sie hinüber um bei einem
Latte Macchiato eine Verschnaufpause einzulegen.
Schließlich
machte sie sich in Richtung des Yu-Gartens auf den Weg, der für
seine traditionelle chinesische Gartenkunst und sein in der Mitte
eines kleinen Sees gelegenes Teehaus bekannt ist. Der Garten
gliederte sich in einen äußeren, weitläufigeren Teil und einen
kleinräumig gestalteten inneren Teil. Obwohl sehr viele Besucher
ebenfalls darin herum streiften, war Anna der Wirkung der
Gartenarchitektur sehr schnell verfallen. Auch auf kleinstem Raum
boten sich dem Auge ständig wechselnde Perspektiven und Szenarien.
Kleine Seen mit Felsenufern, Pavillons, kleine Brücken und nicht
zuletzt die Pflanzen fügten sich so in das Gesamtkonzept des
Gartens, dass er viele Male größer wirkte, als er wirklich war.
Anna machte sich einen Spaß daraus, alle möglichen Wege vor und
zurück zu laufen und die sich bietenden Anblicke wie ein
dreidimensionales Kino zu genießen. Eigentlich war es ein
vierdimensionales, denn soweit Anna wusste hatten die
Gartenarchitekten auch den Wandel der Gartenpanoramen im Lauf der
Jahreszeiten bis ins kleinste Detail mit einbezogen.
Anna hätte
sich anschließend gerne noch in das nur über Zickzackbrücken
erreichbare Teehaus gesetzt, aber es war so überfüllt, so dass sie
nur von außen hinein schauen konnte. So blieb ihr noch genügend
Zeit übrig, um durch die den Yu-Garten umgebenden Altstadtviertel zu
schlendern und das quirlige Leben und Treiben darin zu beobachten,
ehe sie sich wieder auf den Weg zurück zur Wohnung der Qiangs
machte.
Am Morgen ihres letzten Tages in Shanghai wollte Qiangs Mutter zur Börse fahren, um sich dort mit ihren Geschäftsfreunden zu treffen. Da Anna sich noch einmal ausgiebiger in Pudong, Shanghais neuem Geschäftsbezirk, umschauen wollte, hatte sie in etwa das gleiche Ziel und beide machten sich gemeinsam auf in die U-Bahn. An der Börse angekommen, wollte Anna wenigstens einen flüchtigen Eindruck des Gebäudeinneren erhaschen, bevor sie ihren Weg durch Pudong fortsetzte. Das Börsenparkett war jedoch sehr spartanisch gestaltet und versprühte den Charme einer Bahnhofswartehalle. Lange Reihen orangefarbener Plastikschalensessel füllten die Mitte eines großen, mit Neonröhren erhellten Saales aus. Von den Sitzreihen aus konnte man eine Tafel mit ebenso langen Reihen gelb und rot leuchtender chinesischer Zeichen und Zahlen im Blick halten. An den Seiten des Saales befanden sich mehrere Zeilen in Boxen untergebrachter Computerarbeitsplätze und das war auch schon alles, was es für den Nichteingeweihten an der noch in den Kinderschuhen steckenden Shanghaier Börse zu sehen gab. Es schien ein ruhiger Tag zu sein, denn die meisten Plätze waren leer. In einer der vorderen Reihen saßen zwei der Geschäftsfreunde von Qiangs Mutter und als sie diese mit Anna hereinkommen sahen, standen sie zur Begrüßung auf. Gemeinsam strebte man über mehrere lange Korridore hinweg einem weiter hinten im Gebäude gelegenen Büroraum zu, wo noch ein weiterer Geschäftsfreund gewartet hatte. Anna beschloss, die vier nun lieber ihren Geschäften zu überlassen, verabschiedete sich und suchte den Weg nach draußen.
Am Tag ihrer Ankunft war Anna schon einmal in Pudong gewesen, hatte damals aber nur wenig von der Umgebung aufnehmen können. Nun wollte sie dies nachholen. Vor allem der Jinmao-Turm mit seiner nach traditionellen chinesischen Gesichtspunkten gestalteten Architektur hatte es ihr angetan. Vom Aussichtsdeck in der 88. Etage des Turms aus ließ sie ihren Blick über Pudong, den Huangpu-Fluss und die jenseits davon sichtbaren Stadtteile Shanghais gleiten. Sie brauchte lange, um die Dimension dieser Riesenstadt wenigstens ansatzweise zu erfassen. Träge zogen Frachtschiffe auf dem Huangpu-Fluss ihre Bahnen. Am gegenüber liegenden Flussufer konnte sie die Umrisse der Gebäude des Waitan ausmachen. Über allem lag eine feine Dunstglocke, die das Sonnenlicht milchig schimmern ließ. Viele der umliegenden Wolkenkratzer hatten seltsam zusammengesetzte Formen und oft hatten die Architekten ihnen eine Art Dachschmuck aus geometrischen Objekten wie Kugeln, kleinen Pyramiden, Schalen oder Zylindern verpasst. Von oben wirkte das Ganze Ensemble auf Anna, als hätte ein Kind sich hier beim Spiel mit seinen Bauklötzchen verweilt und am Abend vergessen aufzuräumen. Auch der Fernsehturm mit seinen rosa Kugeln am Spieß fügte sich in dieses Bild ungewollt verspielter Komik. Nur dem Jinmao-Turm war dieses Schicksal erspart geblieben. Mit seiner nahezu perfekten Ästhetik ragte er aus der ihn umgebenden Bauklötzchensammlung hervor als wollte er daran erinnern, dass es irgendwo auf der Welt auch noch ein paar erwachsene Architekten geben musste.
Am Nachmittag fuhr Anna zum Shanghaier Bahnhof, um für den nächsten Tag eine Fahrkarte nach Suzhou zu erwerben. Qiang hatte angeboten, sie am Bahnhof zu treffen um ihr dabei behilflich zu sein, aber Anna hatte das Angebot höflich ausgeschlagen, denn sie wollte lernen, ohne fremde Hilfe mit den Herausforderungen, die chinesische Bahnhöfe, Fahrpläne und Fahrkartenschalter für Westler bereit halten, zurecht zu kommen. Am Bahnhof angekommen, nahm sie sich viel Zeit um durch die Halle und an den Fahrkartenschaltern vorbei zu schlendern, nach und nach die verschiedenen Plakate, Fahrpläne und sonstigen Schilder zu entziffern und die Menschen zu beobachten, wie sie sich ihren Weg durch das Gewimmel des Bahnhofs suchten. Wäre sie erst am folgenden Tag kurz vor der Abreise und unter Zeitdruck am Bahnhof eingetroffen, hätte sie mit Sicherheit den Zug verpasst. Aber in der entspannten Situation dieses Nachmittags fügte sich langsam Eines zum Anderen und am Ende war es gar nicht mehr so schwer gewesen, am richtigen Schalter die passende Fahrkarte zu erwerben und herauszufinden, auf welchem Gleis der Zug abfahren würde.
Anna
beschloss den Tag mit einem späten Bummel durch die Fußgängerzone
der Nanjing-Lu, Shanghais großer Einkaufsstraße. Hier säumte eine
eigentümliche Mischung aus Bauten im europäischen Stil und modernen
chinesischen Häusern die breite Straße. Viele Fassaden waren so mit
überdimensionalen Plakaten und Leuchtreklamen beladen, so dass sie
fast dahinter verschwanden. Anna ließ sich durch die Masse der
Menschen treiben, die nach Feierabend auf dem Heimweg ihre Einkäufe
erledigten.
Ab und zu erregte eines der Kaufhäuser ihre Neugierde
und sie ließ sich von den Menschen hineinschieben um sich
drinnen umzuschauen. Anders als sie es von Peking her in Erinnerung
hatte, standen hier in Shanghai weder die Inneneinrichtung noch das
Warenangebot der Kaufhäuser westlichen Standards auch nur im
geringsten nach.
Als ihre Füße langsam schwerer und ihr Geist
müder wurde, verweilte sie noch einige Zeit auf einer der Sitzbänke,
die es hin und wieder in der Mitte der Straße gab und sah den vorbei
eilenden Menschen zu. Erst als es mit zunehmender Dunkelheit zu kühl
dafür wurde, konnte sich sich von Shanghai trennen und machte sich
ein letztes Mal auf den Rückweg zur Wohnung der Qiangs.
Brücken und Brücken
Von
Suzhou mit seinen bezaubernden chinesischen Gärten aus führte Anna
ihre Reise in das als „Venedig Chinas“ bekannte Dorf Zhouzhuang,
zum Taihu-See und schließlich weiter nach Hangzhou. Die Ufer von
Hangzhous West-See luden zum Spazierengehen oder einem Besuch im
Teehaus ein und Anna entspannte sich zunehmend. Sie gönnte sich
mehrere Tage in Hangzhou, genoss die Stadt und unternahm Abstecher
nach Shaoxing, der Geburtsstadt Lu Xuns und zum Huang-Shan, einem der
bekanntesten Gebirge Chinas.
Trotz seiner hohen Bevölkerungsdichte
bildete die weiche Verträumtheit des chinesischen „Wasserlands“,
das sich von Shanghai aus nach Osten bis hin zum Taihu-See erstreckt,
einen interessanten Kontrast zu den schroffen Felswänden des
HuangShan-Gebirges. „Ob als traditioneller Malstil im Kleinen, als
chinesischer Garten oder als geographische Gegebenheit im Großen,
Shan-Shui (Berge und Wasser) scheinen hier ein wiederkehrendes
Motiv zu sein…“ Die Eindrücke der letzten Tage gingen Anna nach
wie vor durch den Kopf, während sie ihre Sachen packte um sich auf
den Weg zum Flughafen zu machen.
„Das
könnte kompliziert werden hier…“ grübelte sie, während sie
nach der Landung in Tianjin durch die Passagierbrücke in Richtung
Gepäckausgabe ging.
Vor Annas Abreise hatte Ling, Annas
Untermieterin, die Einladung ihrer Eltern überbracht, zu einem
Besuch nach Tianjin zu kommen. Anna hatte mit gemischten Gefühlen
angenommen, denn Ling hatte nicht verbergen können, dass ihr das
Vorhaben ihrer Eltern Unbehagen bereitete. „Nicht wahr, Du erzählst
meinen Eltern nichts von meinem Freund?!?“ Dem flehentlichen
Blick der samtbraunen Augen aus dem kindlichen Gesicht der
Neunzehnjährigen war schwer standzuhalten. Anna hatte ihre
Untermieterin inzwischen jedoch gut genug kennen gelernt, um vor
ihren Fähigkeiten, zu bekommen was sie wollte, auf der Hut zu sein.
„Wissen Deine Eltern denn noch gar nichts von Deinem Freund?“ –
„Ich selbst habe ihnen nichts gesagt, aber ich habe den Eindruck,
dass sie es von Anderen wissen und versuchen werden Dich
auszufragen.“ gab Ling zu. „Das wird ein schwieriger Besuch…
Weißt Du, für mich ist Dein Freund Deine private Angelegenheit, in
die ich mich nicht einmischen will.“ Ling schien erleichtert.
„Andererseits möchte ich die Gastfreundschaft Deiner Eltern nicht
damit vergelten, ihnen ins Gesicht zu lügen, wenn ich an ihrem Tisch
sitze… Zumal sie die Sache ja ohnehin schon mitbekommen haben.“
Ling warf Anna einen gequälten Blick zu. „Lehne ich die Einladung
aber ab, macht es Deine Lage auch nicht besser. Deine Eltern wissen
ja, dass ich von Peking aus zurückfliegen will und Tianjin ist von
Peking nur einen Katzensprung entfernt. Sie werden sich erst recht
falsche Vorstellungen machen, wenn ich nicht komme.“
Für einige
Augenblicke hatte ratloses Schweigen geherrscht. „Ich werde einen
Mittelweg versuchen.“ hatte Anna dann beschlossen. „Wenn Deine
Eltern mich direkt fragen, ob Du einen Freund hast, werde ich sagen,
dass ich das weder bestätigen noch dementieren kann.“ – „Und
wenn sie nicht locker lassen, was sagst Du dann?“ – „Dann muss
ich sie bitten, zu respektieren, dass ich diese Fragen nicht
beantworten kann, weil mir das als Deine Vermieterin nicht zusteht.“
Offensichtlich war das nicht das Resultat, das Ling sich erhofft
hatte. Nachdem sie einige Sekunden mit sich gerungen hatte gab sie
jedoch zerknirscht nach. „Gut, das muss ich akzeptieren. Aber
versprich mir, dass Du ihnen nicht sagst, wie er heißt!“ –
„Versprochen!“ hatte Anna sie beruhigt.
Zwei
hoch aufgeschossene junge Männer zwischen Pubertät und
Erwachsenenalter warteten in der Empfangshalle auf Anna und stellten
sich als Lings ehemalige Klassenkameraden vor. Einer von ihnen
verfügte über ein Auto und chauffierte die Drei durch die Stadt zu
Lings Eltern.
Soweit Anna es während der Fahrt erkennen konnte,
schien die Hafenstadt Tianjin wohlhabender und spürbar
weiter entwickelt zu sein als Peking. Auch das Viertel, in dem Lings
Eltern lebten, vermittelte mit seinen für chinesische Verhältnisse
niedrigen, einander Raum lassenden Wohnblocks den Eindruck eines
relativ hohen Standards.
Bei Lings Eltern angekommen öffnete eine
zierliche, bescheiden wirkende Mittvierzigerin die Wohnungstür
um die Ankömmlinge herein zu bitten. Durch kräftige Brillengläser,
die für ihre feinsinnigen Gesichtszüge viel zu groß geraten waren,
fiel ihr fragender Blick auf Anna, wo er prüfend haften blieb. Hier
wollte eine besorgte Mutter wissen, bei wem ihr Augapfel gelandet
war, Anna konnte es ihr nicht verdenken. „Guten Tag, ich bringe
Ihnen Grüße von Ling!“ sagte Anna lächelnd. „Vielen Dank,
Willkommen in Tianjin!“ Die erste Anspannung schien langsam von
Lings Mutter zu weichen und einem vorsichtigen Wohlwollen Platz zu
machen. „Komm, ich zeige Dir Lings Zimmer, dort kannst Du Deine
Sachen ablegen und später in Lings Bett übernachten.“
Die
Klänge einer Klaviersonate perlten durch das langgezogene
Wohnzimmer, während Anna Lings Mutter an Couchgarnitur und Esstisch
vorbei zu einer Tür am anderen Ende des Raumes folgte. Lings Zimmer
war von ähnlicher Größe und Ausstattung wie das Zimmer, das Anna
an sie vermietet hatte. „Wenn man sich die chinesischen
Schriftzeichen von Buchrücken und Bildern wegdenkt, könnte es
auch als Jugendzimmer der braven Tochter einer deutschen
Mittelschichtfamilie durchgehen…“ dachte Anna.
Etwas später
servierte Lings Mutter eine erstklassige Bandnudelsuppe mit
Hühnerfleisch und frischem Gemüse als Mittagessen. Sowohl Lings
Klassenkameraden als auch Anna sprachen ihr gut zu, nicht ohne die
Köchin ausgiebig dafür zu loben. „Nein, nein, ich kann gar nicht
kochen!“ wehrte Lings Mutter ab. „In unserer Familie ist mein
Mann der Koch. Er ist Architekt von Beruf, aber Kochen ist seine
Leidenschaft. Wenn er am Herd steht, darf ich in der Küche nichts
anfassen. Diese Suppe hat er gestern Abend schon vorbereitet, ich
habe sie vorhin nur aufgewärmt.“ Anna beschlich das Gefühl, dass
Lings Eltern ihren Besuch wichtiger nahmen, als es ihr lieb war.
„Mein Mann muss unter der Woche meist auf den Baustellen
übernachten. Aber heute Abend wird er hier sein um sein
Lieblingsgericht für uns zu kochen.“ fuhr Lings Mutter fort.
„Sind
Sie eine Liebhaberin europäischer Klassik?“ fragte Anna, denn nach
wie vor war die Klaviermusik im Hintergrund zu hören. „Oh ja, ich
bin Dozentin am Tianjiner Konservatorium und die deutsche Klassik ist
mein Spezialgebiet.“ Lings Mutter taute nun zusehends auf. „Hat
Ling sich deshalb Deutschland für ihren Europaaufenthalt
ausgesucht?“ – „Ja, das hat glaube ich eine Rolle gespielt. Aber
es gibt auch andere Gründe. Es gibt zum Beispiel keine Schul- oder
Studiengebühren. Nur die Sprachschule, auf die sie jetzt noch
geht, ist sehr teuer für uns.“
Nach dem Mittagessen
verabschiedeten sich Lings Klassenkameraden. „Zum Abendessen müsst
ihr aber wieder kommen!“ rief Lings Mutter ihnen noch nach, dann
fiel die Wohnungstür hinter den beiden zu. „Mein Mann kocht immer
viel zu viel, da brauchen wir Unterstützung beim Essen!“ erklärte
Lings Mutter.
Anna begann sich zu fragen, welche Rolle die beiden
„Klassenkameraden“ in Lings Leben gespielt hatten oder noch
spielen mochten. Waren sie diejenigen, die Lings Eltern als
potentielle Schwiegersöhne favorisierten? Aber gleich zwei…
Allerdings war Anna nicht entgangen, dass Ling es auch in Deutschland
sehr gut verstand, bei ihren Freunden den Charme spielen zu lassen.
„Puh, es wird wirklich kompliziert heute Abend…“ dachte sie bei
sich.
„Lings Klassenkameraden können Dir die wichtigsten
Sehenswürdigkeiten der Stadt morgen Vormittag zeigen, dann gibt es
nicht so viel Stau in der Stadt.“ fuhr Lings Mutter fort. „Ich
muss heute noch ein paar Einkäufe für den Abend erledigen, hast Du
Lust mitzukommen?“ – „Sehr gerne!“ Bewegung war jetzt genau das
Richtige für Anna. Lings Mutter schien langsam etwas Zutrauen zu
Anna gefasst zu haben. „Komm, ich zeige Dir jetzt mal, wo es hier
die besten Garnelen gibt.“ sagte sie, als sie zur Bushaltestelle
gingen und hakte sich bei Anna unter.
Als
sie am Abend in die Wohnung zurück kamen, war Lings Vater in der
Küche schon mit Vorbereitungen beschäftigt. Die Küchentür wurde
schwungvoll aufgerissen und ein gut gelaunter Mann in einer blau-weiß
gemusterten Küchenschürze begrüßte die beiden. „Endlich kommt
ihr, wo bleiben denn meine Garnelen?!?“ Lachend ging er auf Anna
zu. „Willkommen, ich bin Lings Vater.“ stellte er sich vor. Er
schien die Frohnatur der Familie zu sein und Anna sah auf den ersten
Blick, dass Ling ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. „So, ich
muss weitermachen, es ist schon spät!“ Geschäftig nahm er seiner
Frau die Einkaufstüten ab und wollte gleich wieder in der Küche
verschwinden. „Könne ich Ihnen ein bisschen zuschauen?“ Annas
Neugierde war mit ihr durch gegangen. „Ich werde nichts anfassen,
versprochen!“ ergänzte sie besänftigend. „Nun gut. Wenn ich
nachher mit den Garnelen anfange sage ich Dir Bescheid.“ bot er an,
bevor er die Küchentür hinter sich zu zog.
Während aus der
Küche bald Hacken, Klopfen und Raspeln zu hören war, begann Lings
Mutter den Tisch zu decken. „Komm, mach es Dir bequem.“ sagte sie
zu Anna und wies auf die Couchgarnitur. Anna hatte noch nicht
lange Platz genommen, als auch Lings Klassenkameraden wieder
auftauchten und sich zu ihr setzten. Sie begannen, Anna verschiedene
Sehenswürdigkeiten vorzuschlagen, die sie ihr am nächsten
Tag in der Stadt zeigen könnten. Und während man noch darüber
beriet, wann man sich treffen wollte, meldete sich Lings Vater aus
der Küche.
Als Anna sich zu ihm gesellte war er war gerade dabei,
die Garnelen in einer Marinade zu wenden. Die Küche war nur ein
kurzer Schlauch, auf jeder Seite gab es einen Tresen, der linke
schmal und ganz unter Flaschen, Dosen, Schüsseln, Tellern und Tüten
voller Zutaten begraben, der rechte breiter, mit einem in die
steinerne Arbeitsplatte eingelassenen Spülbecken und einem
zweiflammigen Gasherd, der wie ein Camping-Gaskocher auf die
Steinplatte gestellt war. Es gab weder Regale noch Hängeschränke an
den hell gefliesten Wänden, nur eine klobige Edelstahlesse hing über
dem Herd und daneben ein paar Haken mit Sieben und Schöpflöffeln.
Ein großer Wok, Schalen mit Fleisch, zerkleinertem Gemüse, den
Garnelen und verschiedenen Soßen, eine Schnapsflasche, Gläser mit
Gewürzen und ein Messerblock drängelten sich auf und neben dem
Herd, an dem Annas Vater nun eine Gasflamme entzündete.
„Ich
mache die Garnelen nach meinem eigenen Rezept. Nach dem Marinieren in
meiner Spezialsoße werden sie angebraten und mit einer anderen
Spezialsoße abgelöscht. Dann stelle ich sie zur Seite und mache die
restlichen Gerichte fertig. Zum Schluss karamellisiere ich die
Garnelen und kurz vor dem Servieren werden sie flambiert.“ Er war
sichtlich in seinem Element. „Wie viele Gerichte gibt es denn?“ –
„Acht Gerichte, denn Acht ist die Zahl der Harmonie!“ strahlte
er. Anna staunte nicht schlecht. Wie konnte jemand in dieser Enge
acht Gerichte zubereiten?!
Nachdem die Garnelen brutzelnd in
den heißen Wok geglitten waren, lief Lings Vater erst richtig zur
Hochform auf. Fasziniert wurde sie Zeugin einer virtuos
durchgespielten Choreografie aus Rühren, Würzen, Gießen,
Schöpfen, Mischen, Ab kosten und Umbetten, in deren Verlauf die
Inhalte der auf den Tresen stehenden Schüsseln und Teller in einer
wohlgeplanten Reihenfolge zischend und blubbernd in den Wok wanderten
um diesen dann eins nach dem anderen als fertiges Gericht zu
verlassen. Bratenduft, Kräuter- oder Gewürzaromen kitzelten
abwechselnd Annas Nase, während Lings Vater hochkonzentriert
zwischen Tresen und Wok wirbelte und als er wieder innehielt, standen
sieben Gerichte fertig neben seinem Herd. „So!“ Er strahlte
wieder. „Du kannst die Gerichte schon mal raus tragen, und setzt
Euch alle an den Tisch. Ich komme dann mit den Garnelen.“ wies er
sie an.
Das
Essen war eines der besten, das Anna jemals gegessen hatte und
abgesehen von Lings Mutter langten alle tüchtig zu. „Endlich habe
ich mal Leute am Tisch, die mein Essen zu schätzen wissen!“ Lings
Vater klatschte sich lachend auf die Schenkel „Normalerweise ist es
so: ich gebe mir die größte Mühe, aber meine Frau isst wenig und
meine Tochter fast nichts. Ich esse mich satt und der Rest wird kalt
gestellt. Das reicht den beiden dann die ganze Woche, wenn ich auf
der Baustelle bin.“ schimpfte er gespielt. „Dafür isst Du auf
den Baustellen dann die ganze Woche nichts.“ konterte seine Frau
mit einem schelmischen Lächeln.
Als nach einiger Zeit der erste
Hunger wohl gesättigter Entspannung wich, begann das Gespräch sich
zunächst beiläufig, dann immer zielstrebiger um Ling und ihr Leben
in Deutschland zu drehen. Annas Alarmglocken schrillten. „Ling ist
ja noch sehr jung!“ zog Lings Mutter ihre Kreise nun langsam enger.
„Die meisten Chinesischen Studenten gehen ins Ausland, nachdem sie
die ersten Prüfungen an der Universität abgelegt haben. Dann sind
sie über Zweiundzwanzig und reifer.“ Sie konnte die Sorgen, die
sie sich um ihre Tochter machte, nicht verbergen.
„Ling wollte
nicht auf uns hören und hat uns zugesetzt, bis wir nicht mehr anders
konnten als nachzugeben.“ ergänzte Lings Vater. Anna konnte sich
lebhaft vorstellen, wie Ling ihre Register gezogen hatte, bis sie
bekam was sie wollte. Ihre Eltern schienen Lings Hartnäckigkeit
nicht gewachsen zu sein. Aber ob sie sich selbst damit wirklich einen
Gefallen getan hatte? – „Ling sagt uns oft, dass wir uns keine
Sorgen machen sollen, weil sie in Deutschland schon viele gute
Freunde gefunden hat…“ spann Lings Mutter ihren Faden weiter.
„Ja, da hat sie recht. Zum Beispiel hat einer ihrer Freunde ihr
mein Zimmer vermittelt. Er gibt mir Chinesisch-Unterricht und wusste,
dass ich vermieten möchte.“ versuchte Anna die Medaille
umzuwenden. „Ja, dumm ist sie nicht.“ bemerkte Lings Vater nicht
ohne Stolz. – „Aber in manchen Bereichen ist sie noch viel zu
naiv.“ Lings Mutter ließ sich nicht so leicht ablenken. „Kommen
ihre Freunde oft zu Besuch?“ wurde sie konkreter. „Seit sie bei
mir wohnt, hat sie mich ein, zweimal eingeladen, als sie mit ihren
Freunden chinesische Maultaschen gekocht hat.“ – „Und waren
ihre Freunde darüber hinaus noch öfter da?“ bohrte Lings Mutter
weiter und hatte damit die rote Linie erreicht, die Anna sie nicht
überschreiten lassen wollte. „Ich bin nur an den
Wochenenden daheim, und da war es bis auf diese Einladungen ruhig.
Unter der Woche bin ich im Büro, muss abends oft Überstunden machen
oder habe andere Termine. Daher bekomme ich nicht mit, was Ling
macht.“ versuchte sie, sich Luft zu verschaffen.
Für einige
Augenblicke herrschte Schweigen, ein Hauch von Ratlosigkeit schien
über das Gesicht von Lings Mutter zu huschen. Es schien ihr nicht
entgangen zu sein, dass Anna zu weiter gehenden Auskünften nicht
bereit war.
„Weißt Du Anna…“ preschte da einer von Lings
Klassenkameraden ungeduldig vor. „Lings Mutter macht sich große
Sorgen, weil sie vermutet dass Ling einen festen Freund hat. Wir
möchten gerne wissen, ob das stimmt und wer er ist.“
Offensichtlich war seine Anspannung mit ihm durch gegangen, denn nun
war sie nicht mehr zu übersehen. Verärgert schoss Lings Mutter
einen warnenden Blick auf ihn ab, Lings Vater lehnte sich mit einem
Schnauben abrupt zurück. Anna witterte eine Chance. „Ich kann Eure
Sorgen sehr gut verstehen, auch wenn ich selbst keine Kinder habe.“
sagte sie in die Runde. „Dass Ling so jung schon nach Deutschland
gegangen ist, macht die Situation für alle sehr schwierig. Ich
selbst schätze Ling sehr und hoffe das Beste für ihre Zukunft.
Jedoch bin ich nur ihre Vermieterin und habe nicht das Recht, mich in
ihre Angelegenheiten einzumischen. Aber ich glaube, Ling wird einen
guten Weg finden.“ Peinliche Stille senkte sich über den Tisch.
„Hoffentlich hat die Harmonie aus den acht Gerichten irgendwie
ihren Weg durch den Magen in die Köpfe gefunden…“ dachte Anna.
Endlose Augenblicke später brach Lings Vater das Schweigen. „Ling
ist bei Dir glaube ich gut aufgehoben.“ sagte er versöhnlich. „Es
ist für uns eine Erleichterung, zu wissen bei wem sie wohnt und wir
freuen uns, dass Du uns besucht hast.“ fuhr er fort. „Ling wird
im Sommer nach Tianjin kommen, dann werden wir versuchen, mit ihr
über alles zu sprechen.“ – „Das ist bestimmt die beste Lösung.“
erwiderte Anna und versuchte, sich ihre Erleichterung nicht allzu
offensichtlich anmerken zu lassen.
Es
war sonniger Spätnachmittag, als Anna zwei Tage später im
Pekinger Bahnhof aus dem Zug stieg. Eine frische Frühlingsbrise
hatte den Pekinger Wintersmog zur Stadt hinaus geblasen und Anna
atmete ein paarmal tief durch, während sie sich durch das
Menschengewimmel auf dem Bahnhofsvorplatz hindurch schob, um ein Taxi
zu finden. Xiaomin hatte ihr ein kleines Hotel mitten in einem der
traditionellen Pekinger Hutong-Viertel empfohlen und sie folgte
dieser Empfehlung gerne.
Der Taxifahrer brauchte mehrere Anläufe
um die richtige Abzweigung zu finden, die von der dreispurigen
Durchgangsstraße aus in das Viertel hinein führte. Zu beiden Seiten
säumten nun eng aneinander geschmiegt ein- oder zweistöckige Häuser
die schmale Straße. Die Leute waren zu Fuß oder mit dem Fahrrad
unterwegs und wo immer Hauseingänge, Leitungsmasten oder die
vereinzelten Bäume Platz ließen, säumten abgestellte Zweiräder
aller Art den Straßenrand. Das Taxi schob sich vorsichtig durch das
rege Treiben hindurch.
Schaufenster kleiner Geschäfte,
Mini-Werkstätten und Restaurants wechselten sich hier ab mit den
grau gestrichenen Außenmauern traditioneller Pekinger Hofhäuser,
aus denen immer wieder in kräftigem Rot gehaltene Eingangsportale
hervor leuchteten. Manche waren zusätzlich mit einem geschwungenen
Vordach überdeckt, mit Säulen eingefasst oder mit roten
Spruchtafeln oder gar Lampions verziert. Soweit Anna wusste,
verbargen sich dahinter stille Innenhöfe, an vier Seiten umgeben von
zum Hof hin offenen Wohngebäuden, das Ganze gegen die Nachbarschaft
abgeschirmt von der alles umschließenden Außenmauer, jedes Hofhaus
eine kleine Welt für sich. Die roten Portale zogen Annas Blicke wie
magnetisch auf sich und kitzelten ihre Neugierde auf das Dahinter
wach. „Nachher…“ dachte sie, während das Taxi unerbittlich
weiter rollte.
Nachdem das Hotel gefunden war und Anna ihre Sachen
im Zimmer abgestellt hatte, hielt es sie nicht lange dort. Sie wollte
den Rest des Tages nutzen, um das Hutong zu erkunden. Wieder draußen
ließ sie sich vom Kreuz und Quer der Sträßchen und Seitengassen
leiten, schaute gelegentlich in eines der Geschäfte hinein und
stärkte sich in einem kleinen Restaurant. Bald wurde klar, dass die
frisch gestrichenen grauen Hofhäuser mit den schmucken roten
Portalen, die Anna vom Taxi aus aufgefallen waren, eher die Ausnahme
als die Regel darstellten. Sie fanden sich vermehrt in der
Hauptstraße des Hutongs, in der auch das Hotel lag. In den
Seitengassen tiefer drinnen im Viertel herrschte hingegen ein
verschachteltes Kunterbunt kleiner Häuser vor, das die einstmals
auch hier angelegte Grundstruktur der vierseitig ummauerten Hofhäuser
oft nur noch vage erahnen ließ.
Dafür gab es in diesen Gassen
umso mehr Leben auf der Straße. Während Anna sich darin treiben
ließ wurde sie sich langsam des vagen Gefühls bewusst, in den
Straßenszenen hier irgend etwas zu vermissen. Erst einige
durchstreifte Gassen weiter fiel ihr auf, dass sie dabei war,
dieses Viertel mit den Shanghaier Altstadtvierteln zu vergleichen,
die sie am Anfang ihrer Reise kennen gelernt hatte. Nun konnte sie
sich langsam einen Reim auf ihre Wahrnehmung machen. In den
Shanghaier Altstadtvierteln gab es in der Regel keine Innenhöfe und
so taten die Menschen vieles direkt vor ihrer Haustür, was sich in
den Hutongs in die Innenhöfe verlagerte. Hier waren die Gassen
Außenwelt und Verkehrsweg, ein öffentlicher Raum, nicht das
für Annas Geschmack fast zu private Gemeinschaftswohnzimmer,
das sie für die Shanghaier waren.
Die ganze Zeit über hatte Anna
nach Möglichkeiten Ausschau gehalten, einmal in einen der Innenhöfe
hinein spicken zu können. Aber dies schien nicht so einfach zu sein
wie sie gehofft hatte. Die Tore der Hofhäuser erfüllten ihren Zweck
und als es dunkel zu werden begann musste Anna ihre Neugierde
unbefriedigt wieder in Richtung Hotel mitnehmen.
Sie war nur noch
zwei, drei Querstraßen vom Hotel entfernt, als sie wider Erwarten
über ein Gebäude stolperte, das sie schon von ihrem ersten
China-Aufenthalt her kannte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite
fiel ihr unvermittelt eine kleine weiße Kirche ins Auge, die mit
ihrer westlichen Architektur unübersehbar aus der Häuserzeile des
Hutongs herausstach. Sie erkannte sie sofort. Hier hatte sie im
letzten Sommer mit Xiaomins Schwester den Gottesdienst besucht. Das
Gebäude lag verschlossen und dunkel in der hereinbrechenden
Abenddämmerung, von der Gemeinde war offensichtlich niemand
anwesend. Xiaomin hatte zwar erwähnt, dass die Kirche ebenfalls in
diesem Hutong lag, aber Anna hatte nicht damit gerechnet, sie
wirklich zu finden. Während ihres damaligen Besuchs hier war sie
viel zu abgelenkt gewesen war, um die Umgebung wahrzunehmen in die
die Kirche eingebettet war. Umso mehr freute sich sich jetzt darüber,
hier doch noch ein Gebäude entdeckt zu haben in dessen Innenleben
sie schon einmal hatte einen Blick hinein werfen können.
Xiaomin
hatte Anna vor ihrer Abreise geschrieben, er sei zur gleichen Zeit in
Peking wie sie und hatte ihr seine Mobilnummer zukommen lassen.
Zurück im Hotelzimmer gelang Anna es tatsächlich, ihn zu erreichen.
Er schlug vor, sich am nächsten Vormittag beim Qianmen (Vordertor),
einem südlich des Tiananmen-Platzes gelegenen historischen Stadttor,
zu treffen. In den Vierteln südlich davon gäbe es interessante
Straßen zum Bummeln sowie weitere Hutongs, die er ihr zeigen wolle.
Auch seine Schwester könne es vielleicht einrichten, mit zu
kommen.
Als Anna am nächsten Tag am Qianmen aus der U-Bahnstation
stieg, sah sie die beiden schon von weitem auf dem Vorplatz stehen.
Während Xiaomins Schwester sich in den Monaten seit ihrer letzten
Begegnung nicht verändert hatte, hatte Xiaomin eine Wandlung
vollzogen, die Anna die Sprache verschlug. Anstatt der langhaarigen,
klapperdürren Abenteurergestalt, die sie in Erinnerung hatte, stand
da ein wohlgenährter junger Mann mit korrekt gescheiteltem
Kurzhaarschnitt, dessen modisch geschnittenes schwarzes Sakko über
dem ebenfalls schwarzen Oberhemd an den Bekleidungsstil kreativer
Berufe anknüpfte.
„Gut dass seine Schwester dabei ist, sonst
wäre ich vielleicht an ihm vorbei gelaufen…“ dachte Anna,
während sie auf die beiden zuging. „Du erkennst mich bestimmt
nicht mehr!“ begrüßte er sie auf Deutsch in der vorwitzigen,
fröhlichen Art, die sie noch gut von ihm in Erinnerung hatte. „Doch,
doch, an Deiner Schwester und an Deiner Fototasche!“ konterte Anna
lachend. „Ja, meine Backen sind jetzt genau so dick wie ihre!“
feixte er, wohl wissend, dass seine Schwester kein Deutsch
verstand. Offensichtlich war er sich der Wirkung seiner äußeren
Veränderung auf Andere wohl bewusst und genoss es, Annas Reaktionen
zu beobachten.
„Komm, lasst uns versuchen Chinesisch zu
sprechen!“ schlug Anna auf Chinesisch vor. „Du sprichst kein
Englisch, Deine Schwester kein Deutsch, aber vielleicht reicht mein
Chinesisch ja aus, damit wir alle drei uns verständigen können.“
– „Ich verstehe Dich sehr gut!“ meldete sich da Xiaomins
Schwester, erfreut mit einbezogen zu werden. „Ja, lass es uns
probieren, Dein Chinesisch ist viel besser geworden seit wir uns
zuletzt gesehen haben!“ stimmte Xiaomin zu.
„Wie findest Du
das Hotel, das ich Dir empfohlen habe?“ wollte er weiter wissen.
„Das war genau das Richtige für mich. Die Zimmer sind gut und die
Umgebung ist sehr interessant. Ich war gestern dort schon im Hutong
unterwegs und habe auch Eure Kirche wieder entdeckt. Aber ich konnte
in kein einziges Hofhaus hineinschauen, sie waren alle gut
verschlossen.“ – „Dann lass uns zuerst das Hutong südlich des
Qianmen anschauen, das ist nicht weit weg von hier. Ich kenne ein
paar Leute von meiner Arbeit als Fotograf her, die wohnen dort. Mit
etwas Glück ist jemand von ihnen daheim und lässt uns in seinen
Innenhof hinein schauen.“ Anna war freudig überrascht, ihre
Neugierde vielleicht doch noch stillen zu können. „Was hast Du
denn noch alles gesehen auf Deiner Reise?“ fragte Xiaomins
Schwester. Und während die Drei sich zu Fuß auf den Weg in das
Hutong machten, berichtete Anna von ihren bisherigen
Reiseerlebnissen.
Dieses
Hutong machte einen schlichteren Eindruck als das, in dem Annas Hotel
gelegen war, stellenweise sogar einen heruntergekommenen.
Unverputzter Backstein dominierte die Außenmauern der Hofhäuser und
dem Holz der Hoftore sah man seine Jahre an. Während sie durch die
Gassen schlenderten, versuchte Xiaomin seine Bekannten in dem Viertel
per Mobiltelefon zur erreichen. Bei Zweien von ihnen hatte er Glück,
jemand war zu Hause und willens, eine neugierige Ausländerin einen
Blick hinter das Hoftor werfen zu lassen. Das Innenleben der beiden
Hofhäuser, die Anna nun zu sehen bekam, hätte unterschiedlicher
nicht sein können.
Vor dem offen stehenden Tor des ersten wurden
sie von einem freundlichen älteren Herrn erwartet. Er begrüßte die
Drei breit grinsend um danach die Ausländerin in Xiaomins Schlepptau
unverhohlen neugierig zu mustern. „Auch ich werde besichtigt…“
dachte Anna und erwiderte seine Begrüßung ebenso breit grinsend.
Als Anna hinter den Anderen die Schwelle zum Innenhof überschritten
hatte, bot sich ihr ein unerwartetes Bild.
Der Hof war vollständig
unter ineinander verschachtelten Hütten und Verschlägen
verschwunden und es war schwer zu erkennen, wo sich die
ursprünglichen Gebäude des Hofhauses befanden. Anna konnte sie
schließlich an ihren geflickten Ziegeldächern erkennen, die die
Dachpappenlandschaft der Hütten im Hof überragten. Gänge, in denen
Säcke, Eimer, Fahrräder oder Besen herumstanden, wanden sich
zwischen um die Hütten herum und ließen gerade soviel Raum, dass
man hindurchgehen konnte. Trotz der Enge hatten in einigen Ecken
Topfpflanzen einen Platz gefunden und Vogelkäfige schaukelten
neben der Wäsche auf den Leinen unter den Dachtraufen. Aus
verschiedenen Richtungen drangen Stimmen aus dem Labyrinth an Annas
Ohren und der Duft frisch gebratenen Essens mischte sich mit dem von
Waschlauge und Schmieröl. Wahrscheinlich wurden sie von drinnen
neugierig beäugt, aber außer dem freundlichen alten Herrn ließ
sich sonst niemand blicken.
Der erzählte, dass sich fünf
verschiedene Haushalte den Platz hier teilen mussten. Ursprünglich
war jedes Hofhaus für eine Familie gedacht, aber den Luxus, über so
viel Platz zu verfügen, konnten sich die wenigsten Leute hier
leisten. Der Not gehorchend war der Innenhof mit zusätzlichen Hütten
für sanitäre Einrichtungen, Lager- und Unterstellräume bebaut
worden, die von allen gemeinsam genutzt wurden. In einer der Hütten
gab es sogar eine winzige Fahrradwerkstatt.
Sie erfuhren,
dass die Stadt dieses Hofhaus bald zusammen mit der ganzen
Nachbarschaft abreißen und durch ein Wohnhochhaus ersetzen würde.
Die Menschen hier seien hin und her gerissen zwischen den Vor- und
Nachteilen, die diese Radikalkur für ihre Wohnsituation bedeutete.
Natürlich freuten sie sich darauf, bald ebenfalls über zeitgemäßen
Wohnkomfort verfügen zu können. Aber während die Jüngeren mit den
neuen Wohnungen auch die Hoffnung auf mehr Platz und Privatheit
verbanden, fürchteten die Älteren die Anonymität, die genau dies
mit sich bringen würde.
Schon von außen war das zweite Hofhaus erkennbar kleiner als das erste. Hier war es eine junge Frau, die den dreien auf Xiaomins Klopfen hin das Tor öffnete und als Annas Blick über den Innenhof schweifte, musste sie fast lachen, so sehr entsprach der Anblick, den er bot, dem Klischee eines Innenhofs, das sie bis vorhin noch mit sich herumgetragen hatte. Ein liebevoll gepflegter Minigarten aus Topfpflanzen verschiedenster Art und Größe umgab einen kleinen Maulbeerbaum in der Hofmitte, die von zusätzlichen Hütten verschont geblieben war. Seiten- und Hauptgebäude waren auch hier renovierungsbedürftig, aber sie waren intakt und mitsamt den leicht geschwungenen grauen Ziegeldächern in der ursprünglichen Form erhalten. Alles, was untergestellt oder gelagert werden musste schien in niedrigen Verschlägen, Regalen oder Truhen entlang der beiden Seitengebäude seinen Platz gefunden zu haben. Von dem Maulbeerbäumchen in der Mitte aus spannten sich locker behängte Wäscheleinen zu den Dachtraufen und das WC-Häuschen, das einzige Gebäude, das zusätzlich in einer Ecke des Hofes errichtet worden war, wurde bis auf Tür- und Fensteröffnungen von einer immergrünen Kletterpflanze verhüllt. Die junge Frau erzählte, dass ihre Familie sich dieses Haus mit nur einer weiteren Familie teilte und man den Innenhof gemeinsam nutzte. Beide Familien schätzten es, so wohnen zu können und konnten in dem auch hier bevorstehenden Abriss nichts Positives erkennen.
Nachdem
das Hoftor sich hinter den Dreien wieder geschlossen hatte,
schlenderten sie langsam in Richtung einer Geschäftsstraße weiter,
in der es laut Xiaomin ein paar interessante Restaurants geben
sollte. „Weißt Du, die Hofhäuser in Pekings Hutongs sind fast
alle so wie das erste, das wir gesehen haben.“ erzählte er.
„Selbst wenn man sie renovieren würde, bleibe zu wenig Platz für
die Menschen, die darin leben. Am Ende werden nur noch wenige
traditionelle Hofhäuser übrig bleiben, die zu Restaurants, Hotels,
Museen oder Gewerbehöfen umgebaut wurden. Der Rest wird
verschwinden.“ – „Bis vor drei Jahren haben auch wir noch so
gewohnt wie die Leute in dem ersten Hofhaus, das wir gesehen haben.“
erzählte Xiaomins Schwester. „Dann bin ich zusammen mit meinen
Eltern und meinem Sohn in eine kleine Neubauwohnung in einem Hochhaus
gezogen. Wir haben alle zusammengelegt um die Wohnung kaufen zu
können. Nur Xiaomin wohnt jetzt noch in unserem alten Hutong.“ –
„Ja, da fällt der Putz von den Wänden, ich muss Eimer aufstellen
weil es durch das Dach tropft und die Fenster sind auch kaputt…“
sagte er nachdenklich und es war ihm anzumerken, dass diese Wendung
des Gesprächs ihm Unbehagen bereitete. „Aber nicht mehr lange!
Letzten Monat habe auch ich eine neue Wohnung gekauft. Ich kann
jedoch erst im Juni einziehen, weil sie noch nicht ganz fertig ist.
Allerdings muss ich jetzt schon jeden Monat den Kredit bezahlen und
viel arbeiten und sparen, um das zu schaffen.“ Der Stolz des frisch
gebackenen Immobilienbesitzers war zwischen seinen Worten ebenso
so deutlich spürbar wie der Leistungsdruck, unter dem er nun stand.
„Wenn Du das nächste Mal in China bist, dann musst Du mich in
meiner neuen Wohnung besuchen, dann können wir in meiner Küche
etwas kochen.“ – „Gerne, da freue ich mich drauf.“ erwiderte
Anna.
„Und ich habe jetzt Hunger!“ warf Xiaomins Schwester da
ein. „Ich auch! Xiaomin, wo sind denn nun die interessanten
Restaurants, die Du in Aussicht gestellt hast?“ schloss Anna sich
an, deren Magen ebenfalls grummelte. „Was ist denn so interessant
an denen?“ – „Die sind in der breiten Straße da vorne, wir sind
gleich da!“ Während Xiaomin seine Schritte beschleunigte,
warf er seiner Schwester einen verschwörerischen Seitenblick zu, den
diese mit einem verschmitzten Lächeln quittierte.
Mehrere
Restaurants säumten die lebhafte Geschäftsstraße, in die sie bald
darauf einbogen. Einige waren in liebevoll renovierten traditionellen
Gebäuden untergebracht, Tafeln mit den Speisekarten standen neben
den Eingängen, davon abgesehen konnte Anna aber nichts Besonderes an
den Restaurants erkennen. „Du musst die Speisekarte lesen!“ half
Xiaomin ihr auf die Sprünge. Sie blieb vor einer der Tafeln stehen
und brauchte einen Augenblick, um die ersten Zeilen zu entziffern.
„Hundefleisch…“ sprang es ihr dann ins Gesicht, in allen
möglichen Varianten. In diesem Restaurant schien es kaum ein Gericht
ohne diese „Delikatesse“ zu geben. Und auch die anderen
Restaurants in der Nähe hatten ein ähnliches Angebot. „Oh nein!“
rief Anna erschrocken. „Ihr wollt doch nicht wirklich da reingehen,
oder?“ Die beiden kicherten und ließen Anna genüsslich zappeln.
Nach einem endlosen Augenblick lenkte Xiaomins Schwester amüsiert
ein. „Nein, nein, auch wir essen kein Hundefleisch.“ beruhigte
sie Anna, um dann gespielt scheinheilig fortzufahren: „Wir wollten
Dir nur die Restaurants zeigen, in denen es welches gibt, falls Du es
doch einmal probieren wolltest. Normale Restaurants haben nämlich
kein Hundefleisch auf ihrer Speisekarte.“ – „Da habe ich ja
gerade nochmal Glück gehabt!“ atmete Anna erleichtert auf. „Kommt
jetzt, weiter die Straße runter kenne ich ein anderes gutes
Restaurant. „Auch ich habe jetzt Hunger!“ drängelte Xiaomin nun.
Wie
funktioniert das hier mit dem Wohnungskauf eigentlich?“ fragte
Anna, während sie sich noch einen Löffel von dem aromatisch
duftenden Reis im Bambusrohr in ihr Schälchen füllte. Nachdem die
Drei in dem Restaurant den ersten Hunger gestillt hatten, meldete
sich Annas Neugierde wieder zurück. „Ich dachte es gibt kein
Privateigentum in China?“ – „Die Wohnungen kann man höchstens
für 70 Jahre erwerben, danach fallen sie automatisch an die
Regierung zurück.“ erklärte Xiaomins Schwester. „Die Bauern auf
dem Land können ihr Land für 90 Jahre oder länger kaufen, aber
auch sie können kein unbefristetes Eigentum besitzen.“ – „Hm,
und warum wolltest Du keine Wohnung mieten?“ wollte Anna nun von
Xiaomin wissen. „Vielleicht hättest Du dann weniger Stress mit dem
Abbezahlen jeden Monat…“ – „Im Gegenteil, dann hätte ich noch
viel mehr Stress!“ entgegnete er. „Mietwohnungen sind hier so
teuer, dass sich nur Firmen oder Ausländer eine leisten können. Die
Regierung möchte, dass die normalen Leute ihre Wohnungen kaufen,
deshalb werden Neubauwohnungen fast ausschließlich als
Eigentumswohnungen angeboten. “ – „Ach so, verstehe… „
murmelte Anna nachdenklich. „Ja, ich bin jetzt sehr deutsch
geworden, immer nur arbeiten, sparen und abbezahlen!“ lachte
Xiaomin.
„Ich spare zur Zeit auch Geld.“ griff Anna nach
einer Weile seinen Faden wieder auf. „Aber ich will mich
damit in die entgegen gesetzte Richtung bewegen…“ – „Wie meinst
Du das denn?“ Xiaomins Schwester wurde hellhörig. „Ich will
meine Wohnung aufgeben und vorübergehend auch meine Arbeit…“
Zwei Paar Stäbchen wurden abrupt auf den Tisch gelegt, zwei Paar
schwarzbraune Augen fixierten Anna. „Mit dem Gesparten will
ich für ein Jahr nach China zum Studieren kommen. Vielleicht klappt
es ja schon nächstes Jahr zum Herbstsemester.“ ließ Anna die
Katze nun vollends aus dem Sack.
„Ach, deshalb hast Du
jetzt diese Untermieterin aus Tianjin!“ Xiaomins Schwester hatte
Eins und Eins schnell zusammen gezählt. „Das ist verrückt!“
entfuhr es da Xiaomin. „Warum willst Du Deine Arbeit aufgeben?“ –
„Nun, wenn das verrückt ist, dann will ich gerne verrückt
werden!“ grinste Anna. Sie hatte Xiaomin noch nie dermaßen
sprachlos gesehen. Ihre Pläne schienen das Bild, das er sich von ihr
gemacht hatte, in den Grundfesten zu erschüttern. Verwirrung und
Unverständnis waren ihm so deutlich anzumerken, dass seine Schwester
zu kichern begann. Anna riss sich am Riemen, um nicht laut
loszulachen.
„Ich weiß nicht, was China mit Euch Ausländern
macht…“ Xiaomin schüttelte immer noch fassungslos den Kopf.
„Kaum habt ihr einmal euren Fuß auf chinesischen Boden gesetzt,
dreht ihr durch.“ – „Ja, zumindest in meinem Fall ist da etwas
Wahres dran.“ stimmte Anna ihm unumwunden zu. – „An welcher Uni
möchtest Du denn studieren?“ lenkte Xiaomins Schwester das
Gespräch wieder in ruhigeres Fahrwasser. „Ich habe mich noch nicht
entschieden. Diesen Sommer will ich hier nochmal einen Sprachkurs an
der gleichen Uni machen, an der ich letztes Jahr schon war.
Danach weiß ich wahrscheinlich mehr.“ – „Warum willst Du denn
weiter Chinesisch lernen? Du kannst doch schon gut sprechen?“
Xiaomin schien sich fürs erste gefangen zu haben, seine Skepsis war
jedoch nicht gewichen. „Einfach weil es mich interessiert, mehr
steckt nicht dahinter.“ versuchte Anna zu erklären. Nachdenklich
nahm Xiaomin seine Stäbchen wieder auf. „Verrückt…!“ murmelte
er vor sich hin, während er sein Eßschälchen
auffüllte.
„Was willst Du auf dieser Reise noch
unternehmen?“ wollte Xiaomins Schwester wissen. „Morgen
Vormittag will ich zur Uni fahren, um mich für einen
Sommerkurs einzuschreiben, dann geht es weiter zum
Sommerpalast, der ist von da aus ja nicht mehr weit weg. Und
übermorgen muss ich schon wieder nach Hause fliegen.“ – „Gut
dass Du noch einen Tag da bist. Ich habe nämlich ein Geschenk für
Familie Wu vorbereitet. Kann ich es Dir morgen Abend im Hotel
vorbeibringen?“ fragte Xiaomin. „Gerne, ich melde mich wenn
ich absehen kann, wann ich wieder dorthin zurück komme.“
Vergissmeinnicht
Schritt
um Schritt war Anna dabei, bei ihrem neuen Arbeitgeber einen
neuen Weg für sich zu finden. Hatte sie vorher nur für kleine
Firmen mit weit weniger als hundert Angestellten gearbeitet, so galt
es jetzt, ihren Platz in einen Großkonzern zu finden, dessen
Mitarbeiterzahl die Einhunderttausend deutlich überstieg. Inhaltlich
unterschied sich ihre neue Tätigkeit ebenfalls von dem, was sie
vorher gemacht hatte, auch machte sich der Umstand bemerkbar, dass
aus dem geplanten Jahr China-Aufenthalt zweieinhalb Jahre geworden
waren, was in Annas Branche einer Ewigkeit gleich kam.
In dieser
Zeit war ihr Häuschen für Anna ein stiller Rückzugsort, an dem sie
durchatmen und ihre Batterien wieder aufladen konnte. Da sie
beruflich viel reisen musste, konnte sie meist nur an
Wochenenden oder Urlaubstagen Gebrauch davon machen. Das war der
Preis, den sie für ihre Wahl, sich in ihrer
ländlichen Heimat niederzulassen, zu entrichten hatte. Aber
Anna zahlte ihn gerne. Auf diese Weise konnte sie in ihrem Leben
beide Welten verbinden, die Stadt, deren Möglichkeiten sie über
Jahrzehnte hinweg kennen und schätzen gelernt hatte, und ihre neu
entdeckte Liebe zu dem Land, das sie in ihrer Kindheit
geprägt hatte.
Der
Feierabend eines sonnigen Frühsommertages war angebrochen. Anna
hatte eine der seltenen Gelegenheiten genutzt, um von ihrem Zuhause
aus zu arbeiten. Tief atmend und schwitzend joggte sie den Weg
hinauf, der sie in der nächsten Stunde durch Wiesen, an Reben vorbei
und hinein in den Wald führen würde. Nach den langen Stunden hinter
dem PC spürte sie endlich wieder ihren Körper, hörte Atem und
Pulsschlag, fühlte ihre Schritte. Noch klebten einige Gedanken an
Begebenheiten der letzten Stunden in ihrem Sinn, noch war sie nicht
ganz bei sich angekommen.
Bewusst richtete sie den Blick nach
vorne auf den Weg, setzte Fuß vor Fuß. Da! Noch einige
Schritte entfernt leuchtete etwas aus dem Gras am Wegesrand, machte
Anna neugierig und zog sie weiter. Beim Näherkommen schälten sich
unzählige kleine Blüten aus dem sumpfigen Grün, strahlendes
Himmelblau, mit einem winzigen sonnengelben Stern in der Mitte.
„Mein
Gott, dieses unglaublich himmelblaue Himmelblau! Die haben ja
wirklich eine Farbe wie die Vergissmeinnicht, die ich als Kind so
gerne im Garten gepflückt habe!“ schoss es Anna durch den Kopf.
„Dieses himmelblaue Strahlen, das ich unbewusst immer suche, wenn
ich Vergissmeinnicht in Gärten blühen sehe, nur um ein ums andere
Mal enttäuscht zu werden, das gibt es doch wirklich noch! Da ist
es!“ staunte sie.
Bisher
hatte sie sich den unterschwelligen Verdruss, den die
Vergissmeinnicht aus Hausgärten bei ihr hinterließen, damit
erklärt, dass man als Kind Sinneseindrücke intensiver
wahrnimmt als im Erwachsenenalter. Aber nein, so konnte das nicht
stimmen, wurde ihr nun bewusst Denn dieses Himmelblau hier am
Wegesrand, das war wirklich genau so unglaublich himmelblau wie sie
es in Erinnerung hatte! Verblüfft blieb sie einige Augenblicke
vor den Blüten im Gras stehen. „Wie kann das sein?“ fragte sie
sich. Sie saugte den Anblick geradezu in sich hinein und konnte sich
nur schwer wieder losreißen.
Nachdenklich geworden machte sie
sich wieder auf den Weg. Konnte es sein, grübelte es in ihr weiter,
dass die Vergissmeinnicht im Garten der Eltern keine gezüchteten
Sorten gewesen waren, sondern wilde Vergissmeinnicht, genau wie die
am Wegesrand eben? Sie erinnerte sich, dass es im Garten damals
einige Wiesenflecken gegeben hatte, die nur ein oder zweimal im Jahr
mit der Sense gemäht wurden und ansonsten wachsen konnten wie sie
wollten. Gut möglich also. Offensichtlich hatte sie als Kind den
Unterschied zwischen den wilden und den gezüchteten Sorten ganz
genau wahrgenommen, staunte sie, während sie weiter Fuß vor Fuß
setze.
Als
sie etwas später im Wald angekommen war, begann der Weg eben zu
verlaufen. Ihre Schritte wurden leichter und sie fing an, jeden
einzelnen von ihnen auszukosten während sie tief durchatmete.
„Wie
treffend genau Kindheitserinnerungen doch sind… wild und
strahlend… ja, so sind sie wirklich, auch jetzt noch!“ Die
Vergissmeinnicht schienen ihrem Namen alle Ehre machen zu wollen,
denn Anna gelang es nicht, ihnen davon zu joggen.
„Ja, treffend
genau habe ich gesehen, gehört, gefühlt und geschmeckt als Kind,
nichts ist vergessen, nichts… nicht die Farbe wilder
Vergissmeinnicht, nicht die verzweifelten Tränen, die Rutenschläge,
die Schreie und Schmerzen, nicht das Verlassen werden, die Lügen und
nicht die Bitterkeit des Verrats…“ Abrupt bleib Anna stehen,
mitten auf dem Waldweg.
Wie konnte es sein, dass ein hellwaches,
empfindsames kleines Menschenwesen, dem man nicht einmal bei der
Farbe von Vergissmeinnicht etwas vormachen konnte, dieses alles
fühlen und erleben konnte …und überlebte? „Wie habe ich das
durchgestanden?“ fragte sie sich, während sie sich langsam und nun
völlig geistesabwesend wieder in Bewegung setze, um nicht unangenehm
auszukühlen.
Um sie herum begannen Wald, frische Luft und
Vogelgesang unbeachtet vorbei zu ziehen, denn Schritt für Schritt
trug es sie weiter zurück in die Zeit, in der jenes hellwache,
empfindsame kleine Menschenwesen hatte lernen müssen, wie man sich
schützt wenn man nicht fliehen kann.
Damals
gab es in der Nachbarschaft ein Mädchen, das ein oder zwei Jahre
jünger war als Anna. Die beiden waren keine dicken Freundinnen, aber
ab und zu spielten sie bei Katja daheim, da Katja nie zu anderen
Kindern mit nach Hause durfte. In ihrem Elternhaus wurde alles
pingelig in Ordnung gehalten, nichts durfte man anfassen und nirgends
durfte man herum springen, normalerweise auch nicht auf dem
Rasen.
Bei einem dieser Spielbesuche kam Katja ans Gartentor und
hielt stolz ein seltsames Tier in den Händen. So eins hatte Anna bis
dahin noch nie gesehen. Aus einem harten, mit braun grünen
Feldern bedeckten Panzer lugten ledrige Stummelbeine hervor und
ruderten hilflos in der Luft herum. Vorne an dem Tier gab es noch
einen weiteren braun grünen Lederstummel mit Augen und Maul, das
mussten wohl Hals und Kopf des Tiers sein. Katja platzte fast vor
Stolz, als sie Anna ihre neue Schildkröte unter die Nase hielt. Anna
traute sich zunächst nicht, das Tier anzufassen und Katja
lachte.
Ausnahmsweise durften die beiden den Rasen betreten, wo
ein kleines niedriges Gehege für die Schildkröte aufgebaut war.
Katja setzte sie hinein und das Tier, nun wieder Bodenhaftung
spürend, begann bedächtig sein Gehege zu erkunden. Beide saßen
eine Weile um das Gehege herum und sahen zu wie sich die Schildkröte
durch das Gras schob. Irgendwann wurde es Katja zu langweilig, und
sie begann, mit dem Fingerknöchel auf den Panzer der Schildkröte zu
klopfen. Das ließ die Schildkröte völlig kalt, sie krabbelte
einfach weiter. Katjas Klopfen wurde kräftiger und als wäre das
noch nicht genug, ging sie unvermittelt dazu über, mit der vollen
Kraft ihrer flachen Hand auf den Panzer der Schildkröte
einzuschlagen dass es nur so klatschte. Aber das terrorisierte
Tier wusste sich zu helfen. Erschrocken zog es den Kopf ein, bis
er völlig im Panzer verschwunden war und auch die Füße
verschwanden, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Dann lag die
Schildkröte völlig still und reglos im Gras, wie tot. Katja und
Anna konnten tun und lassen was sie wollten, das Tier reagierte auf
nichts und zeigte keinerlei Regungen mehr. Irgendwann verloren die
beiden das Interesse an dem zum „Ding“ gewordenen Lebewesen und
suchten sich einen anderen Zeitvertreib.
„Ja,
so war’s…“ ging es Anna durch den Sinn, während sie langsam
wieder in den Wald zurückfand, die frische Luft wieder zu riechen,
das Blätterdach zu sehen und den Vogelgesang zu hören begann.
Das
hellwache, empfindsame kleine Menschenwesen konnte nicht fliehen,
aber es konnte auch nicht so überleben wie die Natur es geschaffen
hatte. Nicht in diesem Haus, in dem es ausharren musste bis es groß
genug war um das Weite zu suchen. Also begann es langsam einen Panzer
auszubilden, der mit der Zeit immer zuverlässiger vor Schmerzen
schützte und Empfindungen und Erinnerungen fest in sich einlagerte.
Das einst hellwache, empfindsame Menschenwesen wurde hart. Hart nach
außen, vor allem aber hart zu sich selbst, krabbelte Jahre später
ein seelisch gepanzertes Wesen hinaus in die Welt, genügsam und hart
im Nehmen wie eine Schildkröte.
Langsam
näherte Anna sich der Wegbiegung, hinter der ihre Runde sie über
eine Bergflanke hinauf zum Scheitelpunkt der Strecke führen würde.
„Mein Gott, wie viel Kraft das alles gekostet hat!“ schoss es ihr
durch den Kopf, während sie sich innerlich für den Anstieg
wappnete. „Ein Pappenstiel, diese Bergflanke hier, ein Pappenstiel
gegen das, was die Panzerhärte an Kraft gekostet hat, Tag für Tag,
Jahrzehnt um Jahrzehnt… Ein ständiger innerer Blutverlust,
unbemerkt, ganz anders als das Schnaufen und Schwitzen an diesem
Berghang hier“. Damals wäre es wohl immer weiter so gegangen,
wurde ihr klar, weiter und weiter, bis ihr die Kraft ausgegangen
wäre.
Und selbst dann hätte sie nicht verstanden was los war mit
ihr, wenn ihr nicht Tage nach dem Tod ihrer Mutter jenes Foto in die
Hände gefallen wäre. Ihre Mutter hatte es zwischen den wenigen
privaten Briefen aufbewahrt, die Anna auf der Suche nach dem
Familienstammbuch zwischen ihren Sachen gefunden hatte.
Es war ein
Hochzeitsfoto ihrer Eltern, eine schwarzweiß vergilbte Nahaufnahme
im Freien, im Hintergrund das damals noch neue Haus, in dem Anna
später ihre Kindheit verbringen sollte. Für beide war es ihre
zweite Ehe gewesen, sie sahen erkennbar älter aus als die meisten
Brautpaare auf ihren Hochzeitsfotos. Aber auf diesem Foto sah man
Annas Mutter ihr Alter nicht an. Sie hatte ihrem Zukünftigen den
Kopf zugewandt und strahlte ihn glücklich lachend von der Seite
an… ganz offensichtlich schwer verliebt. Und er? Er schaute
geradeaus in die Kamera, verlegen und verkrampft, als wollte er sich
im Objektiv verkriechen.
„Verliebtheit heiratet Verlogenheit…“
sinnierte Anna lakonisch, während sie sich die Bergflanke
hinaufarbeite. „Es war ihm wohl bewusst, um was er sie
betrog…“
Damals hatte Anna wie hypnotisiert mit dem Foto in
der Hand dagesessen, ungläubig, fasziniert, wehrlos, während das
glücklich verliebte Lachen ihrer Mutter in sie hinein sank, tiefer
und tiefer… und plötzlich hatte sie bemerkt, wie tief drinnen in
ihr etwas riss. Sie konnte es körperlich spüren und wusste im
selben Augenblick, dass soeben etwas unwiderruflich zerbrochen
war.
So lange sie auch auf das Foto schaute, glückliches Lachen
und ihre Mutter, das konnte und konnte sie nicht in Eins
zusammenbringen. Bis in ihre aller frühesten Kindheitserinnerungen
hinein gab es keinerlei Verbindung zwischen Glück, Lachen, Liebe und
ihrer Mutter. Sie kannte sie nur als schwer depressive Frau, die sich
soweit es ging von Allen und aus Allem zurückzog. Aber da auf dem
Foto, da lachte sie wirklich, war verliebt und strahlte voller
Leben… Damals begann Anna zu ahnen, dass sie erst am Anfang eines
langen schmerzhaften Weges des Verstehens stand.
Wie mechanisch
war Anna mittlerweile die Bergflanke hinaufgelaufen. „Geistige
Abwesenheit hat manchmal auch etwas Gutes“, dachte sie, während
die am Scheitelpunkt der Strecke stehenden Buchen langsam in Sicht
kamen. Sie hatte nicht bemerkt, wie sie den Anstieg überwunden
hatte, war nun aber ziemlich aus der Puste und ihr Körper zwang sie,
ihm die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm gebührte. Sie drosselte
ihr Tempo, noch ein paar Meter, dann hatte sie es geschafft. Ab hier
verlief die Strecke nur noch eben oder bergab.
Nach dem Tod ihrer
Mutter, die ihren Vater nur kurze Zeit überlebt hatte,
hatte Anna in größeren Zeitabständen wiederholt Anlauf
genommen, um sich durch den Riesenberg papiernen Giftmülls, der in
dem alten Haus auf sie wartete, hindurch zu wühlen. Während ihre
Mutter nur zwei, drei kleine Packen hinterlassen hatte, schien der
Vater beinah jedes Stück Papier, das er jemals in Händen gehalten
hatte, des Aufbewahrens für wert befunden zu haben. Es war eine
quälende, bleiern drückende Sisyphusaufgabe, die Spreu vom Weizen
zu trennen, denn Anna schaffte es nicht, etwas einfach unbesehen
wegzuwerfen. Entsprechend langsam kam sie voran und zwischen den
einzelnen Anläufen vergingen manchmal Jahre, in denen sie alles
liegen ließ.
Und dennoch. Irgendwann im Laufe des vergangenen
Winters, als Anna wieder einmal missmutig und frustriert zwischen
verstaubten Papierstapeln, Kisten und Kartons herum gekramt hatte,
kam es ihr unvermittelt so vor, als würde ihr das Wegwerfen leichter
fallen. Erst wanderten nur einzelne Dokumente unbesehen in die
Entsorgungskartons, dann kleine Stapel, größere, dann ganze Packen.
Sie hatte nicht mehr geglaubt, diesen Punkt jemals zu erreichen, aber
langsam begann sie zu begreifen. Sie konnte noch Jahre damit
verbringen, sich durch das längst vergangene Leben ihrer Eltern und
all jener, mit denen sie in Kontakt gestanden hatten, hindurch zu
wühlen. Aber finden würde sie nichts. Nichts, das es wert war, ihre
Lebenskraft darauf zu verschwenden, nichts das überhaupt irgend
einen Wert für sie haben würde, nichts, nichts, nichts!
Immer
schneller wanderte das Papier nun in die Entsorgungskartons und Anna
ertappte sich dabei, wie sie ungeduldig auf den Abend wartete, bevor
die grünen Papiermülltonnen in ihrer Straße geleert wurden.
Nachdem es endlich dunkel geworden war, nahm Anna Karton um Karton,
ging hinunter in die winterkalte Straße und stopfte ihre eigene und
die Tonnen der Nachbarn, in denen noch Platz war, voll bis sie die
Deckel kaum noch zudrücken konnte.
Am nächsten Morgen kam dann
das Allerbeste. In der Straße hörte man die Müllabfuhr schon von
weitem kommen und im Winter verlangsamten Eis und Schnee den Ablauf
oft zusätzlich. Kaum war das erste Tonnenklappern in der Ferne
wahrnehmbar, hing Anna am Fester und sah zu, wie sich der Wagen durch
die Häuserreihe arbeitete, wie der Müllmann die Tonnen zurecht
schob und der stählerne Greifarm sie packte um den Inhalt in die
Füllöffnung des Müllwagens zu kippen.
Da, die erste der Tonnen,
die Anna gestern Abend befüllt hatte. Dann noch eine, noch eine und
noch eine. Während sie das Schauspiel beobachtete spürte sie, wie
sich in ihr Freiräume zu öffnen begannen, wie etwas langsam weit
und weiter wurde, das vorher eng verschnürt war. Manchmal liefen
Tränen der Erleichterung ihre Wangen hinab und Anna musste tief
durchatmen um ihren Blick zu klären. Denn es tat so gut zuzusehen.
Am Ende dann Motorengeheul, der Müllmann sprang auf den Tritt am
hinteren Ende des Fahrzeugs und der Müllwagen schob sich hinaus aus
der Straße, alles mitnehmend, nicht nur das Papier.
Es hatte
mehrere solcher Müllabfuhren gebraucht, bis das alte Haus endlich
befreit war von der Last einer längst vergangenen Zeit.
Annas
Laufrunde ging ihrem Ende entgegen und führte sie zurück zu der
Stelle mit den Vergissmeinnicht. Sie konnte es kaum erwarten,
die kleinen Wunder wieder zu sehen. Erneut blieb sie bei ihnen stehen
und ließ sich von ihren winzigen goldenen Sonnensternen aus dem
unglaublichen Himmelblau anstrahlen.
Nein, nichts ist vergessen,
dachte sie, nichts… und lächelte zurück.
Zeitschock
Es
klingelte. Seit Tagen hatte Anna sich auf Karlas Besuch gefreut. Nach
der Rückkehr aus China hatte es unzählige Erlebnisse und
Situationen gegeben, über die sie sich in ihrer neuen alten Heimat
mit keinem hatte austauschen können. Von gelegentlichen
Urlaubsreisen abgesehen hatte niemand sich jemals auf längere
Aufenthalte in einer nicht-westlichen Kultur eingelassen. Man hörte
neugierig zu, wenn Anna von ihren Erlebnissen erzählte, aber außer
Tante Sofia brachte kaum jemand ein Interesse auf, das über bloßes
Kratzen an der exotischen Lackschicht des äußeren Anscheins hinaus
ging.
Karla hatte Anna bei einem geselligen Abend mit anderen
Westlern während der letzten Monate in China kennen gelernt. Schnell
hatte sich herausgestellt, dass beide fast im gleichen Alter waren.
Karla absolvierte damals ein Praktikum in einem chinesischen
Krankenhaus, was Teil eines interdisziplinären Studiengangs war, den
sie an einer deutschen Uni belegt hatte. Beide hatten schon eine
längere Zeit der Berufstätigkeit hinter sich und waren dabei, ihrem
Leben eine völlig neue Richtung zu geben. Da tat der gegenseitige
Austausch gut und schnell war eine lockere Freundschaft entstanden.
Der Zufall wollte es, dass Karla ihre Rückkehr nach Deutschland fast
auf den Tag genau zur gleichen Zeit eingeplant hatte wie Anna und
nach der Rückkehr war der Kontakt zwischen den beiden nicht
abgerissen.
„Komm
rein, hier drinnen ist es nicht so heiß! Wie war Deine Fahrt?“ –
„Puh! Das Auto war die reinste Sauna… und dann gab es wegen eines
Unfalls auch noch einen Stau auf der Autobahn, da wurde ich in der
Blechbüchse erst recht gebraten.“ Karla beeilte sich, aus der
brütenden Nachmittagshitze in die angenehme Kühle hinein zu
huschen, die in Annas Häuschen herrschte. „Schau, hier kannst Du
Dich frisch machen und erst mal ausruhen.“ erklärte Anna, während
sie Karla durch den Flur führte. „Die Schlossführung machen wir
besser erst heute Abend. Bis dahin muss ich die Läden sowieso
geschlossen halten, damit das Haus sich nicht zu sehr aufheizt. Ich
stell‘ Dir noch was zum Trinken ins Zimmer. Meld‘ Dich dann, wenn Dir
irgendwann danach ist.“
Als die Hitze auch später kaum
nachließ, beschlossen die beiden, zu einer kleinen Abendwanderung
ins kühlere Gebirge hinauf zu fahren.
Als Ausgangspunkt hatte
Anna eine Anhöhe gewählt, von der aus man einen beeindruckenden
Panoramablick über das gesamte Umland hatte. Eine ganze Weile
standen sie schweigend beisammen, genossen die Kühle des hier sanft
fächelnden Abendwindes und ließen ihre Blicke schweifen.
„War
es nicht in diesem Teehaus in Peking, wo wir uns das letzte Mal
gesehen haben?“ fragte Karla dann. „Ja, das war fast auf den Tag
genau vor einem Jahr.“ bestätigte Anna. „Ich hatte Geburtstag
und Du hattest nichts Besseres zu tun als der Inhaberin das mit zu
teilen.“ – „Klar! Sonst hätte sie die Kalligrafie ja nicht für
Dich gemalt, die jetzt in Deinem Flur hängt.“ grinste Karla
schelmisch.
„Das stimmt wohl…“ Annas Gedanken schweiften
weiter. „Ist es nicht ein seltsames Gefühl, hier zu stehen, über
diese Landschaft zu schauen und plötzlich ist man innerlich wieder
in China? In den ersten Wochen nach meiner Rückkehr war mir ständig
so, als würde ich in zwei Welten leben. Mein Körper lief hier in
meiner neuen alten Heimat herum, aber meine Gedanken irrten irgendwo
in achttausend Kilometern Entfernung durch die Gegend…“ – „Ja,
so etwas kenne ich von der Rückkehr nach meinem ersten längeren
Aufenthalt auch. Aber das ist schon einige Jahre her“ erwiderte
Karla. „Nach meiner letzten Rückkehr war ich jedoch schnell wieder
drin in meinem Uni-Alltag. Ich wusste ja, was mich erwarten würde:
Vorlesungen, Hausarbeiten schreiben und das Lernen auf die
Masterprüfungen. Es hat sich für mich nur das Studentenzimmer
geändert, in das ich eingezogen bin.“
„Wie sind Deine
Prüfungen eigentlich gelaufen?“ – „Die sind prima gelaufen, bin
zufrieden! Bis auf eine Eins-Minus in Wirtschaftsmathematik alles
glatte Einsen!“ Karla lächelte zufrieden. „Auch ein Thema für
meine Masterarbeit habe ich schon. Da kann ich gleich weiter
verwerten, was ich während meines Praktikums gelernt habe. Aber
jetzt mach‘ ich erst mal ein paar Wochen Urlaub, bevor ich damit
loslege.“
Anna bewunderte Karla für die Disziplin und
Konsequenz, mit der sie ihre Pläne verfolgte. Während sie selbst
ihre letzten Wochen in China und die ganzen ersten Monate in
Deutschland nur wie eine Blinde tastend und stochernd voran gekommen
war, war Karla zielstrebig von Etappe zu Etappe marschiert und wusste
genau, wo sie hin wollte.
„Komm,
lass uns mal eine Runde laufen, dann können wir gerade zum
Sonnenuntergang wieder hier sein.“ – „Klingt gut!“ meinte Karla
und die beiden setzten sich in Richtung des nahen Bergwaldes in
Bewegung.
„Ja, im Gegensatz zu Dir ist es mir unerwartet schwer
gefallen, mich hier einzuleben. Manchmal war ich richtig verwirrt und
hatte sogar Schwierigkeiten, mich räumlich zu orientieren.“ fuhr
Anna nach einer Weile fort. Karla schaute verwundert zu Anna hinüber.
„Was war denn da los mit Dir?“ – „Das habe ich auch lange nicht
kapiert. Mir passierten seltsame Sachen, die mich total durcheinander
brachten…“ – „Klingt gar nicht gesund… was denn zum
Beispiel?“ – „Ganz am Anfang, als ich noch kein Auto hatte,
wollte ich in der Stadt zum Beispiel mal zu Fuß vom Bahnhof rüber
zu dem Aldi-Markt im Gewerbegebiet gehen. Das Gewerbegebiet war
während der letzten zehn Jahren irgendwann neu erschlossen worden,
so dass ich den Weg dahin noch nicht kannte. Im Zug kam ich mit einer
Frau ins Gespräch, die mir den Fußweg vom Bahnhof zum Aldi genau
beschreiben konnte. Also marschierte ich am Bahnhof dann in der
festen Überzeugung los, den Weg zu kennen. Nach einiger Zeit merkte
ich aber, dass ich dabei war, das große Fabrikareal zu umrunden, das
zwischen Bahnhof und Gewerbegebiet liegt und wurde stutzig. Die
Fabrik hätte ich eigentlich links liegen lassen müssen, aber nun
schob sich der Komplex zu meiner Rechten immer mehr zwischen mich und
den Ort, an dem der Aldi-Markt liegen musste.
Plötzlich passte
nichts mehr zusammen, zurück gehen wollte ich aber auch nicht mehr
und erreichte den Aldi-Markt schließlich auf einem riesigen Umweg.
Der Umweg war aber nicht das Schlimme an dieser Sache. Was mir
hingegen richtig Sorgen machte war, dass ich mir keinerlei Reim
darauf machen konnte, warum und wo ich in die falsche Richtung
abgebogen war. Im Gegenteil, ich war überzeugt, alles richtig
gemacht zu haben, und doch… Wie konnte das sein?Während meiner
Schulzeit war ich doch neun Jahre lang von diesem Bahnhof aus zur
Schule gegangen. Gut, man hatte in der Zwischenzeit das alte
Bahnhofsgebäude durch ein neues ersetzt, Straßen- und Schienenwege
waren ausgebaut und anders verlegt worden und auf den nahe gelegenen
Feldern war das neue Gewerbegebiet entstanden. Aber das große
Fabrikgelände hatte es zu meiner Schulzeit schon gegeben, das
an den Bahnhof angrenzende Stadtviertel hatte sich kaum verändert
und natürlich war das alles umfassende Panorama der Landschaft das
gleiche geblieben. Außerdem, in China hatte ich doch auch keine
Probleme gehabt, mich in völlig unbekannten Gegenden anhand von
Wegbeschreibungen und Karten zurecht zu finden. Wie konnte es sein,
dass ich hier, in meiner alten Heimat, einen so kurzen Weg nicht
finden konnte?
Zufällig
habe ich die Frau bei einer weiteren Bahnfahrt dann noch mal
getroffen. Ich erzählte ihr mein Missgeschick. Sie hat sich
natürlich ein bisschen amüsiert darüber, mir den Weg aber dann
noch mal erklärt. Am Bahnhof angekommen machte ich mich wieder in
der Richtung auf den Weg, die sie mir beschrieben hatte. Zumindest
glaubte ich das. Diesmal merkte ich aber bald, dass es auf die
gleiche falsche Route hinauslief wie vorher. Und wieder verstand ich
nicht warum. Beunruhigt bin ich umgekehrt und zurück zum
Bahnhof.
Derweil hatte die Frau hinter mir her gesehen und
abgewartet, was passieren würde. Als ich wieder auf sie zuging,
konnte sie kaum verbergen, dass sie an meiner Zurechnungsfähigkeit
zu zweifeln begann. Aber sie war wohl ein geduldiger Mensch und bot
mir an, mich zu begleiten, bis wir den Aldi-Markt sehen konnten.
Dankbar nahm ich ihr Angebot an, woraufhin sie in der entgegen
gesetzten Richtung losmarschierte, die ich vorher eingeschlagen
hatte. Mir war das natürlich alles ziemlich peinlich… Ungläubig
und erleichtert zugleich bin ich neben ihr hergelaufen und schon zwei
Ecken weiter sahen wir in einiger Entfernung den Aldi-Markt vor uns
liegen.“
„Oh
je, da warst Du ja wirklich völlig durch den Wind…“ bemerkte
Karla. „Bei unseren Telefonaten ist mir damals wohl aufgefallen,
dass Du mit Deiner Situation zu kämpfen hattest. Aber ehrlich gesagt
konnte ich mir keinen rechten Reim darauf machen. Ich wusste ja, dass
Du davor schon mehr als einmal zwischen China und Deutschland
gependelt warst, wunderte mich und dachte, was hat Anna nur?
Kulturschock hin, Eigenkulturschock her, eigentlich müsste das alles
doch auch für sie von Mal zu Mal leichter werden? Bei mir war’s ja
schließlich auch nicht anders?“ In Karlas Worten schwang Besorgnis
mit.
„Weißt Du, selbst wenn Du mich direkt danach gefragt
hättest, damals hätte ich auch keine Antwort gewusst. Erst diese
Geschichte mit dem Aldi-Markt hat mir die Augen dafür geöffnet,
warum es ausgerechnet hier, in meiner alten Heimat, so schwer für
mich war, in Deutschland neu anzufangen. Dabei hatte ich genau das
Gegenteil erwartet.
Mit der Frau am Bahnhof bin ich anschließend
noch ein bisschen ins Gespräch gekommen, bevor jede von uns wieder
ihrer Wege ging. Sie war wirklich ein Glücksfall für mich, denn sie
erinnerte sich genau an den alten Bahnhof mitsamt der Straßen- und
Schienenführung, die ich als Schülerin gekannt hatte. Als
Berufspendlerin hat sie die gesamte Umbauphase miterlebt und konnte
mir beschreiben, welche Veränderungen vorgenommen worden waren. Erst
als ich versucht habe, diese Veränderungen so nachzuvollziehen, wie
sie sie mir beschrieb, begann mir zu dämmern, dass da so etwas wie
eine uralte Landkarte tief in mir vergraben war. Die lenkte die ganze
Zeit über unbemerkt meine Schritte und wiegte mich in der Sicherheit
des Wohlvertrauten. Zu dumm nur, dass die alte Karte die Wirklichkeit
schon seit Jahrzehnten nicht mehr richtig abbildete…“
„Wie
lange warst Du denn überhaupt weg gewesen von hier?“ fragte Karla.
„Oh, das waren über zwanzig Jahre… nur hatte ich mir bis zu
jener Suche nach dem Aldi-Markt nie bewusst gemacht, was zwanzig
Jahre Zeitverschiebung bedeuten können. Bei gelegentlichen
Heimatbesuchen hab‘ ich wohl die eine oder andere Veränderung
wahrgenommen, aber meine inneren Karten waren offensichtlich
trotzdem nie auf Stand gebracht worden. Außerdem hatte ich anfangs
den Kopf noch so voll von Eindrücken aus China, da ist mir völlig
entgangen, wie fremd mir meine alte Heimat geworden war.“ – „Das
ist eben nicht so eine offen zu Tage tretende Fremdheit, wie sie
einen in China auf Schritt und Tritt anspringt.“ bemerkte Karla.
„Ja, da hast Du recht. Es ist eher eine, die sich regelrecht mit
dem maskiert, was noch unverändert gebliebenen ist. Man fällt auf
die wohlvertraute Maske rein, schaltet unbekümmert auf Autopilot und
schon ist man dabei, sich anhand seiner alten Karten steuern zu
lassen. Bis man irgendwann merkt, dass man immer woanders rauskommt
als da, wo man hin wollte… verschaukelt so zu sagen.“ Anna
kicherte. „Heute kann ich darüber lachen, aber damals hatte ich
zeitweise das Gefühl, über schwankenden Boden zu gehen. Das
ist nicht sehr angenehm, glaub mir.“
„Langsam verstehe ich
Dich etwas besser.“ sagte Karla, nachdenklich geworden. „Besser
mit wachem Verstand in unbekanntem Gelände unterwegs… Oh Schreck!“
Abrupt blieb Karla stehen. „Apropos wacher Verstand und unbekanntes
Gelände… Bist Du sicher, dass Du nachher den Weg zurück zum Auto
wieder findest?“ fragte sie mit einem spöttischen Lächeln. „Aber
sicher, liebe Karla. Dies hier ist doch meine alte Heimat, da kenne
ich mich aus!“ Anna spielte die Empörte. „Oh je, das ist ja noch
schlimmer! Worauf hab‘ ich mich da nur eingelassen!?“ – „Das
wirst Du schon sehen… So ein kleiner Schuß Abenteuer tut Dir
sicher auch mal gut!“ kicherte Anna während die beiden sich wieder
in Bewegung setzten.
„Sag mal, wie haben denn die Leute aus dem Dorf auf Dich reagiert, als sie gemerkt haben, dass Du auf Dauer zurückgekehrt bist?“ nahm Karla nach einiger Zeit den Faden wieder auf. „Es gibt erstaunlich viele Leute, die mich wieder erkannten, viel mehr sogar als umgekehrt. Das sind manchmal ganz schräge Momente, wenn jemand mich so freundlich erwartungsvoll anschaut und hofft, dass auch ich mich daran erinnere, wer da vor mir steht, ich mir aber beim besten Willen nicht mehr zusammenreimen kann, wer das ist. Am besten bin ich bisher damit gefahren, dann direkt nachzuhaken und zumindest ein kurzes Gespräch in Gang zu bringen.“ – „Das ist bestimmt nicht verkehrt“ meinte Karla. „Zumal auf dem Dorf, wo letztlich alle einander kennen. Wenn Du da mal falsch reagierst, hast Du’s Dir gleich mit wer weiß wie vielen andern Leuten zusätzlich verdorben. Gab es überhaupt alte Freundschaften von ganz früher, an die Du anknüpfen konntest?“ – „Bisher hat sich nur an eine alte Freundschaft aus der Schulzeit anknüpfen lassen. Und davon abgesehen muss ich wohl Geduld mitbringen und schauen, was sich in Zukunft entwickelt. Aber das ist immerhin etwas, mit dem ich von vorne herein gerechnet hatte.“
Ihr Weg hatte die beiden inzwischen wieder aus dem Wald heraus zu einem weiteren Aussichtspunkt geführt. Vor hier aus konnten sie über mit Weideflächen bedeckte Berghänge hinweg bis zu der Stelle zurück schauen, an der Annas Auto auf sie wartete. „Da schau! Unser Auto! Mein Gott, bin ich jetzt aber froh!“ theatralisch schlug Anna sich mit der Hand auf die Brust. „Na, da habe ich heute aber verdammtes Glück gehabt.“ Karla zwinkerte verschmitzt. „Auf dem Rückweg geht es jetzt über die Wiesen dort vorne, das ist kürzer als der Weg, den wir her gekommen sind.“ erklärte Anna, während sie weiter gingen. „Weißt Du, ich erlebe dieses Dorf jetzt völlig anders als früher.“ fuhr sie dann fort „Seitdem ich endlich kapiert habe, wie fremd es mir geworden ist, finde ich es faszinierend, es neu für mich zu entdecken. Manchmal fühle ich mich dabei wie eine Touristin. Und immer wieder passieren Sachen wie die mit dem Elektriker neulich.
Den
musste ich bestellen, weil die alte Klingel ihren Geist aufgegeben
hatte. Er ist der Sohn des alten Elektrikers aus dem Haus schräg
gegenüber und ich wusste natürlich, dass der Alte seinen Betrieb an
seinen Sohn übergeben hat. Aber keiner der Männer, die schräg
gegenüber manchmal in Elektrikerkluft über den Hof liefen, kam mir
bekannt vor. Ich hatte den Sohn als dünnen, schmalgesichtigen Jungen
in Erinnerung, der sich immer gerne anschloss, wenn wir Kinder auf
der Straße spielten.
Als ich ihm nun die Haustür aufmachte,
füllte da ein kleiderschrankbreiter Zweimetermann mit dichtem
schwarzem Haar, Vollbart und Brille den Türrahmen aus. Eine
bratpfannengroße Pranke schob sich an seinem Bierbauch vorbei mir
entgegen und zerquetschte mir fast die Hand, als ich einschlug. Ich
begrüßte ihn mit ‚Guten Tag Herr Kühne‘, aber da sah er verdutzt
auf mich herunter und sagte gekränkt: ‚Warum sagst Du Sie zu mir,
wir haben doch als Kinder zusammen auf der Straße gespielt?!‘.“ –
„Na da bist Du ja voll Fettnapf gelandet…“ – „Stimmt, in
diesem Fall hat es sich dann aber wieder eingerenkt, als wir auf
Geschichten aus Kindertagen zu sprechen kamen, über die wir uns
zusammen schief lachen konnten.
Die Begegnungen mit diesen alten
neuen Bekannten verlaufen meistens so überraschend. Instinktiv
erwarten beide Seiten etwas Altbekanntes, nur um dann fest zu
stellen, dass man sich noch einmal ganz von vorne kennen lernen
muss.“ – „Aber anstrengend ist das schon auch irgendwie.“ gab
Karla zu bedenken. „Zumindest während der ersten Monate, das ist
wohl wahr.“
Mittlerweile
waren die beiden zum Ausgangspunkt ihrer kleinen Wanderung
zurückgekehrt. Sie hatten es tatsächlich geschafft, kurz vor
Sonnenuntergang zur Stelle zu sein. Schweigend schauten sie zu, wie
die orange goldene Glut fern hinter den Bergen versank.
„Morgen
können wir gleich nach dem Frühstück rauf in die Berge fahren.“
schlug Anna vor, als sie wieder ins Auto stiegen. „Was sollen wir
uns mit der Hitze da unten rumquälen. Ich kann auch gerne meine neu
erstandenen Wanderkarten mitnehmen, wenn es Dir dann wohler ist.“
Scheidewege
Karla und Anna waren schon über eine Stunde auf den Beinen. Für heute hatten sie sich eine längere Wanderung vorgenommen, die sie mit ausgiebigen Pausen über den ganzen Tag ausdehnen wollten. Eine Rückfahrt hinunter in die drückende Hitze der Täler war erst für den Abend vorgesehen.
Der
schmale Wanderpfad führte sie durch einen Hochwald steil aufwärts.
Weiter oben, wo die hohen Weißtannen spärlicher standen, war er von
Sonnenlicht durchflutet und Heidelbeersträucher bedeckten den
Boden. Beschwingt setzten die beiden Fuß vor Fuß, sogen die kühle
Bergluft in ihre Lungen und fanden nach und nach in einen gemeinsamen
Wanderrhythmus hinein. Lange hatte die Anstrengung des Aufstiegs kaum
ein Gespräch aufkommen lassen. Nun begann der Weg allmählich
flacher zu verlaufen.
„Hast Du eigentlich schon eine
Vorstellung, was Du nach Abschluss Deines Studiums beruflich machen
möchtest?“ fragte Anna die vor ihr her gehende Karla. Diese
überlegte einige Augenblicke. „Doch, eine grobe Vorstellung habe
ich schon.“ erwiderte sie dann. „Ich möchte auf meinem früheren
Beruf aufsetzen, die Branche werde ich daher nicht wechseln. Aber
natürlich sollten sich mein Studium und die China-Erfahrungen, die
ich inzwischen gesammelt habe, in einer Position niederschlagen, die
vorher außerhalb meiner Reichweite gewesen wäre. Mal schauen,
während meiner Masterarbeit will ich nebenbei als Praktikantin
arbeiten. Vielleicht finde ich ja darüber Wege für einen Einstieg.“
– „Das klingt gut!“ bemerkte Anna. „In meiner Abteilung haben
wir auch immer ein oder zwei Praktikanten. Es ist gar nicht selten,
dass welche von denen nach Praktikumsende ihren Weg in die Firma
hinein finden.“
„Kannst
Du Deine China-Erfahrungen denn in Deinem neuen Job nutzen?“ wollte
Karla wissen. Anna überlegte eine Weile. „Ja und Nein… Ja, weil
ein Auslandsaufenthalt, der inhaltlich und auch von der Dauer her
deutlich über Urlaub hinaus ging, eine der Voraussetzungen war, die
in der Stellenanzeige gefordert waren.
Aus guten Grund, wie sich
herausstellte. Die Kollegen in unserem Team arbeiten über den ganzen
Globus verteilt und stammen aus völlig verschiedenen Kulturen. Inder
und Ostasiaten sind ebenfalls darunter. Bis auf eine chinesische
Praktikantin, die bei uns vor Ort arbeitet, sind bisher allerdings
keine Chinesen dabei. Die Arbeits- und Kommunikationsstile dieser
Kollegen sind sehr unterschiedlich und ich glaube, es würde mir
schwer fallen, mir einen Reim auf ihr Verhalten zu machen, wenn ich
in China nicht erlebt hätte, wie tiefgreifend kulturell bedingte
Unterschiede zwischen den Menschen sein können.“ Durch das
Erzählen geriet Anna zunehmend außer Puste und nutzte die nächsten
Meter für ein ausgiebigeres Luftholen, um mit der weiter munter
ausschreitenden Karla Schritt halten zu können.
„Und
was ist mit Deinen Sprachkenntnissen?“ hakte Karla nach einer Weile
nach. „Nun, die gehören zu dem Teil, den ich bei der Arbeit bisher
kaum einbringen kann. Wohl haben wir auch Zweigstellen in China, aber
solange ich nicht für ein Projekt arbeite, das dort angesiedelt ist,
sind die Chancen gering, mit irgend jemandem Chinesisch zu sprechen.
Unsere chinesische Praktikantin hat allerdings schnell gemerkt, dass
mir ihre Heimat nicht ganz fremd ist. Sie hat sich mir angeschlossen
als wäre ich ihre Vorgesetzte, obwohl sie gar nicht für meinem
speziellen Bereich arbeitet.
Wir gehen öfter zusammen Mittagessen
und ich finde es spannend, wenn sie erzählt, wie sie unseren
letztlich doch sehr deutschen Arbeitsalltag erlebt.“ – „Na, da
kannst Du Dein Chinesisch ja wenigstens gelegentlich üben.“ meinte
Karla. „Im Prinzip schon… ich bin aber bei diesen Gelegenheiten
erschrocken, wie viel davon in dem einen Jahr seit meiner Rückkehr
schon wieder zwischen den Windungen meines Hirns verloren gegangen
ist. Und die Praktikantin wollte natürlich lieber Deutsch mit mir
sprechen. Ihr Deutsch ist eher schlechter, als es mein Chinesisch vor
einem Jahr mal war, aber dieses Jahr Unterbrechung hat halt seine
Spuren hinterlassen. Außerdem hat sie zur Zeit den unschlagbaren
Vorteil auf ihrer Seite, in der passenden Sprachumgebung zu leben.
Und so sprechen wir dann doch meistens Deutsch, leider.“ Anna klang
bedrückt.
„Hm, bei mir sieht es nicht viel anders damit aus.“
bestätigte Karla mit einem Kopfnicken. „Ob von meinem Chinesisch
langfristig etwas übrig bleiben wird, hängt davon ab, ob es in
meinem späteren Job einmal gebraucht wird. Aber gut, für mich war
die Sprache ohnehin eher Mittel zum Zweck. Ich habe sie gelernt,
soweit ich es für meinen Alltag in China und für mein Studium
brauchte, interessant ist sie ja allemal. Lesen kann ich einigermaßen
was ich so benötige, aber zum Schreiben hatte ich nie viel Lust.
Letzten Endes würde ich der Sprache keine Träne nachweinen, selbst
wenn ich am Ende alles wieder vergessen sollte.“
Karla
stapfte zügig weiter, während Anna sich sputen musste, Schritt zu
halten. Trotzdem sie in letzter Zeit öfter Joggen gegangen war, ließ
ihre Kondition zu wünschen übrig, das war nicht zu übersehen.
Etwas
weiter mündete der Wanderpfad in eine befahrbare Forststraße ein,
so dass sie neben einander her gehen konnten. „Aber Du hast ja
gerade in das Schreiben richtig Herzblut reingesteckt, soweit ich das
mitbekommen habe.“ griff Karla den Faden nach einer Weile wieder
auf. „Dein Sitzfleisch dabei bewundere ich noch heute. Wo hast
Du bloß die Motivation dafür her genommen?“ -“Die Schrift hat
mich von Beginn an fasziniert. Mein allererster Kontakt mit
Chinesisch war ein Kurs in klassischem Chinesisch, den ich während
meines Studiums nebenher belegt hatte. Eine reine Schriftsprache,
meist weiß man kaum, wie sie mal ausgesprochen wurde, ähnlich wie
Latein oder Altgriechisch bei uns in Europa. Mich fesselte es, die
Denkweisen, Strukturen und Rhythmen zu entdecken, die in der Schrift
und den alten Texten zum Vorschein kamen. Als ich dann viel später
mit dem modernen Chinesisch anfing, bin ich erst gar nicht auf die
Idee gekommen, dass man diese Sprache lernen könnte, ohne sie zu
schreiben. Ich kann mir die Zeichen nicht einprägen, ohne sie
eigenhändig zu Papier zu bringen, das Lesen konnte ich daher nur
über das Schreiben lernen.“ Anna musste stehen bleiben, um zu Atem
zu kommen.
„Bei mir war es genau anders herum, erst die
gesprochene Sprache, dann Lesen soviel wie nötig und Schreiben, na
ja, so wenig wie möglich eben.“ Auch Karla hielt inne und wandte
sich Anna zu „Ja, bei den meisten Westlern läuft es wohl so…“
japste die. „Wenn sie nicht gerade Sinologen sind… Aber Du hast
schon recht… Mittlerweile habe ich so viel Herzblut in diese
Sprache hinein gesteckt, dass ich den Gedanken nicht ertrage, alles
wieder zu vergessen. Sie ist mir buchstäblich ans Herz
gewachsen.“
„Schau, der Baumstamm da kommt wie gerufen. Lass
uns eine kleine Trinkpause einlegen.“ schlug Karla vor, als sie
sah, wie sehr Anna außer Puste war. „Gute Idee!“ gab Anna zu und
ließ sich erleichtert auf den Stamm plumpsen, der am Saum der
Forststraße auf seinen Abtransport wartete. Auch Karla fand darauf
Platz.
„Die
Gespräche mit unserer Praktikantin waren der berühmte Tropfen, der
das Fass schließlich zum Überlaufen brachte.“ fuhr Anna fort,
nachdem ihr erster Durst gestillt war. „Ich habe mich daraufhin in
der Stadt nach Unterrichtsmöglichkeiten umgeschaut und hatte
Glück. Unweit meiner Arbeitsstelle gibt es ein Institut für
Übersetzer und Dolmetscher, das auch Abendkurse für die
Allgemeinheit anbietet. Den Kurs für Leute mit weiter gehenden
Vorkenntnissen habe ich mittlerweile ausprobiert, der passt ganz gut
für mich. Und es sitzen da noch mehr Leute drin, die wie ich in
Deutschland ihr Chinesisch warm halten möchten. Ich glaube, ich
werde mich in den Kurs einschreiben.“ – „Also, irgendwie bist Du
schon verrückt, Anna!“ entfuhr es Karla da. „Ja, ich weiß!“
Anna lachte. „Du bist nicht die Erste, die mir das sagt… Aber ich
kann halt nicht anders, selbst wenn ich meine Freizeit besser in
Sport investieren sollte, wie ich gerade merke.“
„Hm, ein
Stück kann ich Dich ja verstehen.“ gab Karla nachdenklich zu.
„Andererseits, könnte es manchmal nicht besser sein, etwas los zu
lassen, wenn die Zeit dafür gekommen ist?“ – „Schon, nur wie
unterscheidet man zwischen dem, woran man fest halten sollte und dem,
was man besser loslässt? Zur Zeit habe ich nur mein Bauchgefühl als
Kompass, aber das lässt die Nadel leider ständig von Nord nach Süd
pendeln und wieder zurück.
Als ich in dem Kurs saß und merkte,
wie viel Freude es mir machte, die zugeschüttete Sprache wieder zu
aktivieren, war ganz sonnenklar, dass ich das weiter machen will. Zu
anderen Zeiten habe ich dagegen den Eindruck, über kurz oder lang
wird es mir zu viel werden, neben dem Job, dem wöchentlichen Pendeln
zwischen Stadt und Land und der Versorgung von Haus und Garten auch
noch den Sprachkurs zu besuchen.“
„Die Zeit für diese Entscheidung ist wohl noch nicht reif bei Dir.“ konstatierte Karla. „Früher oder später wird sie aber ohnehin fallen, sei es dass Du sie selber triffst, sei es dass das Leben sie für Dich fällt.“ Anna hob unschlüssig die Schultern. „An der Sicht ist viel Wahres dran…“ Sie legte den Kopf zur Seite. „Deine Entschiedenheit und Zielstrebigkeit hätte ich manchmal gerne, Karla. So vieles wäre dann leichter. – Zu warten bis das Leben Entscheidungen für einen trifft kann schmerzhaft werden…“ Anna verstummte nachdenklich. „Andererseits,“ fuhr sie nach einer Weile fort, „ist es nicht gerade Schmerz, der Entscheidungen Kraft verleiht?“ Karla stutzte und sah fragend zu Anna hinüber. „Was geht in Dir bloß vor, Anna!?“ brach es dann aus ihr heraus. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. „Da schimmert doch nicht etwa eine versteckte masochistische Ader in Dir durch? Warum sollte man warten bis es schmerzt, wenn man es in der Hand hat, sich vorher anders zu entscheiden?“ Ironie und Fragezeichen rangen in Karlas Worten miteinander und Anna wusste zunächst nicht, wie sie darauf antworten sollte.
„Auf
dieser Forststraße, an der wir jetzt sitzen, bin ich zuletzt mit
einer Frau gewandert, mit der mich seit meiner Jugend eine tiefe
Freundschaft verband.“ fuhr sie nach einiger Zeit fort. „Bis das
Leben entschied, dass diese Freundschaft keine Zukunft hat…“
Karla
merkte, dass Anna das Erzählen schwer fiel, als wäre etwas in ihr
aufgewühlt worden. Sie stand auf. „Komm Anna, lass uns weiter
gehen, bevor wir uns hier völlig fest quatschen! Und hat der
Wetterbericht im Autoradio vorhin nicht auch etwas von gegen Abend
zunehmender Gewitterneigung gebracht?“ versuchte sie, Anna
abzulenken. „Hm, das muss mir wohl entgangen sein.“ murmelte Anna
überrascht.
Schnell waren die Getränke in den Rucksäcken
verstaut und kurz darauf schritten beide mit neuer Energie
nebeneinander her. Das Gehen schien Annas Zunge jedoch noch mehr
zu lösen.
„Wenn ich es recht überlege, ist es Maria zu
verdanken, dass ich überhaupt eine Chance hatte, nach meiner
Rückkehr aus China in meiner alten Heimat wieder neu anzufangen.“
knüpfte sie nun wieder an, während Karla sich zunehmend wunderte,
welche Wendung das Gespräch zu nehmen begann.
„Sie war all die
Jahre und Jahrzehnte seit meinem Weggehen von hier diejenige gewesen,
über die ich eine lockere Verbindung hierher aufrecht erhalten habe.
Klar, anfangs haben auch meine Eltern noch hier gelebt, aber nach
ihrem Tod wäre unwiderruflich Schluss für mich gewesen, wenn Maria
nicht etwas am Leben erhalten hätte, was mich immer wieder gerne
herkommen ließ.
Maria war eine gute Generation älter als ich,
aber das schien mir in jener Zeit kaum eine Rolle zu spielen, ich
blendete es einfach aus. Wir sind viel zusammen gewandert und haben
dabei über Gott und die Welt diskutiert. Gelegentlich konnte ich ihr
bei ihren Projekten helfen und ab und zu besuchte sie mich in der
Stadt in die ich gezogen war. Viel von dem, was ich in meiner
Kindheit daheim schmerzlich vermisst hatte gab sie mir ungefragt,
einfach so. Nur manchmal hatte ich den Eindruck, als ginge es ihr
dabei nicht nur um die Freundschaft zu mir. Damals konnte ich mir
aber keinen Reim auf diesen Eindruck machen. Aus irgend einem Grund
schien sie ganz bewusst dazu beitragen zu wollen, dass ich eine
Verbindung zu meiner alten Heimat aufrecht erhalte. Fast als
spürte sie, dass ich mehr als bereit war, etwas von mir weg zu
stoßen, das einen unersetzlichen Verlust für mich bedeutet hätte…
Wenn ich zu mir selber ehrlich bin, muss ich ihr aus heutiger Sicht
da recht geben.“
Aus Karlas Blicken sprach Skepsis „Ich stamme
ja auch aus so einem Kuhdorf. Aber ich weine dem keine Träne nach,
ganz bestimmt nicht! Gut, meine Eltern und meine ältere Schwester
samt Familie leben noch dort, ich könnte also nie auf meine ganz
eigene Weise neu anfangen, so wie Du hier. Aber selbst wenn meine
Umstände eher wie die Deinen wären, bin ich mir sicher, dass dieses
Dorf ein abgeschlossenes Kapitel für mich ist.“
Anna lachte.
„Ja, typisch Karla! Schwarz oder Weiß!“ – „Wenn ich mir nur
vorstelle, in mein Herkunftsdorf ziehen zu müssen, bekomme ich schon
Beklemmungen…“ Karla schüttelte sich. „Das Gefühl kenne ich
aber auch nur zu gut.“ Anna nickte. „Es ist noch gar nicht so
lange her, dass es mir ebenso ging. Nie hätte ich damals für
möglich gehalten, dass sich das so radikal ändern kann. Eine
Erfahrung, die ich um keinen Preis missen möchte… Aber einen
Preis, den hatte sie wirklich…“
Unvermittelt
verlief der Weg nun flach und als der Wald sich ein paar Schritte
weiter lichtete, gab er den Blick auf einen runden, aus rotem
Sandstein gemauerten Turm frei. Sie waren auf dem Berggipfel
angekommen, den sie als Ziel ihrer Wanderung ausgesucht hatten. Neben
dem Eingang des Turmes gab es eine Tafel, die einen umfassenden
Panoramablick von oben versprach. Das war nicht zu viel versprochen,
wie Anna und Karla einhundert zwanzig Stufen später, Karla hatte
genau mitgezählt, schwitzend und nach Luft ringend feststellten.
In
drei Himmelsrichtungen erstreckten sich schwarz grün bewaldete
Bergketten, durchzogen von sanften, mit Städtchen und Dörfern
getupften Tälern unter einem makellos blauen Himmel. Nach vorne hin
dehnte sich die Ebene bis der Blick an einem weiter entfernten
Gebirge hängen blieb. Und darüber thronte sie himmelhoch, eine
grauweiße Gewitterfront, schwere, dicht gedrängte Wolkentürme,
einer dicker als der andere. „Der Wetterbericht hatte wohl recht.“
meinte Anna. „Hoffentlich hält das noch eine Weile.“ Karla
schien unwohl bei dem Anblick. „Ich glaube schon.“ meinte Anna.
„Wir sollten uns auf dem Rückweg auf keine Umwege einlassen und
nicht so ausgiebig rumtrödeln, wie wir das ursprünglich vor hatten.
Aber wenn wir einigermaßen zügig gehen, sollten wir es trockenen
Fußes zum Auto schaffen können ohne rennen zu müssen.“ – „Na
hoffentlich hast Du recht.“ Karla schien nicht ganz überzeugt zu
sein. „Komm, dann lass uns hier nicht lange rumstehen, so schön es
auch ist.“ lenkte Anna ein und begann, die Wendeltreppe wieder
hinunter zu steigen.
„Was meintest Du vorhin denn mit dem
Preis, den Deine Erfahrung mit Maria und Deinem Dorf Dich gekostet
hat?“ fragte Karla einige Zeit später. Wider Erwarten wollten ihr
Annas Worte nicht aus dem Kopf gehen. „Seit ich begann, mich für
China zu interessieren, hatte ich den Eindruck, dass Maria diese
Entwicklung auf eine unterschwellige Weise zu schaffen machte, die
sie aber nie offen ansprach.“ fuhr Anna daraufhin fort. „Offenes
Interesse und hartes Abblocken konnten bei ihr manchmal so abrupt
ineinander umschlagen, dass ich nicht wusste, ob ich nun etwas
darüber erzählen oder besser ein anderes Thema anschlagen sollte.
Das Ganze kam mir sonderbar vor, aber viel mehr dachte ich mir
zunächst nicht dabei.
Als ich sie nach der Rückkehr von meiner
ersten China-Reise dann einmal besuchte, hatte ich in den ersten
Augenblicken unseres Wiedersehens den schwer greifbaren Eindruck,
dass sie mich ängstlich musterte wie jemanden, der sich eine
ansteckende Krankheit eingefangen hat. Ein beklemmendes Gefühl,
das mich zum ersten Mal stutzig machte. Und als ich ihr später
eröffnete, dass ich vor hatte für ein ganzes Jahr nach China zu
gehen, versuchte sie sofort, es mir auszureden. Zwar mit
fadenscheinigen Begründungen, dafür aber um so
energischer. Sie merkte jedoch schnell, dass sie damit auf taube
Ohren stieß und gab schließlich auf.
Ich war überrascht und
enttäuscht von ihrer Reaktion. Gerade von ihr hatte ich mir mehr
Verständnis erhofft und hakte mehrfach bei ihr nach. Aber
da kam nicht viel, sie wich aus und irgendwann machte sie bei dem
Thema einfach dicht. Mir blieb am Ende nichts anderes übrig, als das
hin zu nehmen.“
„Vielleicht
hatte sie Angst, dass sie Dich verliert, konnte sich das aber nicht
eingestehen?“ rätselte Karla. „Möglich… Rückblickend kommt
es mir so vor, als hätte sich ab jenem Zeitpunkt so etwas wie diese
Gewitterfront, die wir eben vom Turm aus gesehen haben, über unserer
Freundschaft zusammengebraut. Im Hintergrund war eine stetig
zunehmende Spannung spürbar, die es vorher nicht gegeben hatte. Mir
dämmerte, dass wir langsam aber sicher auf einen Konflikt zu
drifteten, aber was tun? Letztlich blieb die Situation bis zum Start
in mein China-Jahr in der Schwebe hängen.“
„Und wie hat sie
reagiert, als Du dann wieder zurück gekommen bist?“ – „Da war
sie diejenige, die mich vom Bahnhof abgeholt hat. Die
ersten paar Tage wohnte ich sogar bei ihr, sie bekochte und umsorgte
mich als wäre sie meine Mutter.“ – „Von einem Extrem ins
Andere…“ bemerkte Karla. „Ja, ich war von diesem Empfang
überwältigt und nahm ihre Gastfreundschaft im Glauben an, dass sich
früher oder später genügend Gelegenheiten ergeben würden, bei
denen ich mich revanchieren konnte. Das war früher ja nicht anders
gewesen. Außerdem war ich so voll von meinen Erlebnissen, dass
ich zu keinem klaren Blick auf die Situation fähig war.
Kaum war
ich aber in mein Haus gezogen, wurde die alte Spannung wieder
spürbar, intensiver als je zuvor, jedoch genau so ungreifbar. Und
wieder gab es Situationen, in denen ich mich von ihr gemustert
fühlte, als wäre aus mir ein Alien geworden.
Kleine
Missverständnisse passierten, häuften sich, wurden schwerwiegender.
Mal kam sie abends, obwohl wir mittags verabredet waren. Ein anderes
Mal bat sie mich, bei ihr vorbei zu kommen um ihr mit dem Computer zu
helfen. Als ich dann bei ihr klingelte fragte sie überrascht,
was ich jetzt schon wieder bei ihr wolle, sie hätte erst morgen mit
mir gerechnet. Sie zog an mir und schubste mich weg, immer
abwechselnd heiß oder kalt.“
„Sie
war doch schon älter, oder?“ fragte Karla. „Vielleicht machte
sie das Alter langsam wunderlich?“ – „Auch möglich… Ich hatte
jedoch eher den Eindruck, dass sie an mir Veränderungen wahrnahm,
die ihr aus einem Grund Angst machten, den ich bis heute nicht
verstehe. Und dass das Wegfallen der gewohnten Entfernung, die mein
Einzug in mein Elternhaus für uns beide bedeutete, ihre Angst noch
steigerte. Also beschloss ich, etwas mehr Abstand zwischen uns
herzustellen, begann, die Zeit zwischen unseren Treffen so lang wie
möglich auszudehnen und versuchte, mich mehr auf meine Jobsuche zu
konzentrieren.“
„Was für eine Hängepartie!“ Karla
verdrehte die Augen. „Zu dem Zeitpunkt zog sich das also schon
Jahre hin! Hast Du denn nie erwogen, einmal einen klaren Schnitt zu
machen und ihr zu eurer beider Erlösung die Freundschaft
aufzukündigen?“
Anna atmete tief durch. „Letzten Endes habe
ich genau das getan. Aber im Gegensatz zu Dir musste ich erst durch
das Gewitter hindurch, bis ich diese Entscheidung fällen konnte.“
– „Hab‘ ich’s doch geahnt…“ unkte Karla ironisch.
„Jenes
Gewitter hat aber nicht lange auf sich warten lassen.“ fuhr Anna
fort. „An einem kalten Novembermorgen fand ich unverhofft einen
dicken Brief von Maria in meinem Briefkasten. Er war unfrankiert, sie
hatte ihn bei Nacht und Nebel eingeworfen, ohne bei mir zu klingeln.
Das verhieß nichts Gutes. Aber auf die unglaublichen Vorwürfe und
Schuldzuweisungen, die sie seitenlang in dem Brief
ausgebreitet hatte, war ich dennoch nicht gefasst. Angefangen mit dem
Tag, an dem sie mich am Bahnhof abgeholt hatte, listete sie eine
Situation nach der anderen auf, in der ich mich ihrer Meinung nach
falsch verhalten hatte und deutete das Ganze zu einem Geschehen um,
dass ich kaum wieder erkennen konnte. Wie um dem Ganzen die Krone
aufzusetzen forderte sie am Schluss des Briefes auch noch eine
Entschuldigung von mir.
Mir wurde schlagartig übel, alles drehte
sich. Es war, als hätte mir jemand von vorne ein Messer in den Bauch
gerammt und dreimal umgedreht. Der Schmerz ging über alles hinaus,
was ich mir hatte vorstellen können.
Erst drei Tage später war
ich in der Lage zu reagieren und schrieb ihr ebenfalls einen Brief.
Darin verwahrte ich mich nur kurz und knapp gegen ihre Vorwürfe und
Forderungen, ging aber im Detail nicht darauf ein, dafür waren sie
einfach zu absurd. Ich beschloss den Brief mit dem Vorschlag, den
Kontakt mit offenem Ausgang für eine längere Bedenkzeit auf Eis zu
legen.“
„Ja bist Du denn von allen guten Geistern
verlassen!?!“ Karla konnte es nicht fassen. „Was muss denn noch
passieren, bis Du endlich kapierst, wann Schluss ist und die
Reißleine ziehst?“ „Ein dreiviertel Jahr passierte erst mal gar
nichts. Von ihr kam keine Antwort und ich ließ es auf sich beruhen.
Es gab in jener Zeit genügend Herausforderungen zu bewältigen, die
mich in Atem hielten. So konnte ich die Angelegenheit leichter
ertragen.
Erst
vor ein paar Wochen, als es im Job einfacher für mich zu werden
begann, ging sie mir wieder öfter durch den Kopf. Ich spürte, ganz
fertig war ich mit dem Thema noch nicht, aber ich war reif, eine
Entscheidung herbei zu führen.
Ich schreib ihr einen Brief, in
dem ich ihr anbot, sich bei passender Gelegenheit zu treffen um eine
Verständigung zu versuchen. Ich ließ aber auch durchblicken, dass
ich die Beziehung nicht um jeden Preis fortsetzen würde.“ – „Na,
das hat aber gedauert!“ seufzte Karla. „Und was ist am Ende dabei
heraus gekommen?“ – „Sie hat geantwortet. Aber sie wiederholte
nur ihre alten Forderungen und im Kern war sie völlig
unnachgiebig. Es war absurd und so sinnlos. Nachdem der
Schmerz der ersten Enttäuschung abgeklungen war, konnte ich diese
Wahrheit endlich annehmen. Ich schrieb ihr einen endgültigen
Abschiedsbrief. Und der war dann eine wirkliche Erlösung für mich.
Als ich ihn ins Innere des Briefkastens plumpsen hörte fiel mir ein
ganzer Steinbruch vom Herzen und ich wusste, jetzt ist es gut und es
ist vorbei.
Heute
kann ich ohne Groll an Maria zurückdenken, wenn ich auch vieles von
dem, was passiert ist, immer noch nicht verstehe. Auch der Schmerz
ist abgeklungen. Ich glaube, diese Haltung wäre mir nicht möglich,
wenn ich dem Gewitter ausgewichen wäre, anstatt mitten durch das
ganze Drama hindurch zu waten.“ – „Das kann ich zumindest
nachvollziehen, auch wenn ich mich wahrscheinlich viel eher zu einer
Trennung entschlossen hätte als Du.“ gab Karla nun zu.
„Was
ich aber immer noch nicht kapiere ist, was diese Geschichte mit der
Frage zu tun hat, ob Du nun den Chinesisch-Abendkurs besuchen sollst
oder nicht?“ setzte sie nach.
Anna zögerte. „Ich hab‘
das Gefühl, mit dieser Sprache geht es mir letztlich wie mit Maria.“
erwiderte sie. „Es müsste erst sehr dick kommen, bevor ich sie
wirklich loslassen könnte.“ Nachdenklich heftete Karla ihren Blick
auf den Weg vor ihren Wanderstiefeln. „Für Dich scheint die
Sprache eine völlig andere Bedeutung zu haben als für mich, soviel
habe ich jetzt glaube ich doch verstanden.“ sagte sie dann.
„Ja,
mag sein dass das verrückt ist…“ Anna hatte ihre gute Laune
wieder gefunden. „Aber es ist nun mal was es ist…“ lächelte
sie verschmitzt.
In
der letzten Zeit hatten die beiden kaum Notiz von der Umgebung
genommen, die sie durchwanderten, so sehr waren sie in ihr Gespräch
vertieft gewesen. Daher war ihnen auch entgangen, wie über ihnen die
Gewitterwolken langsam aber sicher den Himmel eroberten.
Nicht
mehr allzu weit von Annas Auto entfernt, ließ ein unerwartetes
Donnergrollen sie schließlich doch einmal hoch blicken. Der Schreck
fuhr ihnen in die Glieder. Unwillkürlich begannen sie zu rennen, so
schnell sie nur konnten. Das Gewitter schien es wirklich wissen zu
wollen. Schon bald darauf fielen die ersten Tropfen und um sie herum
begannen Windböen mit zunehmender Kraft an den Bäumen zu rütteln.
Endlich kam der Wagen in Sicht und sie erreichten ihn im letzten
Augenblick. Als das Unwetter mit voller Gewalt losbrach, konnten sie
gerade noch rechtzeitig die Autotüren hinter sich zu ziehen. An ein
Wegfahren war zunächst jedoch nicht zu denken. Wohl oder übel galt
es abzuwarten, bis der erste Ansturm des Gewitters vorüber gezogen
war. Sie konnten nur hoffen, dass dort, wo sie im Auto gefangen
saßen, kein Baum niederstürzen würde.
Das
Ganze dauerte nicht allzu lange, aber die Minuten, die sie inmitten
des Hexenkessels aus prasselndem Regen, zuckenden Blitzen,
Sturmböen und Donnerschlägen ausharren mussten, dehnten sich zu
einer Ewigkeit.
Nachdem das Unwetter endlich weiter gezogen war,
wich der prasselnde Regen einem leichten Nieseln und der Himmel
hellte sich auf. Anna kurbelte das Fenster herunter und ließ die
kühle, feuchte Luft herein strömen. Erleichtert atmeten beide tief
durch.
„Puh, das war aber nicht von schlechten Eltern!“ Karla
war die erste, die wieder Worte fand. „Ich hab‘ Hunger.“ stellte
Anna fest.
Durch das Tor
Tiefe Stille herrschte im Haus. Nur ab und zu war das leise Fahrgeräusch eines Autos zu hören, das draußen durch die kleine Wohnstraße glitt. Anna wandte sich vom Fenster ab. Die Anspannung der letzten Wochen hatte ein Rauschen in ihren Ohren hinterlassen, das sie nun erst wahrnahm. „Die Zeit ist reif…“ dachte sie, während ihr Blick zum wiederholten Mal über den Koffer, den Rucksack und die Umhängetasche glitt, die fertig gepackt neben der Zimmertür warteten.
Seit der Rückkehr von ihrer letzten China-Reise Anfang September war alles Schlag auf Schlag gegangen: die Kündigung ihrer Stelle, die vielen Überstunden, die ihr Chef unter Verweis auf ihr noch ausstehendes Arbeitszeugnis von ihr einforderte, das Abarbeiten der Vorkehrungen, die bei unzähligen Ämtern und Versicherungen, den Banken und anderen Stellen für den langen Auslandsaufenthalt zu treffen waren, der Transport eines ersten Teils ihrer Habseligkeiten aus der Stadtwohnung in ihr Häuschen, die Abschiedstreffen mit Freunden und Bekannten, die Wohnungsauflösung und schlussendlich der Möbeltransport hierher, der beinahe noch schief gegangen wäre. Sie hätte vielleicht nicht das billigste Umzugsunternehmen mit der Sache beauftragen sollen.
Wohl
waren die Möbelpacker wie vereinbart zur Stelle gewesen und hatten
die Verladung der Sachen in den Lastwagen zügig erledigt. Guten
Mutes schloss Anna die nun leere Wohnung ein letztes Mal hinter sich
zu und hinterlegte ihre Schlüssel beim Hausverwalter. Sie genoss die
klare Luft und das milde Licht der Dezembersonne, während sie sich
auf ihrem Weg zum Bahnhof durch das Menschengewimmel der Stadt
bewegte. Gehörte sie hier jetzt nicht mehr dazu? Würde sie das
alles hier wieder sehen?
Später, als der Zug sich langsam aus der
Bahnhofshalle hinaus schob, blieb ihr Blick an der ästhetisch
geschwungenen Stahlkonstruktion kleben. Während die schwarz grau
über den Gleisen schwebenden Torbögen mit zunehmender Entfernung
immer enger zueinander rückten, begann sich ihr Kehlkopf zu einem
harten Kloß zusammen zu ziehen. Erst lange nachdem die Stadt in
einem dunklen Punkt am Horizont verloren gegangen war, begann er sich
schmerzhaft zu lösen. Anna kämpfte mit den Tränen und war froh,
dass die Bahnfahrt zurück in das Dorf, aus dem sie vor vielen Jahren
einmal aufgebrochen war, mehrere Stunden dauerte. Sie brauchte die
Verschnaufpause dringend.
Am
Tag der geplanten Wiederanlieferung wartete Anna vergebens auf
den Möbelwagen. Da Anna ihre Telefone alle gekündigt hatte, hatte
sie dem Umzugsunternehmen die Telefonnummer ihrer Nachbarin als
Kontaktadresse für den Notfall gegeben. Aber auch dort meldete sich
niemand. Stunden nach der vereinbarten Lieferzeit gelang es Anna
endlich, den Chef zu erreichen, der aber von keinen
Unregelmäßigkeiten wusste. Immerhin versprach er, am Abend seine
Fahrer zu kontaktieren und vertröstete Anna auf den nächsten
Tag.
Am nächsten Vormittag berichtete er, die Fahrer seien am
Vortag zwar in Annas Dorf gewesen, aber sie hätten das Haus nicht
finden können, weil angeblich weder Annas Straße und Hausnummer
noch die Telefonnummer der Nachbarin in ihren Papieren gestanden
hätte. Und da das Dorf zu groß war, um sich mit Durchfragen zu
versuchen, waren sie einfach zum nächsten Lieferort ein paar hundert
Kilometer weiter gefahren, wo sie am selben Tag noch ein Klavier
abzuliefern hatten.
Anna hatte es für einen Moment die Sprache
verschlagen. „Und wie lange dauert es jetzt noch, bis sie wieder
hier sind?“ wollte sie dann vom Chef wissen. „Also heute fahren
die nicht mehr zu Ihnen!“ stellte der mit einer Bestimmtheit fest,
als sei das alles selbstverständlich. „Die sind jetzt schon wieder
auf dem Rückweg!“ – „Wie bitte?“ Anna starrte entgeistert den
Telefonhörer an. „Übermorgen fliege ich für ein Jahr nach China!
Was wollen sie dann mit meinen Sachen machen? In den Fluss kippen
vielleicht?“ schrie Sie mit sich überschlagender Stimme in die
Sprechmuschel. Einige Augenblicke herrschte Schweigen in der Leitung.
„Ähm… Ja wenn es so ist… Äh… Ich muss sehen was sich machen
lässt… Warten Sie auf meinen Rückruf… Bitte beruhigen Sie
sich!“ drang es dann verdattert an Annas Ohr, als ob es dem Chef
erst jetzt langsam dämmerte, was er da gerade anrichtete.
Anna
blieb nichts anderes übrig als neben dem Telefon sitzen zu bleiben.
Nichts passte zusammen an dieser seltsamen Geschichte, die ihr soeben
aufgetischt worden war. Was bedeutete das alles? War sie auf
betrügerische Machenschaften hereingefallen, die sie nicht
durchschaute? Sollte sie besser gleich die Polizei anrufen? Oder
steckte wirklich nur Dummheit in einem Ausmaß, das ihr
Vorstellungsvermögen sprengte, hinter dieser Pannenserie?
Eine
Stunde später schreckte Telefonklingeln Anna aus ihren Grübeleien.
Die Fahrer seien umgekehrt, ließ der Chef nun ausrichten. Aber es
würde wohl Nachmittag werden, bis seine Leute von da aus, wo er sie
gerade noch erwischt hatte, wieder in Annas Dorf kämen. Anna atmete
auf. Später aber kehrten die Zweifel zurück und sie schwankte
stundenlang zwischen Misstrauen und Erleichterung hin und her. War
das nur ein weiterer Trick um sie hinzuhalten? Was wollte der Chef
vor ihr verschleiern? Konnte es sein, dass der Traum, auf dessen
Verwirklichung sie mehr als zwei lang Jahre hingearbeitet hatte, nun
wegen einer üblen Posse zerplatzte wie ein Luftballon in den jemand
mit einer Nadel hinein stach? Wie konnte sie von diesem Dorf aus, in
dem sie momentan ohne Telefon und PKW fest saß, ihren Flug nach
Peking umbuchen?
Als der Transporter gegen vier Uhr endlich wohlbehalten vor ihrem Haus hielt, war sie selbst ein nervliches Wrack. Völlig neben sich stehend schaute sie sich selbst dabei zu, wie sie die Möbelpacker mit den Sachen hierhin und dorthin dirigierte, Kisten schleppte und am Ende die Lieferpapiere gegenzeichnete. Erst am späten Abend, nachdem sie geistesabwesend einige Möbelstücke herum geschoben und ein paar Sachen aus den Kisten heraus gekramt hatte, konnte sie langsam glauben, dass sie nicht träumte und die Anspannung begann, von ihren Schultern zu gleiten.
Es
war Anna entgangen, dass eines der Autos draußen nicht vorbei
geglitten sondern vor ihrer Hofeinfahrt zum Stehen gekommen war. Das
Klingeln der Türglocke fuhr ihr bis ins Knochenmark und legte
dort einen Hebel um. Noch während sie ich in Bewegung setzte
löste sich eine unbändige Kindervorfreude aus Annas Innerstem,
ließ sie zur Treppe rennen, perlte empor, ließ Anna die letzten
Stufen alle auf einmal hinunter springen, schäumte über in ein
strahlendes Lachen und ließ den verdutzten Taxifahrer für
einen Moment zögernd im Rahmen der Haustür verharren, die nach
einem deutlich vernehmbaren Plumpsen soeben schwungvoll vor seiner
Nase aufgerissen worden war.
Während des Fluges ging Annas
Vorfreude allmählich in eine wohlige Zufriedenheit über, wie Anna
sie selten an sich erlebt hatte. Zu ihrem Erstaunen klang
diese Stimmung nur langsam ab und auch der Pekinger Winter, der
Anna beim Verlassen des Flughafens in Empfang nahm, konnte sie nicht
vertreiben. Anna wärmte sich an ihr, wann immer sie sie spürte und
ließ sich von ihr durch die ersten Wochen tragen.
Diesmal war es eine Thailänderin, mit der sie sich an der Uni die zwölf Quadratmeter ihres Studentenzimmers teilte. Gong wohnte schon über ein Jahr in diesem Zimmer, war mit einunddreißig deutlich älter als die meisten ostasiatischen Studentinnen und zu ihrem großen Kummer immer noch nicht verheiratet. Sie schob es auf ihr für Anna unsichtbares Übergewicht und war ohne Unterlass mit Beschaffung und Zubereitung von Nahrung beschäftigt, die sie beim Abnehmen unterstützen sollte. Jeglicher Stauraum in Gongs Zimmerhälfte war bis auf den letzten Kubikzentimeter mit Kochgerät, Vorräten und Krimskrams vollgestopft. Wann immer sie etwas davon benutzen wollte, musste sie zuerst räumen und wühlen, bis sie fand was sie brauchte. Die spartanische Leere, die Annas Zimmerhälfte auch nach dem Einräumen ihrer Siebensachen noch ausstrahlte, bildete dazu einen auffälligen Kontrast.
Das
Wohnheim war nicht darauf eingerichtet, dass die Bewohner sich ihr
Essen selbst zubereiteten. Es standen weder Küchen noch
Kochnischen dafür zur Verfügung. Auf den Zimmern waren kleine
Kühlschränke, Wasserkocher und ein Fernseher erlaubt. Was darüber
hinaus ging war jedoch verboten, um Überlastungen des Stromnetzes
und die dadurch entstehende Brandgefahr zu vermeiden.
Es gab
etliche Studenten, die sich wie Gong darüber hinweg setzten. Sie
alle mussten im Foyer unten täglich mit Tüten voller Lebensmittel
am Tresen der Wohnheimmanagerin vorbei gehen. Das konnte nur heißen,
dass diese resolute aber meist freundliche Dame für Nebeneinkünfte
durchaus aufgeschlossen war, zumindest solange sich niemand
beschwerte und nichts passierte.
Anfangs hatte Anna befürchtet, dass Gongs Kocherei sich im eng begrenzten Raum des Wohnheimzimmers bald zu einem handfesten Konflikt auswachsen würde. Wenn Anna nach dem Mittagessen zurück ins Zimmer kam, kündete jedoch nur noch ein Hauch von Essensduft, der im soeben gelüfteten Raum hängen geblieben war, von Gongs Aktivitäten. Gong selbst tauchte meist erst gegen Abend wieder auf, schwer bepackt mit Einkaufstüten. Trotz ihres fortgeschrittenen Lebensalters schien sie kindlich geblieben zu sein, wie Anna bald feststellte. Ihr zweitwichtigster Lebensinhalt waren Freud und Leid der jugendlichen Hauptdarsteller ihrer Lieblingsserie. Wenn das Fernsehen abends die synchronisierten und mit chinesischen Untertiteln versehenen Folgen der koreanischen Seifenoper in Endlosschleife ausstrahlte, klebte sie stundenlang mit Glanz in den Augen und Kopfhörern auf den Ohren davor. „Auch eine Möglichkeit, Chinesisch zu lernen…“ dachte Anna dann, während sie sich am anderen Ende des Zimmers über ihre Bücher beugte.
An
den alltäglichen Abläufen auf dem Campus hatte sich seit Annas
letztem Aufenthalt im vergangenen August nicht viel geändert. Nur
das Hauptgebäude der Uni war verschwunden. Wo es einst gestanden
hatte, kündete nun eine gigantische, weiträumig abgesperrte
Baugrube von der Dimension des Protzbaus, den man bis zum Spätsommer
hier errichten wollte. Wie zum Ausgleich war die Kanalbaustelle, die
im Sommer die Durchgangsstraße an der Westseite des Uni-Geländes
auf mehreren Kilometern Länge unpassierbar gemacht hatte, unter
einer neuen Straßendecke verschwunden.
Und doch waren diese
Winterwochen eine neue Erfahrung für Anna. Das erste Mal im Leben
war es ihr möglich, alles um sich herum los zu lassen und sich in
einer Beschäftigung zu versenken, die vom Hobby zur Leidenschaft
geworden war. Anfangs ertappte sie sich wiederholt dabei, wie sie
ungläubig in ihren Kalender schaute, um abzuschätzen, wie viele
Wochen ihr noch blieben, bis dieser „Urlaub“ wieder vorbei sein
würde.
Es dauerte eine Weile, bis ihr Innerstes begriffen
hatte, dass sie die kostbare Zeit für ihre Lieblingsbeschäftigung
nun nicht mehr in einzelnen Stundenintervallen aus einem mit
beruflichen und sonstigen Verpflichtungen voll gepackten Alltag
heraus quetschen musste. Aber dann entspannte sie sich zusehends und
begann, sich immer unbekümmerter mit dem Unterrichtsstoff voll zu
saugen wie ein ausgedörrter Schwamm, der endlich seinen Weg ins
Wasser gefunden hatte.
Weihnachten kam und verging, ohne dass Anna viel Notiz davon genommen hätte. Weder für die Chinesen noch für die anderen Ostasiaten hatte dieses Fest eine Bedeutung. Sie kannten es und in einigen der großen Kaufhäuser gab es unglaublich kitschige Weihnachtsdekoration zu kaufen. Am ersten Weihnachtstag fehlten die meisten westlichen Studenten im Unterricht, das war auch schon alles, was man auf dem Campus von Weihnachten mitbekam. Für Anna erschöpfte sich die Beschäftigung damit in ein paar Telefonaten mit Freunden und Verwandten daheim in Deutschland. Der im Westen übliche monatelange Weihnachtsrummel war ihr in den letzten Jahren ohnehin nur noch angewidert. Diese Uni hier schien ein idealer Ort zu sein, wenn man dem entfliehen wollte. Ähnlich lief es an Silvester und Neujahr.
Und danach nahm der Pekinger Winter die Stadt mit Temperaturen bis minus achtzehn Grad und einem kräftigen Nordwestwind erst so richtig in die Zange. Die Menschen reduzierten ihre Ausflüge nach draußen auf ein Minimum und wenn sie doch einmal vor die Tür mussten, stach der staubtrockene Steppenwind ihnen mit winzigen Eisnadeln in die Wangen. Während er nachts heulend durch die Hochhausschluchten fegte, verwandelte er die Erde zu Staub und dörrte die Vegetation so gnadenlos aus, dass jegliche Farbe aus ihr entwich. Der Gegensatz zu dem feuchtheißen Sommermonsun mit seinen täglichen sintflutartigen Regengüssen, den Anna im August hier erlebt hatte, hätte größer kaum sein können.
Auch
Anna vermied Abstecher nach draußen so weit es ging. Nur einmal
machte sie sich in dieser Zeit auf, um in einem der neuen
Riesenkaufhäuser in der Innenstadt Bohnenkaffee samt einer Mühle
und Filter zu erwerben. Immer noch galt Kaffee in Peking als
exotisches Getränk, das fast nur von Ausländern konsumiert wurde.
In den großen Einkaufsstraßen gab es Starbuck’s Coffeeshops und auf
dem Campus verkaufte das Ausländerkaffee seinem sündhaft teuren
Coffee to Go. In den Kaufhäusern und Supermärkten der näheren
Umgebung suchte man jedoch vergeblich nach abgepacktem Kaffee und die
Utensilien, die man für seine Zubereitung brauchte, fehlten erst
recht.
Den entscheidenden Hinweis auf die Stecknadel im Heuhaufen
erhielt Anna schließlich von der Wohnheimmanagerin. In der
Lebensmittelabteilung des Kaufhauses angekommen war Anna freudig
überrascht, dort über fünfzehn Kaffeesorten sowie Mühlen und
Filter in verschiedener Ausfertigung im Angebot zu finden. Nichts
davon war billig, aber von guter Qualität. Wenn sie dagegen
rechnete, wie viel Geld sie für Coffee to Go auszugeben pflegte,
lohnte sich die Investition in kurzer Zeit.
Und so war es an
diesem Abend ausnahmsweise einmal Anna, die mit mehreren Kilo Kaffee,
einer elektrischen Mühle, einem Filterbecher und Filterpapier auf
Vorrat voll bepackt an der breit grinsenden Wohnheimmanagerin
vorbei durchs Foyer des Wohnheims ging.
Auf Annas Stockwerk zog
nachmittags nun öfters der Duft frisch gebrühten Kaffees über den
Flur. Und wenn Anna sich mit dem dampfenden Becher an ihren kleinen
Schreibsekretär setzte um sich in das tägliche Hausaufgabenpensum
zu stürzen, konnte sie hin und wieder die zufriedene Wärme spüren,
die sie seit ihrem Abflug aus Deutschland nicht mehr verlassen hatte.
Mauern
Der
Januar begann für Anna mit einem Erfolgserlebnis. Langsam und von
ihr zunächst unbemerkt hatte ihr nach wie vor ungebrochener
Lerneifer Früchte zu tragen begonnen. Und eines Tages gelang es ihr,
einen ersten kleinen Aufsatz auf Chinesisch zu verfassen. Als Thema
war die Frage: „Ist die Anwendung der Prügelstrafe in der Schule
gut für die Schüler?“ vorgegeben worden. Anna war über das Thema
zunächst erstaunt. War diese Frage nicht schon vor Jahrhunderten
abschließend beantwortet worden? Aber wie wirkte sie auf die anderen
Studenten?
Die Aufsätze der Studenten sollten am nächsten
Unterrichtstag als Aufhänger für eine Diskussion mit der ganzen
Klasse verwendet werden. Und das versprach spannend zu werden, gab es
in der Klasse doch Studenten aus Japan, Korea, Australien, den USA,
Italien und Deutschland. Bei der Vorbereitung fiel es Anna schwer,
ihre Aussagen in so schlichte Sätze zu verpacken, dass ihr
Chinesisch gerade noch ausreichte, um sie ausdrücken zu können. Sie
rang mit dieser Herausforderung bis spät in den Abend hinein, um
dann todmüde aber zufrieden ins Bett zu fallen.
Am
nächsten Morgen wurden die Aufsätze zunächst der Reihe nach
vorgelesen und von der Lehrerin sprachlich korrigiert. Zu einigen
sehr typischen Fehlern gab es außerdem detailliertere Erklärungen.
Je nach Muttersprache waren die Schwierigkeiten der Studenten ganz
unterschiedlich gelagert und Anna fand es spannend zu beobachten, wie
sich ihre Herkunftskultur in ihrem Umgang mit dem Chinesischen
spiegelte.
Den Japanern fiel das Lesen und Schreiben leicht, da in
ihrem Land eine ähnliche, teilweise noch kompliziertere Schrift im
Einsatz ist. Aber mit der Aussprache taten sie sich enorm schwer. Bei
den Koreanern lag der Fall eher umgekehrt. Während ihnen die
Aussprache kaum Probleme bereitete, brachten sie beim Lesen und
Schreiben nur ein Grundwissen mit, um das die Westler wiederum sie
aber nur beneiden konnten. Für letztere war die Schrift so etwas wie
eine chinesische Mauer im übertragenen Sinne, die sie jeden Tag aufs
neue zu erklettern hatten. Ging es jedoch darum, das bisher Gelernte
in gesprochene Sprache umzusetzen, so fiel es den Westlern meist am
leichtesten, ihre Gedanken auszudrücken und sich den anderen
mitzuteilen.
Die
Diskussion des Aufsatzthemas stand nach der Pause an und zur
Überraschung der Studenten gesellte sich zu Beginn ein weiterer
Lehrer zur Klasse. Er stellte sich als Forschungsdozent vor, der
sich auf die Erforschung der Auswirkungen verschiedener
Unterrichtsmethoden auf den Lernerfolg der Studenten
spezialisiert hatte. Er sagte, er sei sehr interessiert daran zu
erfahren, ob Prügelstrafen in den Herkunftsländern der Studenten
zum Einsatz kämen und was die Studenten davon hielten.
Wie so
oft, ergriff die Amerikanerin als erste das Wort. „Ich bin
selbst Lehrerin für Mathematik an einer Highschool“ begann
sie. „In den USA ist die Prügelstrafe in vielen Bundesstaaten noch
erlaubt und sie kommt auch zu Anwendung. In der Regel sind die Eltern
damit einverstanden.“ Anna war ein wenig schockiert, denn von der
Amerikanerin hatte sie eine solche Aussage nicht erwartet.
Der
Forschungsdozent wollte es genau wissen und fragte, wann die
Prügelstrafen vergeben und wie sie ausgeführt würden. „Meist
werden Schläge mit einem Brett oder Paddel verabreicht. Sehr beliebt
ist es auch, den Schüler zwischen einer Strafarbeit und den Schlägen
wählen zu lassen. Anlässe für die Prügelstrafe sind schwerere
Regelverletzungen wie unerlaubtes Verlassen des Klassenzimmers,
Hausaufgabenverweigerung oder ähnliche Missetaten.“ – „Hast Du
selbst auch schon Schüler geschlagen?“ wollte der australische
Student nun wissen. „Nein, noch nie. Zum einen komme ich aus einem
Bundesstaat, in dem die Prügelstrafe inzwischen verboten ist.
Außerdem halte ich persönlich auch nichts davon. Ich glaube, dass
es die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern belastet und den
Schülern dadurch mehr schadet als nutzt.“ Der Australier
nickte zustimmend. „Bei uns sind Prügelstrafen in der Schule im
ganzen Land verboten.“ fuhr er dann fort. „Aber es gibt
Eltern, die ihre Kinder zu Hause schlagen. Gott sei Dank habe ich
selbst so etwas nie erleben müssen“ schloss er
„So ist
es bei uns auch“ ergänzte Anna. „In der Schule ist das Prügeln
landesweit verboten, aber zu Hause schlagen viele Eltern ihre Kinder
nach wie vor.“
„Auch
bei uns ist die Prügelstrafe in der Schule offiziell verboten, aber
sie wird häufig eingesetzt, und das ist auch richtig so!“ meldete
sich unvermittelt die japanische Studentin zu Wort, um dann mit
Nachdruck zu ergänzen: „Das härtet die Schüler ab und
hilft ihnen, Selbstdisziplin zu entwickeln. Ohne Schläge werden sie
weich und lernen schlecht.“
Überrascht wanderten die Blicke der
anderen zu ihr hinüber. Weder japanische noch koreanische Studenten
pflegten in der Klasse aus eigenem Antrieb das Wort zu ergreifen. Sie
beantworteten die an sie gestellten Fragen, wenn die Lehrer sie
dazu aufforderten, um dann für den Rest der Unterrichtszeit wieder
zu verstummen.
Diese Japanerin war erkennbar älter als die
meisten Studenten der Klasse und dafür bekannt, dass sie sich mit
nichts anderem als dem Lernen beschäftige. Immer erschien sie
bestens vorbereitet zum Unterricht, aber auch in den Pausen sah man
ihre zierliche Gestalt mit dem zum Dutt hochgesteckten Haar und der
dick verglasten Hornbrille in ihre Bücher versunken im
Unterrichtsraum sitzen. In der Regel ignorierte sie ihre Umwelt
völlig und wurde nur nach Unterrichtsende aktiv, wenn sie mit
unterwürfigen Trippelschritten zu den Lehrern eilte, um diese mit
speziellen Fragen zum Unterrichtsstoff zu bestürmen. Davon abgesehen
schien sie keinerlei Kontakte zu pflegen, auch nicht zu dem anderen
japanischen Studenten in der Klasse.
Es war nicht zu übersehen,
dass die „japanische Jungfer“, wie Anna sie im Stillen getauft
hatte, von allen in der Klasse am schnellsten dazu lernte. Davon
abgesehen war sie für Anna jedoch ein Rätsel. „Wie eine alte Frau
beim Rosenkranz beten… Wenn ich so lernen würde, würde ich binnen
einer Woche durchdrehen… “ dachte sie manchmal, wenn sie aus der
Pause in den Unterrichtsraum zurück kam und die einsame Gestalt dort
vor sich hin murmelnd Vokabeln rezitieren sah.
„Bist
Du selbst von Deinen Lehrern geschlagen worden?“ wollte der
Forschungsdozent nun von der Japanerin wissen. „Natürlich!“
antwortete diese mit unverhohlenem Stolz im Unterton, um dann
nachzusetzen: „Mir hat es geholfen hart zu werden und deshalb bin
ich meinen Lehrern dankbar dafür dass sie mich geschlagen
haben.“
„Wie kann man stolz darauf sein, dass man geschlagen
wurde?“ Anna konnte sich gerade noch beherrschen, mit dieser Frage
nicht laut heraus zu platzen. Prügel als fragwürdige
Disziplinarmaßnahme zu diskutieren, das war eine Sache. Aber
Prügel als heilsame Kneippkur für Kinderseelen hin zu stellen, war
da die Grenze zur Perversion nicht schon längst überschritten? Auch
den anderen Westlern schien die unerwartete Kompromisslosigkeit, mit
der die Japanerin sich geäußert hatte, vorübergehend die Sprache
verschlagen zu haben und so herrschte einige Sekunden lang Schweigen
im Raum.
„Und
wie ist es an Deiner Schule?“ wandte sich die Lehrerin nun an einen
der Koreaner. „Bei uns ist es ähnlich wie in Japan.“ kam die
einsilbige Antwort.
„Da ich selbst Lehrerin bin, würde ich
gerne wissen, welche Haltung Sie beide zur Prügelstrafe haben.“
Wieder war es die Amerikanerin, die als erste Worte fand. Der
Forschungsdozent schaute verdutzt zur Lehrerin hinüber, als
hätte er nicht erwartet, dass Studenten die Lehrer nach ihrer
Meinung fragen könnten. Die schien mit einer solchen Situation aber
gerechnet zu haben. „In China wird die Prügelstrafe in der Schule
ebenfalls eingesetzt, an Universitäten ist sie jedoch nicht üblich.
Unsere Kultur ist in diesem Punkt der Kultur der Japaner und Koreaner
ähnlich. Aber mittlerweile gibt es bei uns einige Leute, die Zweifel
an dieser Methode haben und auch in der Öffentlichkeit wird das
Thema zur Zeit diskutiert.“ wich sie eloquent aus.
„Ist der Unterricht hier sehr verschieden vom Unterricht an typischen chinesischen Universitäten?“ wollte Anna nun von ihr wissen. Die Lehrerin überlegte einen Moment. „Wir müssen versuchen, allen Studenten gerecht zu werden und gehen Kompromisse ein. Die Unterrichtsmethoden hängen bei uns aber auch sehr vom einzelnen Lehrer ab, insbesondere davon, ob er schon Auslandserfahrungen sammeln konnte oder nicht.“ meinte sie dann. „Haben Sie selbst denn im Ausland studiert?“ fragte der Australier. „Ja, ich habe drei Jahre an einer amerikanischen Universität studiert.“ Anna wunderte es nun nicht mehr, dass diese Lehrerin sehr gut mit den westlichen Studenten zurecht kam. Davon abgesehen war Anna jedoch schon bei ihrem ersten Sprachkurs hier aufgefallen, dass chinesische Universitäten Schulen waren und keine Universitäten im klassischen Sinn. Diese Universität hier schien aber so etwas wie ein pädagogisches Versuchslabor zu sein, experimentelle Unterrichtseinheiten für Forschungsdozenten eingeschlossen.
Ab
Mitte Januar kam langsam das chinesische Neujahrsfest in Sicht. Der
chinesische Neujahrstag würde auf den 1. Februar fallen und das
mehrere Tage dauernde chinesische Frühlingsfest einläuten.
Was
Anna mittlerweile jedoch viel mehr herbeisehnte als das Fest, das
waren die drei Wochen Ferien, die ihm folgten. Denn seit einiger Zeit
machten ihr Ermüdungserscheinungen beim Lernen zu
schaffen. Nachmittags fiel es ihr zunehmend schwer, sich für das
tägliche Hausaufgabenpensum zu motivieren. Morgens wachte sie wie
gerädert auf und brauchte bis nach der ersten Pause, um ganz wach zu
werden.
Es war jedoch nicht nur der Umfang des Lernpensums, der
seinen Tribut einzufordern begann. Die Ausländerklassen waren
neu zusammengesetzt worden, außerdem hatten zwei der drei Lehrer
gewechselt. Aus der vorigen Klasse waren lediglich die Amerikanerin,
der Australier und die „japanische Jungfer“ übrig geblieben, was
Anna sehr schade fand. Ohnehin war es ihr ein Rätsel, warum diese
Umorganisation so kurz vor dem Semesterende vorgenommen worden war.
Mit Hinweis auf die zum Semesterende anstehenden Abschlussprüfungen
wurde nun auch noch das Tempo, mit dem der Stoff durchgenommen
wurde, spürbar erhöht. Anna konnte nur noch mithalten, indem sei
fast ganz auf Freizeit verzichtete. Diese Strategie hatte jedoch
ihren Preis, wie sich bald herausstellte.
Eines Morgens bemerkte
sie zu Unterrichtsbeginn, dass sie am Vortag versehentlich ganz
andere Texte vorbereitet hatte, als die, die heute durchgenommen
werden sollten. Bald konnte sie dem Unterricht nur noch mit Mühe
folgen und nach einer halben Stunde gab sie es ganz auf. Sie lehnte
sich zurück und begann, das Geschehen um sie herum von der
Zuschauerbank aus zu betrachten.
Sie schien nicht die einzige zu
sein, die sich heute schwer tat, im Gegenteil. Eine dumpfe Müdigkeit
herrschte im Raum, an der eine der beiden neu in die Klasse
gekommenen Lehrerinnen sich mit zunehmender Ungeduld abarbeitete.
Einzig der Australier hing gelassen auf seinem Stuhl und machte den
Eindruck als hätte er sich schon länger aufs Zuschauen
verlegt. Er lächelte Anna freundlich zu, als ihr umher
schweifender Blick den seinen traf. Die Amerikanerin war gar nicht
erst zum Unterricht erschienen. Nur die „japanische Jungfer“
war wie immer bestens vorbereitet und nutzte die Gunst der Stunde, um
die Situation in einen Einzelunterricht umzuwandeln.
Zu Beginn der
zweiten Stunde besserte die Stimmung sich nicht, im Gegenteil. Unruhe
begann sich in die anfängliche Lethargie einzuschleichen und als die
Lehrerin mit dem Versuch scheiterte, zur Abwechslung einmal von einer
Koreanerin eine Antwort zu erhalten, kippte ihre Ungeduld plötzlich
in etwas um, das Anna an dieser „Universität“ bisher noch nicht
erlebt hatte.
Mit schriller Stimme begann die Lehrerin, die auf
ihrem Sitz erstarrte Koreanerin vor der gesamten Klasse abzukanzeln.
Sie warf ihr vor, sich nicht anzustrengen und verwies wiederholt auf
die „japanische Jungfer“, die Dank ihres vorbildlichen Einsatzes
die größten Fortschritte von allen erziele. Damit begann sie, ihre
Kritik auf den Rest der Klasse auszudehnen, warf den Studenten
Faulheit vor und drohte damit, dass die Abschlussprüfungen am
Semesterende schlecht ausfallen würden und alle blamiert seien, wenn
es so weiter ginge.
An dieser Stelle stand der Australier mit
freundlichem Lächeln auf. Während aller Augen auf ihn gerichtet
waren, packte er in Seelenruhe seine Sachen in den Rucksack, ging zur
Tür, grüßte in die Runde und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Die Lehrerin verstummte mitten im Satz, während die übrig
gebliebenen Studenten perplex hinter ihren Tischen saßen.
Anna
schien es, als sei der Teint der Lehrerin um ein paar Nuancen blasser
geworden. Nach einigen quälend langen Augenblicken räusperte sie
sich, gab der Klasse ein paar Übungsaufgaben zur Beschäftigung auf
und verließ eilig den Raum. Es dauerte über eine Viertelstunde, ehe
sie wieder erschien, um sich dann mit dem Abarbeiten der Aufgaben bis
zur Mittagspause durch zu hangeln. Zu dem, was vorgefallen war,
verlor sie kein einziges Wort.
Anna
nahm diese Erfahrung zum Anlass, ihr eigenes Verhältnis zum Lernen,
zu dieser Art des Unterrichts und zu dem Prüfungsstress zu
überdenken, der hier offensichtlich zielgerichtet aufgebaut wurde.
War es das, wofür sie zwei Jahre lang gespart, ihren Job gekündigt
und hierher gekommen war? Sicher nicht. Hatte sie nicht schon viel zu
lange versucht, sich an etwas anzupassen, das ihr mehr schadete als
nutzte? Und war der Versuch, sich als gestandene Frau nach einigen
Jahren Berufserfahrung an den Unterrichtsstil einer asiatischen
Paukschule anzupassen nicht von vorneherein zum Scheitern
verurteilt?
Wenn es ihr nicht bald gelang, die ganze Sache
lockerer anzugehen und weniger wichtig zu nehmen, so würde ihre
Motivation zum Weitermachen wohl ganz erlahmen, das spürte sie
deutlich.
An
diesem Nachmittag rührte Anna kein Buch mehr an. Statt dessen machte
sie sich auf den Weg in das kleine Café, das es auf dem Campus gab.
Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen und als sie sich mit dem
Becher in der Hand in dem gut gefüllten Raum nach einem Platz umsah,
entdeckte sie, dass auch die Amerikanerin und der Australier schon
her gefunden hatten.
Die beiden winkten ihr zu und als sie sich zu
ihnen setzte, war der Vorfall vom heutigen Vormittag sofort
Gesprächsthema. „Hat die Lehrerin nachträglich zu Dir noch etwas
gesagt, als ihr draußen wart?“ wollte Anna vom Australier wissen.
„Nein, sie ist ohne mich eines Blickes zu würdigen an mir vorbei
gelaufen, fast schon gerannt ist sie…“ meinte er nachdenklich.
„Hm, als sie dann wieder in die Klasse zurück kam sagte sie auch
zu uns kein Sterbenswort.“ ergänzte Anna.
„Wisst ihr, mir war
schon nach der ersten Stunde, die diese Lehrerin bei uns gegeben hat,
klar, dass sie keine gute Lehrerin ist.“ sagte die Amerikanerin.
„Sie hatte von Anfang an die Neigung, die Studenten bei jedem
Anlass zu kritisieren und ich hatte den Eindruck, dass sie sich
ständig beherrschen muss, damit die Kritiksucht nicht noch mehr mit
ihr durchgeht. Ich bin ihrem Unterricht seither fern geblieben.“ –
„Ich glaube, das werde ich ab heute auch tun.“ nickte der
Australier zustimmend. „Meinst Du ihr Unterrichtsstil ist für
chinesische Verhältnisse normal?“ wollte Anna von der Amerikanerin
wissen. „Da kann ich nur mutmaßen… Vielleicht käme sie an
einer durchschnittlichen chinesischen Schule sogar zurecht damit.
Chinesische Schüler lassen sich ja sehr viel gefallen, wie ich
gehört habe. Aber in einem Punkt bin ich mir sicher: eine gute
Lehrerin ist sie nicht. Ich glaube sie hat einfach den falschen Beruf
gewählt.“ – „Nun, solche Lehrer gibt es wohl in allen Ländern
der Welt…“ Anna war nachdenklich geworden. „…Und in gewisser
Hinsicht lernt man von diesen manchmal mehr als von den anderen.“ –
„Wie meinst Du das denn?“ fragte die Amerikanerin. „Ich glaube
ich werde mich in den kommenden Tagen mal drum kümmern, wo ich in
den Semesterferien hinreisen will. Es sind ja nur noch zwei Wochen
bis dahin, Zeit, ein paar Vorbereitungen zu treffen, Lehrer hin,
Prüfungen her.“ – „Hast Du schon eine Idee wo es hingehen soll?“
– „Mich zieht es ans Meer, Qingdao, vielleicht von da aus dann noch
weiter nach Süden…“ – „Ja, es wird höchste Zeit, dass wir
wieder auf andere Gedanken kommen!“ stimmten die andern beiden ihr
lachend zu.
Taumel in den Mai
Der
Aufenthalt in Qingdao brachte Anna auf andere Gedanken. Sie wohnte in
einem kleinen Hotel in der Nähe einer Villengegend aus der deutschen
Kolonialzeit und verbrachte die ersten Tage damit, das Viertel zu
erkunden. Die alten Villen, Kirchen und Wohnhäuser waren in ihrer
ursprünglichen Gestalt und Anordnung erhalten, einige waren gut in
Schuss, die meisten hatten aber eine Sanierung nötig. Kurz nach der
Wende war Anna einmal durch das berühmte Dresdner Villenviertel
„Weißer Hirsch“ gewandert und während sie über das Qingdaoer
Kopfsteinpflaster ging, das auch hier viele Straßen
bedeckte, wurde der Eindruck eines Déja-vu mit jedem Schritt
mächtiger.
War damals im „Weißen Hirsch“ nicht auch gerade
Vorfrühling gewesen? Die Erinnerung daran vermischte sich mit den
Eindrücken des Augenblicks und verwirrten Annas Gefühl für den
Ort, an dem sie sich befand. Manchmal sah sie eine chinesische
Familie aus einem der Häuser kommen oder chinesische Rentner, die in
einer kleinen Grünanlage die ersten Sonnenstrahlen genossen und war
dankbar für diese Orientierungshilfe. Und manchmal musste sie den
Blick bewusst auf die chinesischen Straßenschilder oder eines der
hin und wieder an den Mauern angebrachten Plakate heften, um nicht
ins Trudeln zu geraten.
Bis dahin war Anna noch nie aufgefallen,
welch tiefen Eindruck Gebäudearchitektur und Gestaltung von Straßen
und Plätzen auf die Menschen macht, die sich darin aufhalten. Je
mehr sie jetzt ihre eigene Empfänglichkeit dafür wahr zu nehmen
begann, desto mehr kam sie ins Grübeln darüber, welchen Einfluss so
genannte moderne Architektur wohl auf die Menschen ausüben mochte.
„Wie verändert es uns, wenn wir uns in zigstöckigen Hochhäusern
in Wohnungen zusammen pferchen, die wie Karnickelställe übereinander
gestapelt sind, oder wenn wir tagtäglich in Großraumbüros arbeiten
gehen, deren Bauweise ausschließlich darauf abzielt, Menschenmassen
kostengünstig als Arbeitstiere zu nutzen? Gehen wir mit uns selbst
in Sachen Architektur so viel anders um als mit unseren
Nutztieren?“
Das Hupen eines Autos fuhr ihr in die Glieder und
verscheuchte ihre Gedanken. Geistesabwesend hatte sie
begonnen, die Straße zu überqueren und wäre beinahe von einem
heran nahenden Santana-Taxi angefahren worden. „Und hier jetzt
ausgerechnet von einem VW überfahren werden, das wäre doch passend,
oder?!“ schimpfte sie sich selbst aus, nachdem der erste Schreck
vorüber war.
Der
alte Hafen war ein weiterer Ort, an dem Anna sich gerne aufhielt. Sie
schlenderte am Kai entlang, schaute den Leuten beim Angeln oder beim
Muscheln sammeln zu und genoss den frischen Wind und die Sonne. Eine
angenehme Überraschung waren die sich an das Hafenviertel
anschließenden langen Strände mit dem feinen weißen Sand. So etwas
hatte sie in einer chinesischen Millionenmetropole nicht erwartet,
auch wenn diese eine Küstenstadt war. Stundenlang ging sie an den
fast menschenleeren Stränden spazieren, sah den Möwen zu und ließ
die Seele baumeln. Es war jammerschade dass es noch viel zu kalt war
um Schwimmen zu gehen. Andererseits hatte sie die Strände so fast
für sich allein und blendete die Vorstellung, wie es hier im Sommer
wohl wimmeln mochte, konsequent aus.
Hielt man sich nur in den
Altstadtvierteln, dem alten Hafen oder an den Stränden auf, konnte
man den Eindruck gewinnen, Qingdao sei eine verschlafene Provinzstadt
am Meer mit viel Altbausubstanz und touristischem Potential. Umso
deutlicher sprang Anna jedoch die Wirklichkeit an, als sie einmal den
Aussichtspunkt auf dem Hügel erstieg, der sich über den
Altstadtvierteln erhebt. Da war es wieder, das bis an den
Horizont reichende Betonmeer chinesischer Riesenstädte, das die
städtebaulichen Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche mit
seinen Wohntürmen und Wolkenkratzern umzingelte wie der Pazifik ein
Südseeatoll. Auch die Gebäude der Bierbrauerei, die sich nicht
weit vom Hügel entfernt aus dem Häusermeer erhoben, konnten an
diesem Eindruck nicht viel ändern.
Anna
nahm eine entspannte Gelassenheit aus Qingdao mit zurück nach
Peking, die sie durch die ersten Wochen an der Uni hindurch trug.
Wieder gab es neue Gesichter in der Klasse, aber die Anzahl der
Westler war auf zwei geschrumpft. Außer Anna war da nur noch Abe,
ein Amerikaner aus New York, der sich schon seit über einem
Jahr in China aufhielt und mittlerweile mit einer Chinesin liiert
war. Der Uni-Alltag aus Unterricht und Lernen hatte Anna wieder, aber
nun sorgte sie bewusst dafür, dass ihre Freizeit nicht zu kurz kam.
Der Einzug haltende Frühling verlockte zu Spritztouren, so dass Anna
hin und wieder den Unterricht sausen ließ um den Tag statt dessen in
den weitläufigen Anlagen des Sommerpalasts zu verbringen oder um in
die Innenstadt zu fahren. Gelegentlich unternahm sie auch gemeinsam
mit Abe und seiner Freundin Lin einen Ausflug oder man ging zusammen
essen. Es hatte sich herausgestellt, dass Abe beruflich in der
gleichen Branche tätig gewesen war wie Anna und sich nun ebenfalls
ein Sabbatical gönnte. Er stockte seine Finanzen auf, indem er sich
an der Uni als Hilfsdozent verdingte und Lin arbeitete als Lektorin
des universitätseigenen Verlags ebenfalls auf dem Campus.
Annas
Zimmergenossin Gong entwickelte sich zur gleichen Zeit
erstaunlicher Weise in die entgegen gesetzte Richtung. „Seltsam,
während ich dem Lernen immer entspannter gegenüber stehe, gibt sie
immer mehr Gas…“ dachte Anna, als sie Gong bei der Rückkehr von
einem ihrer Ausflüge wieder einmal über Büchern sitzend im Zimmer
antraf. Gong schien ähnliche Gedanken zu hegen. Kurz darauf begrüßte
sie Anna in einer ähnlichen Situation nämlich mit den Worten:
„Anna, Du könntest ruhig noch öfter faul sein. Ich kann viel
besser lernen, wenn Du nicht so fleißig bist!“ – „Aber gerne
doch!“ lachte Anna. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte das
Jahr auf diese Weise weiter laufen können denn sie fühlte sich
pudelwohl.
Seit
ihrer Rückkehr aus Qingdao hatte Anna hin und wieder Berichte über
eine Lungenkrankheit aufgeschnappt, die inzwischen von
Hongkong nach Guangdong übergesprungen sein sollte. Anfangs
interessierte Anna sich nicht allzu sehr dafür, sowohl Hongkong als
auch Guangdong waren weit weg und sie vergaß das Gehörte meist
schnell wieder. Chinesische Medien behandelten das Thema gar nicht
und obwohl Anna davon ausging dass die chinesische Berichterstattung
von der Regierung gesteuert wurde, ließ sie sich davon nicht weiter
beunruhigen.
Dann jedoch bekam sie durch E-Mails und Telefonate
mit Verwandten und Freunden in Deutschland mit, wie sich ganz langsam
ein immer größerer Unterschied zwischen der westlichen und der
chinesischen Berichterstattung über SARS, wie die Krankheit von der
WHO inzwischen genannt wurde, aufbaute. Innerhalb von drei Wochen
schaukelte die westliche Berichterstattung sich hoch, bis SARS
dort schließlich zu einem der wichtigsten Themen avancierte. „Da,
wo es kein SARS gibt, machen sich die Leute verrückt, während wir
hier weitermachen als wäre nichts.“ witzelte Abe, als sie ihn in
einer Unterrichtspause einmal darauf ansprach. In Bezug auf seine
amerikanische Heimat schien er ähnliche Erfahrungen zu machen wie
Anna in Bezug auf ihre deutsche. Die Kluft zwischen der
sensationslüsternen westlichen Berichterstattung und der alles unter
den Teppich kehrenden chinesischen hatte bald bizarre Ausmaße
angenommen. Aber auch Abe und Lin schienen die Sache nach wie vor
gelassen zu nehmen.
Die
Erste, die unruhig wurde, war Annas Zimmergenossin Gong. Eines Abends
erzählte sie Anna, ihre Eltern verlangten von ihr, dass sie nach
Thailand zurück flöge. Ihre Familie hätte Verwandte in Guangdong
und von diesen hätten die Eltern erfahren, dass es dort schon vor
mehr als sechs Wochen den Ausbruch einer schweren Lungeninfektion mit
über dreihundert Fällen und einigen Toten gegeben habe. Allerdings
sei in den dortigen Medien nicht darüber berichtet worden. Außerdem
gäbe es jetzt auch in anderen südchinesischen Provinzen Fälle,
über die ebenfalls nicht berichtet werde. Ihre Familie fürchte,
dass die Krankheit sich als Spätfolge der milliardenfachen
Reisen heim zur Familie, die die Chinesen zum chinesischen
Neujahrsfest unternommen hatten, in ganz China ausbreiten werde.
Anna
sah auf einmal sich selbst, wie sie sich auf der Rückfahrt von
Qingdao im übervollen Holzklasse-Abteil des Zuges zwischen den
Wanderarbeitern hindurch gequetscht hatte, die mit Sack und Pack
zurück zu ihrer Arbeitsstelle fuhren. Einige waren erkältet gewesen
und hatten gehustet, vereinzelt wurde auch auf den Boden gespuckt,
obwohl das strikt verboten war. Trotzdem hatte sie die Fahrt genossen
ohne sich Gedanken über ansteckende Krankheiten zu machen. Aber
jetzt ertappte sie sich doch dabei wie sie nachrechnete, ob die
seither verstrichene Zeit die für SARS vermutete Inkubationszeit
schon abgedeckt hatte.
„Und wann willst Du fliegen?“ fragte
sie Gong. „Weißt Du, mir geht es gut hier, ich will gar nicht weg.
Ich werde es hinauszögern so lange ich kann. Aber wenn meine Familie
hartnäckig bleibt, werde ich irgendwann nachgeben müssen.“
kam es nachdenklich zurück.
Annas
Gelassenheit bekam erste Risse. In den folgenden Tagen merkte sie es
daran, dass sie unvermittelt an SARS denken musste, wenn sie sich in
Pekinger Busse oder U-Bahnabteile hinein zwängte. Und daran,
dass gelegentliches Husten anderer Menschen sie plötzlich alarmierte
als wäre es das Angriffsgebell eines tollwütigen Hundes. „Wenn
der, der da hinten gerade vor sich hin hustet, nun doch keine normale
Erkältung hat… weder er noch seine Familie noch die Leute, die
jetzt hier im Abteil um ihn herumstehen wüssten Bescheid…“
beschlich es sie in solchen Momenten. Und sie begann auf ganz
konkrete Weise zu lernen was es heißt, in einem Land zu leben im dem
es keine Pressefreiheit gibt.
Einige Tage später erhielt Anna den
Anruf einer chinesischen Freundin. Die Mutter der Freundin war Ärztin
in einem chinesischen Militärkrankenhaus und hatte berichtet, dass
es mittlerweile auch in Peking einzelne Fälle gäbe. Die Rede war
von einer Handvoll. Einige Krankenhäuser waren angewiesen
worden, besondere Hygienemaßnahmen zu ergreifen, was hieß, dass das
Personal jetzt Mundschutz und Hygienehandschuhe tragen sollte. So
sehr dieses Telefonat Anna auch beunruhigt hatte, sie war ihrer
chinesischen Freundin unendlich dankbar für den Anruf. Und sie
erfuhr plötzlich am eigenen Leib, warum Beziehungen in China
überlebenswichtig sind.
Schon am nächsten Tag wurde in
westlichen Medien berichtet, in den USA und in Europa seien erste
SARS-Verdachtsfälle in Spezialkliniken eingeliefert worden. Die WHO
gehe für China inzwischen von hunderten Fällen aus. Außerdem habe
es schon im November des Vorjahres Fälle einer neuartigen schweren
Lungeninfektion in Guangdong gegeben, weswegen man nun annehme,
dass SARS sich von Guangdong aus über Hongkong in den Rest der Welt
ausgebreitet hatte. Es war genau diese Aussage, die die
chinesische Presse nun endlich hinter dem Ofen hervor lockte.
Am
Tag darauf bezog sie zum ersten mal auf Seite Eins Stellung zu SARS,
aber auf eine für Anna überraschende Weise. In der
englischsprachigen China Daily war zu lesen, es sei medizinisch
unbewiesen, dass die in Guangdong aufgetretene Lungenerkrankung
die gleiche Krankheit sei, die die WHO SARS nannte. Daher sei die
Behauptung der WHO, dass SARS sich von China aus in den Rest der
Welt ausgebreitet habe, schlichtweg falsch. Insbesondere seien auch
die SARS-Fallzahlen falsch, die von der WHO für China genannt
wurden, da auch diese Zahlen auf derselben unbewiesenen Annahme
basierten.
„Wie bitte?“ fragte sich Anna, als sie das las.
„Ist es im Moment nicht völlig zweitrangig, von wo nach wo diese
Seuche sich ausgebreitet hat und wie sie heißt?“ Kein Wort zur
Ausbreitung der Krankheit in der Bevölkerung, keine Information über
Fälle außerhalb Guangdongs, kein Hinweis, wie man sich vor
Ansteckung schützte oder welche Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung
die chinesische Regierung plante war dem Artikel zu entnehmen. Selbst
wenn die Guangdonger Lungenkrankheit sich wirklich als etwas anderes
als SARS entpuppen sollte, wären solche Informationen für die
Bevölkerung wichtig gewesen, fand Anna. Aber lang und breit ging es
in dem Artikel ausschließlich darum zu beweisen, dass SARS nicht in
China seinen Anfang genommen haben konnte. Auch in der
chinesischsprachigen Presse ging es um nichts anderes, wie Anna
kurz darauf erfahren sollte. Der Gesichtsverlust, den eine sich
von China aus in die Welt ausbreitende Suche bedeutete, blockierte
auf chinesischer Seite offensichtlich jegliche Vernunft. Noch ahnte
Anna nicht, wie lang die chinesische Presse diese Art der
Berichterstattung aufrecht erhalten sollte.
Mit zunehmender
Fassungslosigkeit musste sie zuschauen, wie die WHO China wochenlang
mit ihren Berichten vor sich her trieb, ohne dass dies an Chinas
Blockadehaltung auch nur das Geringste geändert hätte. Während
immer deutlicher wurde, dass eine globale SARS-Epidemie ohne eine
Kooperation Chinas nicht in den Griff zu bekommen wäre, vergrub sich
die chinesische Presse täglich tiefer in der Erörterung der aus
Annas Sicht belanglosen Frage, ob SARS nun in Hongkong oder Singapur
zuerst ausgebrochen war. Und für den Aufbau der für die globale
SARS-Bekämpfung so wichtigen Kooperation zwischen China und dem Rest
der Welt gingen wertvolle Wochen verloren.
Die in allen
China-Reiseführen gebetsmühlenartig wiederholte Aussage, dass
Gesichtswahrung den Chinesen um viele Dimensionen wichtiger sei als
Leuten aus westlichen Kulturen, bekam in dieser Zeit eine handfeste
Bedeutung für Anna. „Hätte man von Leuten, die als offizielle
Vertreter einer internationalen Organisation wie der WHO auftraten,
in diesem wohl bekannten Punkt nicht ein etwas sensibleres Verhalten
erwarten können?“ fragte sie sich, wenn sie wieder einmal
vergeblich in der chinesischen Presse nach einer Wende Ausschau
gehalten hatte. So wenig sie das Verhalten der chinesischen Seite gut
heißen konnte, sie ärgerte sich auch über die diplomatische
Unprofessionalität der WHO-Leute.
Auf
Pekings Straßen tauchten allmählich immer mehr Gesichter mit
Atemschutzmasken auf. Informationen über SARS machten also auch in
der chinesischen Bevölkerung die Runde, obwohl die Presse sich
weiterhin ausschwieg. Auch Anna versuchte, in der nahe gelegenen
Apotheke einen Packen solcher Masken zu erstehen. Aber mehr als 10
Stück war man nicht bereit an sie zu verkaufen, das sei eine
offizielle Anweisung, wurde ihr erklärt. Verwandte aus Deutschland
schickten ihr schließlich ein Care-Paket voller Atemschutzmasken,
was Anna sehr zu schätzen wusste.
Bald darauf traten die ersten
Ausländer den Rückflug in ihre Herkunftsländer an. Lange bevor die
ersten westlichen Regierungen Reisewarnungen für China heraus
gegeben hatten, waren es amerikanische Manager und ihre Familien, die
als erste die Koffer packten. Die europäischen Manager hielt es nun
auch nicht länger und sie folgten ihren amerikanischen Kollegen wie
die Lemminge ihren Leittieren.
Auf Anna und ihre Mitstudenten
wirkte das befremdlich. Aber auf die chinesische Regierung schien es
überraschender Weise Eindruck zu machen. Offensichtlich waren die
sich dahinter abzeichnenden wirtschaftlichen Einbußen etwas, das
noch schwerer wog als der Gesichtsverlust, den man ohnehin schon
erlitten hatte. Endlich stimmte China zu, WHO-Experten zur
Erforschung der Guangdonger Lungeninfektion ins Land zu lassen. Als
ein Forscherteam des Hamburger Tropeninstituts schon wenig später
über erste Beweise berichten konnte, zeigten sich endlich erste
Risse in der der chinesischen Mauer des Schweigens und China begann,
mit der WHO zu kooperieren.
Äußerlich
betrachtet hatte sich im Leben auf dem Campus bis zu diesem Zeitpunkt
nicht viel verändert. Der Unterricht wurde nach Plan durch
gezogen, sogar Klassenfahrten zur chinesischen Mauer wurden
unternommen. Von der Universität gab es keinerlei Informationen, die
über das hinaus gingen, was ohnehin in den Medien verbreitet wurde
und wer bei den Lehrern nach bohrte wurde mit dem Hinweis abgespeist,
dass das Verbreiten von Gerüchten unerwünscht sei. Die
Studenten mussten zusehen, wie sie mit dieser Situation zurecht
kamen.
Erst als auch in der chinesischen Presse die Hinweise
auf die Ausbreitung von SARS in China veröffentlicht wurden,
zeigte die Universität ebenfalls eine Reaktion. Die Maßnahmen,
die Anna in den folgenden Tagen beobachten konnte, bezeugten jedoch
mehr die Naivität chinesischer Stellen dieser Seuche gegenüber, als
dass sie wirklich etwas brachten, außer vielleicht einen
Placeboeffekt.
Die Reinigungskräfte begannen, die Flure der
Universitätsgebäude mehrmals am Tag mit Essigwasser feucht
aufzuwischen. Der Essiggeruch hatte den ganzen Campus bald fest im
Griff. Eine weitere Maßnahme war das Abbrennen von Räucherstäbchen
zur Luftverbesserung in den Foyers der Gebäude und in den Büros.
Und in einem Gebäude des Campus, in dem hauptsächlich chinesische
Studenten unterrichtet wurden, baute man einen Ausschank für
chinesische Medizin auf. Neugierig geworden fand auch Anna sich dort
ein. Auf einem provisorischen Tresen standen zwei große
Elektroplatten mit riesigen Aluminiumbottichen darauf, in denen eine
dunkle Flüssigkeit vor sich hin blubberte. Die Schlange vor dem
Tresen war nicht lang, offensichtlich schienen sich auch die
chinesischen Studenten nicht allzu viel von dieser Medizin zu
versprechen. Belustigt stellte Anna sich an. Das Gebräu schmeckte
nicht annähernd so fürchterlich wie es aussah und so trank Anna den
halben Becher aus, den man ihr eingeschenkt hatte. Einige Zeit später
bemerkte sie, dass es in ihrem Bauch vor sich hin zu gluckern begann.
Das war jedoch die einzige Wirkung, die sie feststellen konnte.
Mitte
April begannen die Ereignisse an der Universität unvermittelt Fahrt
aufzunehmen. Die Maifeiertage und die Frühlingsferien standen vor
der Tür. Am Freitagvormittag, dem letzten Unterrichtstag vor den
Ferien, wurde den Studenten im Unterricht mitgeteilt, dass die ab
kommender Woche anstehenden Maifeiertage von der Regierung auf einen
einzigen Tag zusammengestrichen worden seien. Dies solle
verhindern, dass SARS sich durch Reiseaktivitäten weiter im
Land ausbreitete. Auch die Universität kürzte die
normalerweise zweiwöchigen Maiferien um eine Woche. Man erwarte die
Studenten daher schon am übernächsten Montag wieder zurück im
Unterricht. Außerdem verlange man von ihnen, sich in der
Zwischenzeit in Peking aufzuhalten und jegliche Reisen innerhalb
Chinas zu unterlassen. Nur Reisen in ihre Heimatländer seien von dem
Reiseverbot ausgenommen.
Noch am Nachmittag des gleichen Tages
erhielt Anna einen Anruf von Abe. Er hatte von Lin erfahren, dass es
einen ersten SARS-Verdachtsfall an der Uni gegeben hatte. Ein
Wachmann der auf dem Campus ansässigen Filiale der Bank of China war
trotz hohen Fiebers zur Arbeit erschienen. Es hatte mehrere Tage
gedauert, bis Vorgesetzte endlich auf seinen Zustand aufmerksam
wurden und dafür sorgten, dass er ins Krankenhaus kam. Die
Bankfiliale sei mittlerweile geschlossen. Wieder einmal war Anna
um die paar Beziehungen froh, die sie in diesem Land hatte knüpfen
können.
Am nächsten Morgen wurden die Studenten beim Verlassen
der Wohnheime von den Wohnheimmanagern abgefangen und darauf
aufmerksam gemacht, dass sich alle vor dem Verwaltungszentrum
auf dem Campus sammeln sollten. Es gäbe neue Anweisungen der
Universitätsleitung. Für Langschläfer wie Anna machte man sogar
Rundgänge durch die Etagen und trommelte sie durch Rufen und lautes
Klopfen an die Zimmertüren aus den Betten. Niemand sollte die
Versammlung verpassen.
Vor
dem Verwaltungsgebäude wurden die 4500 ausländischen Studenten von
einer Fünfergruppe aus Dozenten und anderen
Universitätsmitarbeitern erwartet. Eine Dozentin griff zum Megaphon
und begann, auf Chinesisch vom Blatt abzulesen. „Die Universität
stellt den Lehrbetrieb ab sofort bis Ende Juni ein. Wir fordern
alle ausländischen Studenten auf, innerhalb der nächsten fünf Tage
Flugtickets zu kaufen, zu packen und in ihre Heimatländer zurück zu
kehren. Morgen wird die Universität den Studenten Zertifikate über
den Besuch der Vorlesungen des angebrochenen Semesters aushändigen
und ihnen die Studiengebühren für das ganze Semester zurück
erstatten. Wir haben die Studenten in Gruppen eingeteilt, um alle
Formalitäten morgen zügig durchführen zu können. Wir fordern die
Studenten auf, sich im Anschluss an diese Versammlung auf den
Aushängen in den Fluren des Verwaltungsgebäudes darüber zu
informieren, zu welcher Zeit sie sich morgen in welchem Büro
einfinden müssen, um ihr Zertifikat und die
Exmatrikulationsbescheinigung abzuholen.“ Die Dozentin machte eine
kurze Pause und holte tief Luft, um noch eine weitere Anweisung
nachzuschieben.
„Wer diesen Empfehlungen nicht folgt, muss statt
dessen unterzeichnen, dass er allen noch kommenden Anordnungen
chinesischer Behörden zur Seuchenbekämpfung Folge leisten wird.
Dies schließt auch die Einwilligung ein, sich in chinesischen
Krankenhäusern in Quarantäne zu begeben, wenn das notwendig wird.
Im Namen der Universität entschuldige ich mich bei allen
ausländischen Studenten für die Unannehmlichkeiten und hoffe, sie
im nächsten Semester wieder hier begrüßen zu können“. Die
Dozentin trat zurück, ein anderer der fünf Offiziellen ergriff nun
auf Englisch das Wort und verlas die Anordnungen erneut. Auf eine
koreanische oder eine japanische Version wurde jedoch
verzichtet.
Nachdem die Ansage beendet war, machte sich
aufgeregtes Gemurmel unter den Studenten breit. Ringsum sah man in
verdatterte und ratlose Gesichter, im ersten Augenblick wusste
keiner, wie er reagieren sollte. Dann machten sich die Ersten auf in
die Flure des Verwaltungsgebäudes und die Versammlung
zerstreute sich.
Während
Anna sich auf der Suche nach der richtigen Namensliste durch die
Flure schob, drangen hin und wieder Gesprächsfetzen aus den in
Grüppchen beisammen stehenden Studenten an ihr Ohr. Überall ging es
darum, wie man die Abreise am schnellsten bewerkstelligen konnte. Die
Option, unter chinesischer Fuchtel hier zu bleiben, schien niemand
ernsthaft zu erwägen, auch Anna nicht. Sie fand das Angebot der
Universität fair genug um es annehmen zu können. Außerdem war ihr
Bedarf an Nervenkitzel in den letzten Wochen zur Genüge bedient
worden.
Als sie schon wieder auf dem Weg nach draußen war, sah
sie Abe auf eine der Listen an der Wand schauen. „Hast Du schon
eine Entscheidung gefällt?“ fragte sie ihn neugierig. Er war
sichtlich unschlüssig. „Wenn es nur um mich ginge, würde ich
natürlich abreisen… Aber ich möchte Lin hier nicht alleine
lassen. Ihre Familie wohnt in Südchina und Lin kann nicht zu ihnen
fahren, denn auch sie ist vom Reiseverbot betroffen und muss in
Peking bleiben. Ich muss nachher erst mal mit ihr reden…“ –
„Verstehe… das ist schwierig für Euch…“ meinte Anna. „Auch
ich werde abreisen und mich nachher gleich um Flugtickets kümmern.“
Abe zögerte.
„Bevor Du abfliegst kommst Du aber noch bei uns
vorbei, dann kochen wir chinesische Maultaschen zum Abschied!“ Erst
da wurde Anna bewusst, dass es ab jetzt wirklich darum ging, Abschied
zu nehmen. „Gerne, lass uns heute Abend kurz telefonieren…“
antwortete sie mit belegter Stimme um sich dann verdächtig schnell
dem Ausgang zuzuwenden.
Am
nächsten Tag staunte Anna nicht wenig über das offensichtlich
sorgfältig im Voraus geplante und gut durchorganisierte Verfahren,
mit der die Uni die Exmatrikulation aller 4500 ausländischen
Studenten im Verlauf eines Vormittags abwickelte. Zuerst gab es
Zertifikate und sonstige Papiere in den Büros, deren Raumnummern
gestern hinter jedem Namen auf den Listen gestanden hatten. Vor Annas
Büro warteten nur zwei weitere Studenten, als Anna dran war hatte
die Verwaltungsangestellte schnell die richtigen Papiere griffbereit
und im Nu war Anna wieder draußen.
Als nächstes war die
Auszahlung der Studiengebühren dran und hierbei hieß es nun doch
noch einmal Schlange stehen. Draußen vor dem Gebäude hatte man
einen provisorischen Stand errichtet, an dem drei
Bankangestellte bewacht von zwei Sicherheitsleuten die Geldausgabe
durchzogen. Als wäre alles in bester Ordnung, beschien die
Frühlingssonne die lange Schlange aufgeregt schnatternder Studenten
aller Herren Länder, die sich vor dem Stand gebildet hatte. Anna
reihte sich hinter zwei serbischen Studentinnen ein, mit denen sie im
Laufe der letzten Wochen gelegentlich ein paar Worte gewechselt
hatte.
Im Gegensatz zu den meisten Anderen schienen die Beiden
guter Laune zu sein und sich nicht allzu viel aus der Situation zu
machen.
„Wie ist es Euch in den letzten Tagen ergangen?“
sprach Anna sie an. „Ach weißt Du, ich versteh‘ die ganze
Aufregung nicht, in die viele sich hier hinein steigern. Wir steigen
übermorgen ins Flugzeug und fliegen zurück in unsere Heimat,
wo wir uns vor vier Jahren noch vor den Nato-Bomben in die Keller
retten mussten. Das bisschen Seuchenalarm hier, das ist doch nichts.“
antwortete die eine. Anna schluckte. „Wenn die Chinesen uns wieder
rein lassen kommen wir zurück und studieren weiter.“ meinte die
andere und damit war das Thema für die beiden offensichtlich
abgehandelt.
Anna hatte nichts dagegen, sich von der Gelassenheit
der Serbinnen anstecken zu lassen. Während der provisorische
Bankschalter langsam näher rückte, gelang es der Frühlingssonne
endlich, auch zu Anna durch zu dringen. Und noch bevor sie an der
Reihe war ertappte sie sich dabei, in Gedanken die Möglichkeiten für
eine Rückkehr durch zu spielen.
Annas
Abflugtermin fiel auf den Mittwoch und sie verbrachte ihre
letzten Tage in Peking zwischen hektischen Besorgungen,
Zusammenpacken und Abschiedstreffen. So nahm sie nur am Rande wahr,
wie das sonst übliche Menschengedränge in Pekings Straßen von Tag
zu Tag weniger wurde und am Ende einer beinahe schon gespenstischen
Ruhe Platz machte.
Am Dienstag hatte sich die Pekinger
Stadtverwaltung endlich dazu durchringen können, für den Nachmittag
eine offizielle Pressekonferenz zur Lage in Peking anzuberaumen. Abe,
Lin und Anna nahmen dieses Ereignis zum Anlass, um sich in der
kleinen Wohnung, die Abe und Lin sich seit einigen Wochen teilten, zu
einem Abschiedsessen zu treffen. Während man die chinesischen
Maultaschen zubereitete lief der Fernseher.
„Also ich wette um
eine Runde Qingdao-Bier, dass sie 400 Fälle für Peking melden
werden!“ witzelte Abe, als der Beginn der Pressekonferenz
unmittelbar bevor stand. „Und ich wette 500.“ meinte Lin. „Dann
sage ich 700.“ legte Anna noch einen drauf. „Aber ich glaube, sie
werden auch heute noch nicht mit der ganzen Wahrheit rausrücken,
sondern eine Salamitaktik anwenden und wir knacken die 700 erst
morgen in den Abendnachrichten.“ Anna sollte recht behalten damit.
Es waren schließlich 480 Fälle für Peking, die der Pressesprecher
an diesem Tag zugab, während man vorher wochenlang von einer
Handvoll berichtet hatte. Die Wahrheit schien sich immer weniger
unter den Teppich kehren zu lassen.
Abe war inzwischen auf den
kleinen Balkon hinaus getreten, der zu der im zwölften Stock
gelegenen Wohnung gehörte. „Schau Anna, hast Du Peking jemals so
gesehen? Wir beide stehen immer wieder hier und staunen. Die meisten
Leute haben schon lange vor der Pressekonferenz begriffen, was los
ist.“
Vom Balkon aus konnte Annas die vierspurige
Durchgangsstraße überblicken, die unten vorbei führte. Die
Bürgersteige waren fast menschenleer und die einzige Bewegung, die
man auf der Straße ausmachen konnte, war das Fächeln des
Frühlingswinds im frischen Grün der Sträucher, die man in der
Fahrbahnmitte angepflanzt hatte. Eine angespannte Stille lag über
allem, ab und zu wurde sie von der Sirene eines in der Ferne vorbei
rasenden Krankenwagens zerschnitten. Nur vereinzelt ging doch jemand
den Bürgersteig entlang, aber jeder dieser Passanten fiel auf. Das
öffentliche Leben in Peking war vollständig zusammen gebrochen.
Am
nächsten Tag wurde Anna vor den Sicherheitskontrollen des Pekinger
Flughafens von einer langen Schlange erwartet. Der Grund war die
Fiebermessung, der sich jeder Passagier unterziehen musste,
bevor er passieren konnte. Anschließend blieb Anna noch eine
gute Stunde bis zum Abflug übrig und sie war dankbar für jede
einzelne Minute der Ruhe, die ihr auf den Sitzbänken vor dem
Abflugschalter nun endlich vergönnt war.
„Ich werde heute
Abend ankommen, wenn ich die Zeitverschiebung berücksichtige…“
versuchte sie sich zu orientieren. „Morgen ist Donnerstag, da soll
dann erster Mai sein… Irgendwie kapiere ich das nicht…“ Es
wollte ihr nicht gelingen.
Trittsteine
Anna
schlenderte die Uferpromenade entlang. Hin und wider blieb sie
stehen, schaute hinüber zu den Hafenanlagen auf der anderen
Seite, lauschte den Vögeln, die über ihr unbekümmert den Mai
begrüßten oder betrachtete das wirre Schattenspiel, das die
Vormittagssonne durch die Äste auf ihren Weg zauberte.
Wie
einem kranken Pferd redete sie sich immer wieder zu: „Das ist kein
Traum. Das hier ist die Stadt, aus der Du vor fünf Monaten
aufgebrochen bist… Gestern bist Du in Peking abgeflogen. Heute ist
der erste Mai… Du wohnst im Hotel. Ab morgen musst Du Dir irgendwo
ein Zimmer suchen…“. Die Glasglocke, die Anna seit dem Erwachen
am Morgen einzuschließen schien, war zäh. Anna sah, hörte und
wusste wo sie war, aber sie fühlte es nicht. Konnte sie mehr tun,
als geduldig einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis die Betäubung
langsam wich? Anna ging weiter und hoffte, dass die Gleichförmigkeit
der Bewegung sie irgendwann erden würde.
Der Wind
frischte auf, ohne dass Anna es bemerkte.
Gegen Mittag gelang
es einer steifen Brise endlich, den Atem des Flusses zu
ihr hinein zu pusten. Lag darin nicht jener
unverwechselbare Hauch aus Meer und Schweröl, den Anna an dieser
Stadt liebte seit sie sie kannte? War da nicht jenes
metallische Klopfen, Pochen und der ferne Signalton rollender
Containerterminals, der untrennbar dazu gehörte? Anna sog die
Frühlingsluft so tief ein wie sie konnte und atmete ein paar Mal
kräftig durch. „War es möglich, dass sogar an diesem Feiertag
irgendwo in den Hafenanlagen drüben gearbeitet wurde?“ fragte sie
sich. Langsam bekam die Glasglocke Risse. „Das andere Ufer, an dem
es weitergeht, das gibt es auch für mich…“ Anna setzte weiter
Schritt vor Schritt während ihre Stimmung sich allmählich
aufhellte.
Der
Wind trieb einen kräftigen Schauer heran, als Anna am
Nachmittag an Tinas Wohnungstür klingelte. Die Tür wurde
aufgerissen und ehe Anna etwas sagen konnte fand sie sich in einer
warmherzigen Umarmung wieder. „Gut dass Du da bist! Komm rein,
erzähl, wie geht es Dir?“ fragte Tina, während sie Anna in ihre
Wohnung zog. – „Ich wollte Dich warnen, dass ich Dich immer
noch mit SARS anstecken könnte…“ brachte Anna hervor,
nachdem sie wieder Luft bekam. „Quatsch! Das glaube ich nicht!
Außerdem wäre es jetzt eh zu spät. Magst Du Kaffee oder
Tee?“
Dieser Empfang verpasste der Glasglocke den entscheidenden
Schlag. „Tee, irgendwas Beruhigendes, wenn Du hast…“
konnte Anna gerade noch los werden, bevor sich ihre Kehle zusammen
zu schnüren begann. „Na, dann setzt Dich mal auf’s Sofa, ich komme
gleich mit dem Tee nach…“ Der Kloß in Annas Kehle wurde
schmerzhafter, während sie sich in die Sofakissen sinken ließ. Der
Couchtisch war gedeckt, Kekse und ein kleines Blumensträußchen
standen darauf, eine Kerze brannte… das war zu viel. Als Tina mit
der dampfenden Teekanne herein kam, kullerten Anna die Tränen über
die Backen.
Tina
besorgte Taschentücher, schenkte Tee ein, setzte sich zu Anna und
sagte lange nichts.
„Ist das Hotel in Ordnung?“ wollte sie
nach einer Weile wissen. „Alles bestens, tausend Dank für’s
Buchen, Tina! In der Hektik hätte ich von Peking aus nur eine
dieser teuren Unterkünfte in der Innenstadt gebucht. Aber so habe
ich etwas weniger Druck im Nacken bei der Zimmersuche.“ Anna fand
langsam ihre Fassung wieder. „Morgen muss ich mich zuerst beim
Arbeitsamt melden, danach fange ich an, die Zimmerangebote in den
Zeitungen durch zu schauen. Die meisten werden jedoch erst in der
Samstagsausgabe drin stehen…“
„Ich drücke Dir die Daumen,
dass alles gut läuft. Du wirst sehen, das wird schon werden!“
unterbrach Tina sie mit sanfter Bestimmtheit. Ihr
Optimismus war ansteckend. „Aber sag mal, wie fühlst Du Dich
jetzt?“ Anna hielt inne. „Ich kann es noch gar nicht einordnen.
Der Boden unter meinen Füßen wird fester, aber das meiste schiebe
ich im Moment in den Hintergrund, bis ich mehr Ruhe finde.“ – „Das
ist erst mal wohl das Beste.“ meinte Tina.
Die
Zimmersuche lief glatter, als Anna erwartet hatte. Schon am Samstag
hatte sie zwei Besichtigungstermine. Eines der Zimmer sagte Anna zu
und war sogar sofort beziehbar. Und so kam es, dass sie vier Tage
nach ihrer Ankunft bei einer Frau in den besten Jahren einzog, die
ihre viel zu große Erdgeschosswohnung ansonsten nur noch mit einem
gutmütigen aber ebenfalls viel zu großen Hund teilte.
Die
nächste Hürde verlangte Anna deutlich mehr Geduld ab. Auf dem
Arbeitsamt erklärte man ihr, dass noch Bescheinigungen fehlten, die
Annas ehemaliger Arbeitgeber auszustellen habe. Die Vorstellung, in
ihrer jetzigen Lage ausgerechnet bei der Firma anklopfen zu müssen,
in der sie vor ein paar Monaten ihre Stellung gekündigt hatte, war
Anna nicht sehr angenehm. Darüber hinaus wurde ihr ein
Bewerbungstraining verordnet, dessen Besuch ebenfalls zur
Voraussetzung für einen späteren Leistungsbezug gemacht wurde. „Sie
haben Glück!“ strahlte die Mitarbeiterin des Arbeitsamts Anna
gegen Ende ihres Gesprächs über den Tisch hinweg an. „Schon
nächste Woche findet wieder ein Seminar statt, in dem noch Plätze
frei sind!“ – „Na ja…“ ergänzte sie dann, als sie Annas
verdutzten Blick bemerkte. „Sie haben einen ziemlichen Ritt hinter
sich… Sie werden sehen, das Training wird Ihnen gut tun!“
Fünf
Tage nach ihrer Landung fand Anna sich in einem schmucklosen
Seminarraum auf einem hölzernen Stapelstuhl wieder und versuchte,
dem Schriftzug „So bewerbe ich mich als Akademiker(-in) “, der
vor ihr auf einer Leinwand prangte, einen Sinn
abzuringen.
Teilnehmer, die gelangweilt hinter grauen Tischen
hingen, eine Referentin im taubenblauen Business-Kostüm, die
geschäftig in ihren Unterlagen blätterte, die Lüftung des
Overheadprojektors, die den Raum mit ihrem Surren erfüllte… Anna
hatte bei ihrer überstürzten Abreise aus Peking mit vielem
gerechnet. Aber das? Hatte das wirklich etwas mit ihr zu tun?
Wiederholt ertappte sie sich, wie ihr Blick ungläubig in die Runde
schweifte, als könne jemand der anderen Teilnehmer ihr diese Frage
beantworten.
Die Referentin startete das Seminar mit einer
Vorstellungsrunde. „Bitte nennen Sie nicht nur ihren Namen, sondern
schildern sie kurz, welchen Beruf sie vor ihrer Arbeitslosigkeit
ausgeübt haben und wie es zum Verlust Ihres Arbeitsplatzes kam.“
forderte sie die Teilnehmer auf.
Anna kam als letzte an die Reihe,
aber sie kam weit. „Wie lange sind Sie jetzt schon auf deutschem
Boden?“ unterbrach die Referentin sie unvermittelt mit scharfer
Stimme, als Anna gerade die Umstände ihrer Rückkehr schilderte.
„Heute ist mein fünfter Tag in Deutschland.“ antwortete Anna
perplex. „Wurden Sie bei Ihrer Ankunft am Flughafen ärztlich
untersucht?“ – „Nicht in Deutschland, aber es gab eine
Fiebermessung beim Abflug in Peking.“
Die Gesichtsfarbe der
Referentin wurde blass, dann dunkel, sie holte Luft. „Das ist
unverantwortlich, dass Sie sich nur fünf Tage nach Ihrer Rückkehr
ohne vorherige ärztliche Untersuchung hierher begeben! Sie gefährden
die Gesundheit der anderen Teilnehmer und meine! Man kann mich als
Beamtin zu vielem zwingen, aber nicht dazu, dass ich mich von
Seminarteilnehmern mit einer gefährlichen Krankheit anstecken
lasse!“ – „Aber ich habe keine ansteckende Krankheit!“
versuchte Anna sich zu verteidigen, machte damit jedoch alles nur
schlimmer. „Das können Sie doch nicht beurteilen!“ keifte die
Referentin nun erst recht los. „Keiner weiß wie lang die
Inkubationszeit dieser Krankheit ist! Niemand weiß, wie sie
übertragen wird…“ – „Doch! Das weiß man inzwischen!“
unterbrach da einer der anderen Teilnehmer resolut ihre Tirade.
„…Und wenn Sie es nicht wissen, dann sollten Sie sich besser
informieren, bevor sie anderen Vorwürfe machen!“ Das nahm der
Referentin den Wind aus den Segeln.
Sie zögerte und überlegte
eine Weile. „Also… in einer so unklaren Situation werde ich das
Seminar nicht fortsetzen. Ich werde mich mit meinen Vorgesetzten
abstimmen, wie es weiter gehen soll. Bitte lesen Sie diese Unterlagen
hier durch, bis ich wieder zurück bin.“ Damit gab sie einen Stapel
Kopien in die Runde und verließ eiligen Schrittes den Raum.
Keiner
der Seminarteilnehmer warf auch nur einen Blick in die Unterlagen.
Statt dessen entspann sich rasch ein reger Austausch, der sich
alsbald von Annas Erlebnissen zu allgemeineren
Themen hin bewegte. Anna war froh darum.
Mir wurde bestätigt,
dass es ungefährlich ist, den Unterricht fort zu führen.“ sagte
die Referentin trocken, als sie nach einer halben Stunde wieder vor
die Gruppe trat. Und dann setzte sie das Seminar fort, als sei nie
etwas gewesen.
Dieses
Erlebnis hatte Anna ins Gedächtnis gerufen, dass SARS in China nach
wie vor nicht unter Kontrolle war. Nachdem sie am frühen Nachmittag
dem Seminar entronnen war, suchte sie eine Postfiliale auf
in der es noch Telefonzellen gab.
Sie hatte Glück. „Hi,
Anna hier, wie geht es Euch?“ – „Anna! Wie schön dass Du
anrufst!“ freute sich Abe. „Uns beiden geht es
immer noch gut. Aber die Situation wird härter. Die Fallzahlen
steigen weiter und die Stadtverwaltung hat angefangen,
außerhalb Pekings ein riesiges Militärlazarett mit
sechstausend Betten aufzubauen. Das soll schon Anfang nächster Woche
die ersten Patienten aufnehmen und dann wollen sie dort jeden in
Quarantäne stecken, der hustet…“ Anna erschrak. „Oh, das
klingt schlimm!“ – „Nun, Lin und ich machen das Beste draus!“ Abe
witzelte schon wieder. Sein Galgenhumor schien unverwüstlich zu
sein.
„Wie meinst Du das denn?“ – „Wir sind gerade dabei, zu
heiraten!“ ließ er die Katze aus dem Sack.
Anna hatte es die
Sprache verschlagen. „Wir haben diesen Schritt schon vor einiger
Zeit besprochen, wollten ihn aber erst zum Ende des Jahres gehen.
Aber jetzt…“ er machte eine Pause. „Wenn einer von uns in
dieses Militärlazarett eingeliefert wird, bekommt der andere keine
Informationen, kein Besuchsrecht und kann auch sonst nichts
machen, wenn wir nicht verheiratet sind… Feiern wollen wir
natürlich erst, wenn die Epidemie vorbei ist.“ – „Sind die
Heiratsformalitäten sehr kompliziert für Euch?“ – „Oh, es ist
fürchterlich. Obwohl wir besser daheim bleiben sollten, pendeln wir
zwischen Notaren, Konsulaten und Behörden. Aber wir kommen überall
gleich dran und die Sachen werden schnell bearbeitet. Zur Zeit will
ja niemand etwas von den Ämtern…“ schon wieder blitzte
die Ironie zwischen seinen Worten hindurch. „Hast Du
eine Ahnung, wie lange das noch dauert?“ – „Bis das letzte
Dokument ausgestellt ist dauert es noch Wochen, genau kann uns das
aber niemand sagen.“ – „Was für eine Zerreißprobe! Mit den
Glückwünschen muss ich mich dann wohl gedulden. Aber ich
drücke ich Euch beide Daumen ganz fest, dass Ihr auf jeden Fall
gesund bleibt!“ – „Danke Anna! Und wie läuft es bei Dir?“ –
„Gut soweit. Ich habe ein Zimmer gefunden, wo ich bis zu meiner
Rückkehr wohnen kann. Diese Woche muss ich noch einige Formalitäten
erledigen, danach weiß ich hoffentlich besser, wie es bei mir weiter
geht…“
„Sagtest Du gerade, Du willst zurückkehren?“
– „Habe ich Euch das noch nicht erzählt? Ich hoffe, das wird zum
Beginn des nächsten Semesters kein Problem mehr sein.“ – „WOW!
Dann musst Du unbedingt zu unserer Hochzeitsfeier kommen!“ – „Auf
jeden Fall! Lass uns in Kontakt bleiben…“ – „Na klar,
alles Gute, bis bald!“ – „Klick!“
Anna fühlte
einen Schmerz im Brustraum aufsteigen, als würde gerade
in großer Angelhaken etwas aus ihr heraus reißen
wollen. Zum ersten Mal spürte sie, wie viel von ihr noch dort
war, wo Abe gerade den Hörer aufgelegt hatte und wie wenig von ihr
hier angekommen war, wo sie gerade auf den Ausgang der Postfiliale
zuging, wie verbunden sie war mit dem Dort und wie
abgetrennt vom Hier.
Als
Anna am darauf folgenden Montag den Leistungsbescheid des Arbeitsamts
aus dem Briefkasten fischte, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Es würde
noch etwas dauern, bis das erste Geld kam, aber ihre Rückkehr nach
Peking war hiermit gesichert.
Langsam konnte sie nun endlich
loslassen. Sie schlief viel, ging im nahe gelegenen Park spazieren
oder bummelte durch die Stadt. Wenn es sich ergab, traf sie sich mit
Tina oder anderen Freunden. Sie freute sich über jeden alten
Kontakt, an den sich noch anknüpfen ließ und genoss jede dieser
Begegnungen. Und doch fühlte sie die Zwiespältigkeit
ihrer Situation gerade bei solchen Anlässen besonders deutlich.
Die Verbundenheit mit ihren alten Freunden war nun viel
deutlicher spürbar als früher. Und doch konnte Anna nicht
verdrängen, dass sie eine Transitreisende war, die bald wieder
Abschied nehmen musste.
Es
war schon Ende Mai, als Anna über eine Anzeige stolperte, in der
kurzfristig jemand mit ihrem beruflichen Hintergrund für eine
temporäre Projektunterstützung gesucht wurde. Anna bewarb sich und
bekam den Job. Für die nächsten beiden Monate pendelte sie nun
Montags zu ihrem Einsatzort und kehrte Freitags zurück. Sie war
froh, ihre Wartezeit mit einer Aufgabe überbrücken zu können
und stürzte sich geradezu darauf. Aber auch hier war das Gefühl des
dabei Seins ohne dazu zu gehören nicht zu leugnen.
Ende Juli
beendete eine E-Mail von Abe endlich die Hängepartie. Lin und er
hatten es tatsächlich geschafft. Sie hatten nicht nur ihre
Heiratsformalitäten abgeschlossen sondern auch einen Termin für
ihre Hochzeitsfeier im Herbst angesetzt. Auch seien die
SARS-Fallzahlen in Peking mittlerweile so niedrig, dass die
Universität sich entschlossen habe, für das Herbstsemester wieder
Einschreibungen ausländischer Studenten anzunehmen, schrieb er.
Für
Anna gab es nun kein Halten mehr. Bis zum Semesterstart Anfang
September blieben ihr vier Wochen, in denen es von der Fertigstellung
letzter Arbeiten für ihren Auftraggeber über die Visa-Beschaffung
bis hin zur Abwicklung ihres Zimmers viel zu erledigen gab. Auch in
ihre alte Heimat wollte sie noch einmal fahren, um in ihrem Häuschen
nach dem Rechten zu sehen bevor sie sich ins Flugzeug nach Peking
setzte.
Die
letzten Tage vor dem Abflug waren wie ein Déjà-vu. Wieder traf Anna
alte Freunde zum Abschied, wieder übergab sie einen Schlüsselbund,
bevor sie durch das Gewimmel der Menschen zum Bahnhof ging, wieder
blieb ihr Blick an den geschwungenen Torbögen der Bahnhofshalle
hängen, während der Zug sich langsam in Bewegung setzte.
Sie
hatte jenen Tag im Dezember, als sie glaubte, für immer von dieser
Stadt Abschied nehmen zum müssen, noch gut in Erinnerung. „Wer
kann schon wissen, wann ich das nächste Mal durch dieses Tor
rolle…“ dachte sie diesmal.
Zwei Hochzeiten, kein Tanz
Feuchtheiße
Schwüle schlug Anna entgegen, als sie aus der Flugzeugkabine hinaus
auf die Gangway trat. Der Transfer zur klimatisierten Ankunftshalle
des Pekinger Flughafens dauerte ihr viel zu lang und als der Bus in
der Haltebucht endlich seine Türen öffnete, entließ er eine nass
geschwitzte Herde Reisender, die sich eilig hinter die Glastüren
flüchteten.
Anna war gespannt auf die Taxifahrt zur Uni. Würde
man der Stadt noch anmerken, was vor gut vier Monaten hier
vorgegangen war? Mehrspurige Autolawinen, Menschentrauben an
Bushaltestellen, dauerklingelnde Radfahrer, Passanten mit prallen
Einkaufstüten oder schreienden Kindern an den Händen, Drängeln,
Hasten, Hupen und über allem ein dicht bewölkter Sommerhimmel
empfingen sie. Wenn die Ereignisse dieses Frühlings hier Spuren
hinterlassen hatten, so waren sie dem flüchtigen Blick aus einem
Taxifenster nicht zugänglich, wie Anna schnell feststellte.
Die
ersten Tage an der Uni ließen jedoch bald erkennen, dass
SARS nicht nur für Anna ein Einschnitt gewesen war. Wann immer
sie in Gängen oder Klassenzimmern auf Bekannte traf, waren
die Geschichten rund um SARS Gesprächsthema Nummer Eins. Auch im
Unterricht wurde das Thema nun offen angesprochen und als Aufhänger
für Sprachübungen genutzt. Am erstaunlichsten fand Anna die
Geschichte einer Koreanerin, die im Gegensatz zu den anderen in
Peking geblieben war. Da die Wohnheime auf dem Campus geschlossen
waren, hatte sie sich in Uni-Nähe ein Zimmer bei einer chinesischen
Familie gesucht. Sie erzählte, sie habe täglich mit ihren Eltern
telefoniert, die sie in ihrem Wunsch bestärkten durchzuhalten. Und
ihre Gastfamilie hatte sie wie ein eigenes Kind unter die Fittiche
genommen, so dass sie nur selten von Ängsten geplagt wurde. „Hat
Deine Mutter denn keine Angst um Dich gehabt?!“ fragte daraufhin
eine andere Koreanerin voll vorwurfsvollen Entsetzens. „Doch, sogar
sehr, aber sie hat es sich nicht anmerken lassen.“ war die Antwort.
„Erst hinterher hat sie es zugegeben als ich sie einmal danach
fragte. Sie habe meinen Mut nicht mit ihrer Angst ersticken
wollen, sagte sie. Dafür bin ich ihr dankbar.“
Mitte
September wurde das Wetter trockener und kühler,
Normalität hielt an der Uni wieder Einzug. Die
Unterrichtsroutine, das nachmittägliche Bücher wälzen,
gelegentliche Ausflüge oder ein gemeinsames Abendessen mit Freunden
ließen Anna die Fäden ihres Pekinger Studentenlebens wieder
aufgreifen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als in Ruhe
ihrem Studium nachgehen zu können.
Abe und Lin hatten Anna
wissen lassen, dass ihre Hochzeit für Anfang Oktober angesetzt war.
Beide waren mit den Vorbereitungen vollauf beschäftigt. „Was war
das doch für eine schöne Zeit, als SARS hier für Ruhe gesorgt
hat!“ beklagte sich Abe einmal am Telefon. „Lin muss jeden Tag
Überstunden machen. In ihrem Verlag sind sie wegen SARS mit vielem
im Rückstand und müssen aufholen, nicht einmal unbezahlten Urlaub
wollte man ihr geben. Und ich bin rund um die Uhr am Telefonieren,
tagsüber mit den Leuten hier in China und nachts mit meinen Leuten
drüben in New York. Zum Schlafen komme ich nur noch in der
Mittagspause!“ Anna wunderte sich nicht mehr, dass Abe an
der Uni noch nicht aufgetaucht war. Er hatte von vorne herein
darauf verzichtet, sich für einen weiteren Kurs einzuschreiben.
Einen
Becher dampfenden Kaffees vor sich auf dem Schreibtisch knobelte Anna
eines Nachmittags an der Übersetzung eines Zeitungsartikels, als ein
Anruf sie hochschrecken ließ. „Hallo, Bailong hier! Anna, wie geht
es Dir?“ Es dauerte einen Augenblick, bis Anna die Stimme des
chinesischen Studenten wiedererkannte, bei dem sie in Deutschland
Chinesischunterricht genommen hatte. Über ein Jahr war seither
vergangen. „Bailong, was für eine Überraschung! Danke, mir geht
es gut hier. Bist Du noch in Deutschland?“ – „Nein, ich bin zur
Zeit bei meinen Eltern in Tianjin und bereite meine Hochzeit vor.“
– „Das sind ja gute Neuigkeiten! Ist Mailin auch in Tianjin?“ –
„Nein, sie muss in Deutschland noch zwei Semester durchhalten. Aber
ich habe mein Studium abgeschlossen und kann mich um die
Hochzeitsvorbereitung kümmern. Wir wollten ursprünglich nach
dem Wintersemester heiraten, aber dann ist SARS dazwischen gekommen
und wir mussten alles verschieben. Mailin kann nur zur Hochzeit
herkommen und fliegt dann wieder zurück.“ – „Herzlichen
Glückwunsch zum Studienabschluss, Bailong!“
„Vielen Dank!
Anna, wir würden Dich gerne einladen. Die Feier findet Ende Oktober
statt. Du kannst bei meinen Eltern wohnen.“ Überrumpelt musste
Anna einen Moment Luft holen. Einerseits, eine chinesische Hochzeit
machte sie neugierig. Andererseits würde sie auf der ganzen
Veranstaltung niemanden kennen außer Bailong und Mailin. Und was
wusste sie schon über deren Familien? Nur dass Bailong Sohn eines
hochrangigen Tianjiner Politikers war, was darauf schließen ließ,
dass auch Mailins Familie sich in ähnlichen Kreisen bewegte. „Vielen
Dank für die Einladung, das ist eine große Ehre für mich!“
brachte sie schließlich hervor. „Anna, ich habe meinen Eltern oft
von Dir erzählt. Auch sie würden sich freuen, Dich einmal
persönlich kennen zu lernen.“ legte Bailong nach, dem Ihr Zaudern
offensichtlich nicht entgangen war. „Gerne möchte ich Deine
Eltern kennen lernen, aber an einer chinesischen Hochzeit
teilzunehmen ist nicht einfach für mich. Ich kenne mich mit Euren
Hochzeitsgebräuchen nicht aus und würde mich ständig daneben
benehmen.“ – „Du hast recht, zwischen Euren und unseren
Hochzeitsbräuchen gibt es viele Unterschiede…“ Annas Einwand
machte Bailong nachdenklich, aber er ließ nicht locker. „Wir
werden Dir helfen, Dich auf unserer Hochzeit wohl zu fühlen. Mach‘
Dir keine Sorgen, wir kümmern uns darum!“ War ihm wirklich so
schnell eine Lösung eingefallen? Anna gingen langsam die Argumente
aus. „Wann findet Eure Hochzeit denn statt?“ – „Am letzten
Oktoberwochenende. Am besten Du fährst gleich am Freitagmittag nach
der Uni mit der Bahn nach Tianjin.“
Offensichtlich war es
Bailong ernst mit der Einladung. Warum auch hätte er sie sonst
kontaktieren sollen? Sie hätte von seiner Hochzeit wohl niemals
erfahren, wenn er sich nicht gemeldet hätte. Vielleicht ist es keine
gute Idee, wenn ich mich jetzt drücke, ging es ihr durch den Kopf.
„Sicher habt Ihr mit Euren Hochzeitsvorbereitungen sehr viel
zu tun.“ sagte sie zögerlich. „Da möchte ich ungern eine
zusätzliche Belastung sein…“ – „Das bist Du sicher nicht,
Anna! Wir freuen uns wenn Du kommst! Lass mich wissen wann Dein Zug
in Tianjin ankommt, wir holen Dich vom Bahnhof ab.“ – „Also gut,
ich komme. Wie kann ich Dich in Tianjin denn erreichen?“ – „Meine
Mailadresse hat sich nicht geändert. Ich schicke Dir noch die
Telefonnummer meiner Eltern. Auch wenn ich nicht da sein sollte, ist
immer jemand zu erreichen.“ – „Danke, ich melde mich.“ – „Auf
Wiedersehen, Anna!“
Der Kaffee war mittlerweile kalt geworden.
Anna stand auf um ihn wegzuschütten und sich neuen aufzubrühen.
„SARS scheint eine wahre Hochzeitswelle im Gefolge zu haben…
wenn sogar ich in einem Monat gleich auf zweien tanzen muss… dabei
war eben gerade alles noch so schön ruhig!“ Sie setzte sich
wieder hinter die Bücher.
Abe
und Lin hatten sich eine stilgerecht restaurierte traditionelle
Pekinger Hofhausanlage für ihre Hochzeitsfeier ausgesucht.
Durch ein rot gestrichenes Seitentor trat Anna in einen schattigen
Laubengang, von dem aus sie den Innenhof gut überblicken konnte. Die
Nachmittagssonne beschien ein knappes Dutzend gut besetzter
Stuhlreihen, die zu einer blumengeschmückten Bühne im Vorderteil
des Innenhofs hin ausgerichtet waren. Der Bühne gegenüber, im
hinteren Bereich der Anlage, war offensichtlich ein Restaurant
untergebracht.
Vor der Bühne entdeckte sie den mit Anzug, Hemd
und Fliege herausgeputzten Abe. Er stand mit zwei kahl rasierten
buddhistischen Mönchen in dunkelroter Robe beisammen. Einer der
Mönche war Chinese, der andere hatte jedoch europäische
Gesichtszüge. Ein munter schwatzendes Grüppchen Amerikaner in
Abendrobe hielt sich beim Restaurant hinten an Sektkelchen fest,
während der chinesische Teil der Hochzeitsgesellschaft sich
abwartend auf den Stuhlreihen niedergelassen hatte. Lin war nirgends
zu sehen.
Anna blieb unschlüssig im Laubengang stehen, aber es
dauerte nicht lange, bis Abe sie bemerkte. „Willkommen auf unserer
Hochzeit!“ kam er auf sie zu. „Schön dass Du da bist! Hier
entlang, ich stelle Dich meinen Eltern vor!“. Neugierige Blicke
musterten Anna aus den Zuschauerreihen, während Abe sie zu seiner
Familie führte. „Nimen Hao“ grüßte sie im Vorbeigehen in
Richtung der Sitzenden und erhielt von vielen ein freundlich
nickendes „Ni Hao“ zurück.
„Lasst mich Euch Anna
vorstellen. Sie kommt aus Deutschland und wir haben in der gleichen
Klasse Chinesisch gelernt.“ stellte Abe Anna vor. „Sie hat sich
bereit erklärt, Euch beim Übersetzen zu helfen, wenn Ihr Euch mit
Lins Familie unterhalten wollt. Aber treibt es nicht zu weit, ich
möchte nicht, dass Anna vor meiner Familie die Flucht ergreifen
muss!“ Abe hatte damit offensichtlich den richtigen Ton getroffen.
Sein Vater streckte Anna mit einem fröhlichen „Hello!“ die Hand
entgegen und bald darauf war sie, nun ebenfalls mit einem Sektglas
versehen, in Geplauder verstrickt.
Ein
Gong unterbrach den Smalltalk. Während Abes Familie sich zu den
wenigen noch freien Sitzplätzen in den vordersten Reihen begab,
steuerte Anna einen Platz in der vorletzten Reihe an. Mit einem
verschmitzten Lächeln hatte Abe auf einem der beiden Stühle Platz
genommen, die in der Mitte der Bühne standen. Die Mönche
stellten sich mit einem Skript in den Händen vor der Bühne auf
und als es still geworden war, ergriff der chinesische Mönch als
erster das Wort. Während er schilderte, wie die bevorstehende
Zeremonie ablaufen sollte und welche Bedeutung die einzelnen Elemente
hatten, lächelte Abe erwartungsvoll in die Runde. Lampenfieber
schien für ihn ein Fremdwort zu sein. Der europäische Mönch
wiederholte die Rede des chinesischen auf Englisch. Wie sich
herausstellte, hatten Abe und Lin mit Unterstützung der Mönche eine
individuelle Choreographie entworfen, die chinesische, buddhistische
und jüdische Elemente miteinander verbinden sollte.
Den Auftakt
machte jedoch der Einzug der Braut zu den Klängen eines
Hochzeitsmarschs, den einstmals ein aus Hamburg stammender
Organist komponiert hatte. Hinten öffneten sich die Türen des
Restaurants und eine Handvoll chinesischer Mädchen in roten
Kleidchen tapste Blumen streuend Richtung Bühne, hinter ihnen
kam Lin am Arm ihres Vaters. Mit der chinesischen Tradition brechend
hatte sie sich für ein weißes Seidenkleid entschieden, zu dem die
roten Rosen ihres Brautstraußes und ihr tief schwarzes Haar einen
gelungenen Kontrast bildeten. Im Gegensatz zu Abe wirkte sie
angespannt, während sie bedächtig Schritt vor Schritt setzte.
Nachdem sie jedoch neben Abe auf der Bühne Platz genommen hatte,
entspannten sich ihre Züge und als die Mönche dem Brautpaar bunte
Blumengirlanden umhängten lächelte auch sie. Nacheinander traten
nun Abes und Lins Vater für eine kurze Ansprache auf die Bühne,
jeweils gefolgt von einer Übersetzung durch den passenden
Mönch.
Dann war auch schon das Brautpaar an der Reihe. Beide
erhoben sich, während einer der Mönche zwei kleine Gläser mit Wein
auf die Bühne brachte. Nachdem das Paar Brüderschaft getrunken
hatte, trug der andere Mönch ein Kissen herbei, auf dem die
Ringe lagen. Sämtliche Augenpaare beider Familien folgten ihren
Bewegungen, als Abe und Lin sich gegenseitig die Ringe an die
Finger steckten. Als sie sich anschließend küssten, begann Abes
Familie laut zu applaudieren. Lins Familie schaute zunächst
verdutzt, um sich dem Applaus dann zögerlich anzuschließen.
Bis
jetzt hatte die Zeremonie auf Anna nicht sehr exotisch gewirkt. Aber
nun brachten die Mönche eine dicke Fußmatte und zwei Wassergläser
herbei. Die Matte wurde vor den Brautleuten ausgebreitet und die
beiden Gläser so darauf abgelegt, dass sie nicht wegrollen konnten.
Abe und Lin hielten sich gegenseitig an den Händen, während jeder
von ihnen mit Schwung und lautem Krachen eines der Gläser
zertrat.
Wieder war es Abes Familie, die zuerst applaudierte.
Leise Musik setzte ein, während Abe und Lin sich auf der Bühne
erleichtert umarmten. „Abe war wohl doch nicht so locker, wie er
gewirkt hat…“ dachte Anna.
Nach
und nach standen die Hochzeitsgäste nun auf und schlenderten zum
Restaurant. Auch hier dominierten westliche Hochzeitssitten. Es war
ein Buffet angerichtet und drei Tischreihen waren für die Gäste
eingedeckt. Dabei hatte man Essteller und Besteck einfach mit
Reisschalen und Stäbchen aufgestockt. In der Ecke war ein vierter
Tisch aufgebaut, auf dem sich die Hochzeitsgeschenke sammelten. Nur
eine Tanzfläche suchte Anna vergebens.
Anna hatte schon oft
erlebt, dass die Familien der Brautleute sich auf Hochzeiten fremd
gegenüber standen. Auf dieser Hochzeit war es besonders deutlich zu
beobachten. Anfangs sorgte nur das Buffet dafür, dass Angehörige
beider Parteien einander näher kamen und ein paar Grußformeln
austauschten. Für das Brautpaar und die Eltern waren feste Plätze
reserviert, davon abgesehen gab es keine
Tischordnung. Das kleine Häuflein Westler saß folglich
bald geschlossen um eine Tischhälfte herum, während
die chinesischen Gäste den großen Rest der Plätze
auffüllten.
Als jedoch der erste Hunger gestillt und der
Alkoholpegel gestiegen war, erhoben sich einige aus Abes Familie
und versuchten, sich zwischen Lins Verwandte zu setzen. Dort gab es
keine freien Stühle, unhöflich wollte man aber auch nicht sein.
Also stand man auf, einige schleppten Stühle herbei, andere blieben
unschlüssig in kleinen Grüppchen beieinander stehen. Während
Abe und Lin das Tohuwabohu amüsiert betrachteten, wurde Anna
von einer Tante Abes gebeten, sie als Übersetzerin zu begleiten. War
es Zufall, dass Abes Leute in Lins Verwandtschaft immer gerade auf
diejenigen trafen, die wenigstens ein bisschen Englisch konnten? „So
etwas kann sich eigentlich nur Abe ausdenken…“ dachte Anna
schmunzelnd.
Die Eisbrecher-Taktik seiner Leute verfehlte ihre
Wirkung nicht. Nachdem die Hochzeits-gesellschaft einmal in Bewegung
und der Rückzug auf feste Stammplätze unmöglich geworden war,
dauerte es nicht lange, bis man vom höflichen Smalltalk zu lockerem
Geplauder überging.
Suchend
ging Anna im Menschengewimmel des Tianjiner Bahnhofsvorplatzes auf
und ab. Eine steife Meeresbrise ließ sie fröstelnd an den
bevorstehenden Winter denken. Ihn würde auch die Oktobersonne nicht
aufhalten, die den Platz jetzt noch einmal zu erwärmen versuchte.
Nach einer ganzen Weile näherte sich ihr ein offiziell aussehender
älterer Herr in taubenblauem Anzug samt Hemd und Krawatte, der ein
Schild mit ihrem Nachnamen hochhielt. Nachdem er sich in bestem
Englisch als der Chauffeur von Bailongs Familie vorgestellt hatte,
dirigierte er Anna höflich aber bestimmt in Richtung einer unweit
geparkten schweren Limousine. Von der Windschutzscheibe einmal
abgesehen waren die Fenster des auf Hochglanz polierten Fahrzeugs
rundum verspiegelt, was Anna Unbehagen einflößte.
Nach
einer halben Stunde erreichte die Limousine ein von einem hohen
Eisenzaun umgebenes Ensemble aus Mehrfamilienhäusern, deren
luxuriöse Bauweise wenig mit den zigstöckigen Plattenbauten gemein
hatte, an denen sie bisher entlang gefahren waren. Am Eingang traten
zwei Sicherheitsleute aus einem Wachhäuschen und brachten die
Limousine zum Anhalten. Der Chauffeur forderte Anna auf, den Wächtern
ihren Reisepass zur Sicherheitsüberprüfung auszuhändigen.
Beklommen kam Anna der Aufforderung nach und beobachtete, wie der
Reisepass im Wachhäuschen eingehend studiert und dann auf ein Fax-
oder Kopiergerät gelegt wurde. Zäh vergingen einige Minuten. „Keine
Sorge, diese Prüfung müssen wir hier für jeden Fremden
durchführen, der zu Besuch kommt.“ Dem Chauffeur war Annas
Anspannung nicht entgangen. „Es dauert nur beim ersten Mal so
lange, danach kennen die Wachleute Dich.“ versuchte er sie zu
beruhigen.
Bailongs Familie nannte eine weitläufige Wohnung im
obersten Stockwerk ihr Zuhause, die sogar für chinesische
Verhältnisse leer wirkte. Edles Eichenparkett, ein heller
Seidenteppich, darauf eine raumgreifende Couchgarnitur aus feinstem
Leder und eine großformatige Intarsie an der Wand darüber
versuchten vergeblich, in dem riesigen Wohnzimmer den Anstrich von
bewohnt Sein zu erwecken. „Du kannst hier warten, Bailongs Mutter
kommt gleich.“ Der Chauffeur deutete zur Couch. „Ich bringe Dein
Gepäck inzwischen ins Gästezimmer.“ Er packte Annas Reisetasche
und verließ den Raum. Leise hallte das Klappen der sich schließenden
Zimmertür von den Wänden wieder.
Nach einigen Minuten wurde die
Tür erneut geöffnet und eine Chinesin mittleren Alters betrat den
Raum. Zügig überwand sie die Distanz zur Couch. „Ich bin Bailongs
Mutter, willkommen in unserer Familie!“ Der Umgang mit Westlern
konnte nichts Neues für sie sein, denn sie streckte Anna mit einem
freundlichen Lächeln die Hand zur Begrüßung hin. „Hattest Du
eine gute Anreise?“ – „Vielen Dank! Ja, es lief alles bestens.“
– „Komm mit in die Küche, wir bereiten gerade das Abendessen vor.“
Anna war froh, das Wohnzimmer wieder verlassen zu können und folgte
ihr über den langen Flur.
In der Küche wurde Anna von glänzenden
Fronten und hochmodernen Geräten überrascht. Der Raum war mit einer
Einbauküche des nobelsten deutschen Anbieters ausgestattet, der zur
Zeit auf dem Markt war. Zwei chinesische Küchenmädchen machten sich
darin zu schaffen und gaben mit ihren schlichten Schürzen einen
harten Kontrast ab. „Bailong hat uns so lange von der Qualität
deutscher Küchen vorgeschwärmt, bis wir uns diese hier gekauft
haben!“ Bailongs Mutter schien Annas Verwunderung nicht entgangen
zu sein. „Wir haben sie bei einem Besuch in Deutschland ausgesucht
und dann per Schiff nach Tianjin transportieren lassen. Leider komme
ich nur selten dazu, selbst darin zu kochen. Ich bin Ärztin und die
Arbeit im Krankenhaus lässt mir wenig Freizeit. – Komm, setzt Dich.“
Sie deutete auf einen kleinen Küchentisch am Fenster. Eines der
Mädchen entnahm dem mannshohen Kühlschrank einen Krug Limonade und
servierte sie mit ein paar Keksen. Bailongs Mutter erwies sich als
aufmerksame Zuhörerin, mit der Anna leicht ins Gespräch kam.
Bailong musste ihr von Annas Bedenken erzählt haben, sich mit
chinesischen Hochzeitssitten nicht auszukennen, denn seine Mutter kam
von sich aus auf das Thema zu sprechen. Offensichtlich bereitete es
ihr Vergnügen, alles detailliert zu schildern, Annas Fragen zu
beantworten und ihr Tipps zu geben.
Annas anfängliche
Beklommenheit zerstreute sich langsam. Und als Tags darauf die
schwere Limousine mit den Spiegelfenstern vorfuhr um sie gemeinsam
mit Bailongs Mutter und deren Schwester zur Feier zu fahren, war
nichts mehr davon übrig.
Die
Limousine machte vor dem äußerlich schmucklosen Neubau einer
Versammlungshalle halt. Im Foyer wurden sie von Bailong und seinem
Vater begrüßt. Ein halbes Dutzend junger Leute hatte alle Hände
voll zu tun, den Ankömmlingen Garderobe und Geschenke abzunehmen und
sie in die Halle zu ihren Plätzen zu führen. Die Halle war größer,
als der äußere Eindruck dies vermuten ließ. Dem Eingang gegenüber
nahm eine rot eingekleidete Bühne ihre Frontseite ein, darüber
prangte ein ebenfalls rotes Spruchband. „Hochzeitsfeier von Liu
Bailong und Chen Mailin“ entzifferte Anna. Runde Esstische, an
denen zwölf Personen Platz fanden, füllten die Halle davor
vollständig aus. Auch hier also keine Tanzfläche, stellte Anna
fest. Sie überflog die Tischreihen und kam auf etwa fünfzig Tische,
Platz für an die sechshundert Gäste.
Die meisten waren schon
eingetroffen, manche hatten Platz genommen, andere standen in kleinen
Gruppen beisammen. Erst jetzt fiel Anna auf, wie schlicht die
Anwesenden gekleidet waren. Wohl trugen Bailong und sein Vater dunkle
Anzüge, Hemd und Krawatte, aber damit waren sie eine Ausnahme.
Ältere Männer kamen in legerer Freizeitkleidung, ihre Frauen in
Jerseyhosen mit Bluse. Nur die jungen Frauen trugen Kleid, ihre
Männer Hemd mit Krawatte zu Jeans. Abendroben und schwarze Anzüge
konnte Anna nirgends entdecken, dafür an den vordersten Tischen
einige alte Männer in Trainingsanzügen, wie sie für chinesische
Schuluniformen typisch waren. Annas für westliche Hochzeiten eher
schlichte Aufmachung blieb hier gerade noch im Rahmen. Nachdem sie
ihre Tischnachbarn begrüßt und sich die Lage ihres Platzes gut
eingeprägt hatte, zog es sie wieder ins Freie, denn sie wollte
Mailins Ankunft nicht verpassen.
Es war nur der engere
Familienkreis, der sich nach und nach auf dem Bürgersteig vor dem
Halleneingang versammelte. Bailong und sein Vater gesellten sich dazu
und die jungen Leute, die vorher den Garderobendienst versehen
hatten, schleppten Kisten voller Böller herbei um sie in einiger
Entfernung an die Bordsteinkante zu stellen. Auch zwei
Fotografen hatten sich eingefunden. Bailong war seine Aufregung
anzumerken, wiederholt trat er von einem Fuß auf den anderen bis
sein Vater ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legte.
Ein
Raunen ging durch die Gruppe, als eine schwarze Limousine mit
Blumenschmuck auf der Kühlerhaube in die Straße einbog. Das
war das Signal, die Böller zu zünden. Als der Wagen zum Stehen
gekommen war, entstieg Mailin ihm in einer langen
roten Hochzeitsrobe. Jemand drückte ihr einen üppigen
Brautstrauß in die Hände und sie bleib vor der Limousine stehen, um
den Fotografen Zeit für ihre Bilder zu geben. Einige Augenblicke
lang lächelte sie gelassen in die Runde. Offensichtlich war dies ihr
Tag und sie schien den Moment genießen zu können. Die
Umstehenden waren hingerissen und als Bailong auf Mailin zuging um
sie in die Halle zu führen, kam Applaus auf.
Was nun kam, wirkte
auf Anna wie ein Parteitag mit hochzeitlichen Einlassungen und
anschließendem Bankett. Während Mailin und Bailong sich an ihren
Tisch in der ersten Reihe setzten, nahmen auch die restlichen Gäste
ihre Plätze ein. Bailongs Vater spulte die Begrüßungsrede
ohne Skript und mit der aalglatten Routine eines Berufspolitikers ab.
Mailins Vater, der anschließend an der Reihe war, fiel es deutlich
schwerer, vor dem ganzen Saal seine Ansprache zu verlesen.
Nacheinander standen nun weitere ältere Herren von den vordersten
Tischen auf um die Anwesenden mit ihren Vorträgen zu beglücken.
Meist ging es dabei um Fortschritt, Entwicklung und
Zukunftsaussichten in Tianjin und China und um die Bedeutung, die
diese Rahmenbedingungen für das junge Paar hatten. Von Rede zu Rede
wurde deutlicher, welch gewaltigen Berg an Erwartungen beide Familien
auf den Schultern des jungen Paares ab luden. Der Druck, der auf
ihnen lastete, musste enorm sein.
Gelangweilt
ließ Anna ihren Blick durch den Saal schweifen, bis er an der
Sitzordnung der beiden zentrale Tischen in der ersten Reihe haften
blieb. Mailin und Bailong saßen umgeben von Mailins Familie an dem
einen, Bailongs Familie war hier nur durch
seine Mutter vertreten. Der andere Tisch aber
war wie ein Altherrenstammtisch besetzt mit Bailongs
Vater, den Herren mit den Trainingsanzügen und einigen weiteren
in Freizeitkleidung. Keine einzige Frau war darunter.
Endlich,
Anna hatte fast nicht mehr damit gerechnet, trat auch Bailong auf die
Bühne. Nach einer langen Kette von Danksagungen an die Adresse
seiner Eltern bat er Mailin neben sich. Auch sie bedankte sich
ausführlich für alles, was ihre Familie für sie getan hatte. Beide
verneigten sich vor den vordersten Tischen. Bailongs Vater
brachte nun zwei kleine Weingläser auf die Bühne, Mailins Vater
folgte ihm mit einer kleinen Schmuckschachtel in den Händen. Nach
all den schwergewichtigen Ausführungen der letzten Stunde war Anna
überrascht, nun doch noch so etwas wie ein Hochzeitsritual zu sehen
zu bekommen.
Nachdem Mailin und Bailong Brüderschaft getrunken
und die Ringe getauscht hatten, gab es sogar noch einen schüchternen
Brautkuss für Mailin. Damit war der offizielle Teil der Feier
abgeschlossen und man widmete sich den Speisen, die nach und nach
hereingetragen wurden.
Überrascht
ging Anna auf Abe zu, als sie ihn an einem grauen Novembernachmittag
in der Uni-Caféteria hinter seinem Laptop sitzen sah. „Hallo Anna,
wie geht’s? Komm setzt Dich her, wir haben uns schon lange nicht
mehr miteinander unterhalten!“ – „Ja, das ist wahr! Mir geht’s
gut, danke. Wie kommt es, dass Du an der Uni unterwegs bist?“
– „Wir haben uns von der Hochzeit inzwischen erholt, ich habe
wieder Zeit zum Lernen. Die Uni hat mir ausnahmsweise eine
Einschreibung mitten im Semester ermöglicht und heute habe ich die
Formalitäten erledigt.“ – „Weißt Du schon, in welche Klasse sie
Dich stecken?“ – „Nein, noch nicht. Sag mal Anna, wie war es denn
auf dieser Hochzeit in Tianjin?“ – „Die Braut war wunderschön,
das Essen war sehr gut und Bailongs Mutter bemühte sich sehr, mich
durch alles heil hindurch zu dirigieren. Davon abgesehen war es ein
Kongress mit anschließendem Abendessen. Es war nicht zu übersehen,
dass Bailong aus einer hochrangigen Politikerfamilie stammt.“ –
„Stimmt, traditionelle chinesische Feiern sind viel stärker auf
die Bedeutung der beiden Familien ausgerichtet als
unsere.“ nickte Abe.
„Wie habt ihr es eigentlich
geschafft, hier in Peking eine westliche Hochzeit zu feiern, noch
dazu mit einer solchen Überzahl an chinesischen Gästen?“
Abe, der sonst selten um Antworten verlegen war, musste nachdenken.
„Hm… dafür gab es mehrere Gründe…“ begann er. „Zum einen
hat Lin schon eine traditionelle chinesische Hochzeit hinter sich,
aber die hat ihr kein Glück gebracht. Ihre erste Ehe zerbrach nach
vier Jahren. Diesmal wollte sie etwas anderes, daher musste ich sie
nicht lange überreden. Der andere Grund ist viel profaner. Die
Hochzeit wurde von meinen Eltern bezahlt und so wollten sie natürlich
auch ihre Vorstellungen einbringen.“ – „Gehörte dazu auch diese
Eisbrecher-Nummer, die einige Deiner Verwandten nach dem Essen
durchgezogen haben?“ Abe kicherte. „Oh, das haben meine
Mutter und ich ausgeheckt. Lin hat uns erzählt, wer aus ihrer
Familie Englisch kann und dann haben wir in meiner Familie die
mutigsten herausgepickt…. Meine Mutter glaubt, dass sich Lins
und meine Familie nach der Hochzeit wohl nie wieder treffen werden.
Daher wollte sie so viele Kontaktmöglichkeiten schaffen wie
möglich. Wie ich sie kenne wird sie daheim jetzt einen
Eisbrecher nach dem anderen auszuhorchen versuchen.“ – Anna staunte
nicht schlecht über so viel Raffinesse.
„Und wo hast Du die
buddhistischen Mönche aufgetrieben, die die Zeremonie geleitet
haben?“ – „Oh, das sind alte Freunde von mir. Bevor ich hier an
die Uni kam, war ich ein Jahr in einem buddhistischen Kloster zum
meditieren, dort habe ich sie kennen gelernt.“ – „Das Jahr im
Kloster scheint Dir Glück gebracht zu haben.“ bemerkte Anna.
„Hm… da liegst Du vermutlich richtig.“ gab Abe schmunzelnd
zu.
Wurzeln
Der Hochzeitstrubel hatte sich gelegt und Anna genoss die relative Gleichförmigkeit ihres Studentenlebens nun umso mehr. Zwischen Unterricht, gelegentlichen Ausflügen und Lernen verging der Herbst wie im Flug und ehe sie es sich versah, war der Winter über Peking hereingebrochen, knochentrockenes Graubraun überall, kahl und kalt.
Eines
Nachmittags, Anna kam gerade vom Einkaufen zurück ins Wohnheim, sah
sie im Foyer eine kräftig gebaute Asiatin vor dem Empfangstresen
stehen, neben sich zwei riesige Koffer. Die Wohnheimmanagerin war
dabei, der Neuen die Zimmerschlüssel auszuhändigen und ihr die
Wohnheimregeln zu erklären. Es war unschwer erkennbar, dass die Neue
nur wenig von dem verstand, was ihr gepredigt wurde. „Das kenn‘ ich
nur zur gut… aber leider kann ich weder mit Japanisch noch mit
Koreanisch oder gar Thailändisch aushelfen.“ dachte Anna im
Vorbeigehen. Im zweiten Stock angekommen, bemerkte sie von weiter
unten das Trappeln und Schnaufen von jemand, der es eilig hatte. Aber
Anna war in Gedanken schon bei dem Becher dampfenden Kaffees, mit dem
sie sich auf ihrem Zimmer aufwärmen wollte und nahm unbeirrt die
Treppe zum dritten Stock in Angriff.
„Hallo, konsch‘ mr‘ bidde
helfe d‘ Koffr‘ nouf z’schlebbä?“ erklang es kurz darauf atemlos
aber mit unverkennbar schwäbischem Akzent hinter ihr. Anna konnte
ihr Erstaunen nicht ganz verbergen, als sie hinter sich die Asiatin
entdeckte, die unten am Empfang gestanden hatte. Solche Reaktionen
schienen dieser jedoch nicht neu zu sein. „Also, i‘ bin die Thuan
un‘ komm‘ ous Reutlinge!“ stellte sie sich mit einem verschmitzten
Lächeln vor, dabei Annas Reaktion sichtlich auskostend. „Ich heiße
Anna…“ erwiderte diese etwas perplex. „Lass mich nur eben noch
meine Einkäufe ins Zimmer stellen, dann komme ich runter und helfe
Dir.“ – „Dank‘ schön, bis glei’…“
Anna
und Thuan freundeten sich schnell an. Wie sich herausstellte war
Thuan eine Deutsche mit vietnamesischem Vater und chinesischer
Mutter. Als Thuan zwei Jahre alt gewesen war, musste ihre Familie
unter katastrophalen Bedingungen aus dem damaligen Saigon fliehen und
war durch eine der Hilfsaktionen zur Rettung der „Boat People“
nach Deutschland gekommen. Thuan sprach Deutsch und Vietnamesisch,
aber Chinesisch war auch für sie eine Fremdsprache, die sie nun
im Rahmen ihres Studiums erlernen wollte. Für Anna war es immer
wieder überraschend zu erleben, wie tief Thuan emotional mit ihrer
vietnamesisch-chinesischen Herkunft verwoben war, obwohl sie ihr
ganzes bewusstes Leben in Deutschland verbracht hatte.
Sag‘ mal
Anna, interessierst Du Dich für Konfuzius?“ wollte sie einmal
während eines gemeinsamen Mittagessens wissen. „Ja schon…“
erwiderte Anna zögernd. „Aber wenn ich’s recht überlege, weiß
ich erschreckend wenig über ihn.“ – „Ich möchte mir einmal die
Residenz seiner Familie in Qufu ansehen.“ sprudelte es da aus Thuan
heraus. Dort gibt es auch den Konfuzius-Tempel und den
Familienfriedhof der Familie Kong, da muss ich unbedingt bald
hinfahren!“ Thuans Augen glänzten. „Davon habe ich auch schon
gehört…“ Wieder einmal staunte Anna, wie sehr die kulturellen
Wurzeln ihrer Familie Thuan umtrieben. „Was hältst Du davon, wenn
wir uns das an einem der nächsten Wochenenden zusammen anschauen?“
bohrte Thuan weiter. „Aber ist das nicht irgendwo ziemlich weit
unten in Shandong?“ So interessant Anna die Sehenswürdigkeiten in
Qufu auch fand, sie hatte Zweifel, ob ein Wochenendtrip dorthin
wirklich eine gute Idee war. „Allein die Zugfahrt da runter kann ja
schon an die acht Stunden dauern…“ – „Dann müssen wir eben
Freitagmittag gleich nach dem Unterricht los, dann haben wir den
ganzen Samstag für Qufu und am Sonntag genügend Zeit für die
Rückreise.“ Thuan schien nicht locker lassen zu wollen. „Okay,
das ist ein Plan der funktionieren kann…“ Anna streckte die
Waffen. „Dann lass es uns auch bald angehen, übernächstes
Wochenende hätte ich Zeit.“ schlug sie vor. „Prima, abgemacht!“
Thuan strahlte.
Die
Morgensonne brachte den Rauhreif auf dem vertrockneten Gras am
Wegrand zum Glitzern, als Thuan und Anna in Qufu die lange Allee
hinunter schritten, die direkt auf den Eingang der Konfuzius-Stätten
zulief. Fröstelnd beschleunigten sie ihre Schritte und waren die
ersten Besucher, die an diesem Tag die Anlage betraten.
Zunächst
wandten sie sich den verwinkelten Räumen und Innenhöfen der
ehemaligen Residenz der Familie Kong zu, die sich über ein sechzehn
Hektar großes Grundstück erstreckten. Konfuzius‘ Nachkommen waren
von den Kaisern dazu bestimmt worden, die konfuzianischen Riten im
Tempel durchzuführen und bewohnten die vierhundertsechzig Räume bis
in die vierziger Jahre hinein. Jahrtausende lang von den
Herrschenden beschenkt und alimentiert, nannten sie zum
Zeitpunkt ihrer Vertreibung den größten Grundbesitz ganz Chinas ihr
Eigen, ebenso einmalig war die Ausstattung ihres Familiensitzes.
Der
Ahnentempel des Konfuzius war nur durch eine Mauer davon getrennt und
wartete auf seinen zweiundzwanzig Hektar Grundfläche mit weiteren
Überraschungen auf. Die Anlage bestand aus neun Höfen, der Tempel
selbst war dreigliedrig. Von Größe und Ausstattung her konnten sich
neben ihm nur noch die Gebäude der verbotenen Stadt sehen
lassen.
Das himmelwärts gebogene Doppeldach der Haupthalle war
mit gelben Dachziegeln gedeckt, der Farbe die ansonsten
ausschließlich für den Kaiser verwendet werden durfte. Es ruhte auf
zehn Steinsäulen, jede aus einem einzigen Stein heraus gehauen. Auf
ihnen ringelten sich mit der Sonne spielende Drachen, das Symbol
des Himmelssohns, ebenfalls dem Kaiser vorbehalten. Und die
Reliefkunst dieser Säulen gab es in dieser Vollendung nicht einmal
in der verbotenen Stadt selbst. Das ganze Bauwerk war eine einzige
Respektsbezeugung der Kaiser für den Philosophen, der sie das
Regieren gelehrt hatte. Anna hatte nicht erwartet, dass es in China
einen Ort geben könnte, an dem selbst die Kaiser sich verneigten.
Hier war er. Vor ihrer Inthronisation und nach militärischen Siegen
waren sie reihenweise hier her gekommen, um dem von ihnen verehrten
Weisen zu huldigen.
Nur durch Bildung könne der Mensch zu einem
„edlen“ Menschen werden, hatte der gelehrt. Folgerichtig schloss
sich gleich an die Haupthalle des Tempels die „Literaturhalle“
mit ihrer steinernen Bibliothek an. Ihr Dach erstreckte sich über
die ganze Länge der Tempelanlage, darunter reihte sich Wand an Wand,
vollständig bedeckt mit beschrifteten Steintafeln. Generationen
angehender kaiserlicher Beamter hatten diese Texte auswendig gelernt
um sich auf ihre Prüfungen vorzubereiten.
Gegen
Mittag hatten sich Anna und Thuan durch alle neun Höfe
durchgearbeitet und brauchten dringend eine Pause. Sie suchten sich
in einem Innenhof eine von der Sonne beschienene Holzbank und packten
ihre mitgebrachten Dampfbrötchen aus. Erschlagen von den
Superlativen des Tempels aßen sie schweigend und ließen sich von
der Sonne aufwärmen. Nachdem die Lebensgeister langsam wieder zurück
gekehrt waren, machten sie sich erneut auf den Weg um den Friedhof
der Familie Kong zu erkunden.
Schon auf den ersten Schritten war
zu erkennen, dass dieses Gräberfeld mit nichts zu vergleichen war,
das Anna jemals zuvor gesehen hatte. Zwischen kahlen Laubbäumen und
unter dunklen Zypressen reihten sich die Grabhügel, Stelen und
Skulpturen der über hunderttausend Gräber der Nachfahren des
Konfuzius aneinander soweit das Auge reichte. Wohl hatte Anna
gelesen, dass in dieser Anlage sechsundsiebzig Generationen der
Familie Kong auf dreißig Quadratkilometern Fläche begraben waren,
dennoch war das schiere Ausmaß des Friedhofs unfassbar.
Die
schräg stehende Wintersonne warf scharfe Schatten auf das trockene
Laub zwischen den Bäumen, Hügeln und Stelen, während Anna und
Thuan versuchten, sich zu orientieren. „Komm Anna, lass uns erst
einmal das Grab des Konfuzius ansehen!“ schlug Thuan vor. „Gute
Idee, fangen wir mit dem ältesten an und laufen dann langsam weiter
zu den jüngeren. Dann tappen wir nicht so ratlos hier herum…“
Als
sie ihr Ziel erreicht hatten war eine gute halbe Stunde vergangen, in
der beide kaum ein Wort gesprochen hatten. Das Grab des 479 v. Chr.
verstorbenen Konfuzius war das größte der gesamten Anlage und doch
schlicht gehalten. Eine Stele, deren Inschrift den hier Ruhenden als
„vollendeten, heiligen König der Kultur“ auswies, ein Altar und
ein kleiner Schrein standen auf dem Platz vor dem Grabhügel, an den
Seiten ein paar schlanke Zypressen, das war alles. Thuan lief
begeistert auf dem Platz hin und her, turnte auf den Altar und ließ
sich von Anna in verschiedenen Posen ablichten. Anna hingegen
versuchte, alles in Ruhe auf sich wirken zu lassen und ging einmal
langsam um Grabhügel und Vorplatz herum.
Nach einer kleinen Rast machten die beiden sich erneut auf den Weg durch die Gräberlandschaft. „Ich frage mich schon die ganze Zeit, was zu Konfuzius Zeiten wohl in Europa so los war…“ sagte Thuan nach einer Weile. „Eigentlich müsste ich von der Schule her wenigstens ein bisschen was darüber wissen, aber da ist nichts hängen geblieben…“ ergänzte sie nachdenklich. Anna lachte. „Mich hat diese Frage auch schon beschäftigt und ich musste auch erst mal nachschauen. Also etwa zehn Jahre nach Konfuzius Tod wurde im antiken Griechenland ein gewisser Sokrates geboren, die beiden waren fast so etwas wie räumlich entfernte Zeitgenossen.“ – „Was die beiden sich wohl zu sagen gehabt hätten, wenn sie sich begegnet wären?“ rätselte Thuan. „Ich glaube da wären die Fetzen geflogen…“ – „Wie kommst Du denn auf so etwas?“ kicherte Thuan. „Na ja, Sokrates muss eine ziemliche Nervensäge gewesen sein. Er stellte ständig unbequeme Fragen und versuchte, die Leute in Dialoge zu verwickeln weil er glaubte, das brächte sie dazu, über ihren Tellerrand hinaus zu denken.“ – „Das ist ja eine super moderne Methode!“ entfuhr es Thuan. „Aber auch eine super konfliktträchtige. Ich könnte mir vorstellen, dass Konfuzius mit seinen Lehren von Harmonie, Hierarchie und Bildung für Sokrates so etwas wie das rote Tuch für den Stier gewesen wäre. Und sogar die Athener hatten am Ende die Schnauze so voll von Sokrates‘ Fragerei, dass sie ihm den Schierlingsbecher servierten…“ – „Ein wenig rühmliches Ende, zumindest das hatten die beiden Philosophen dann gemeinsam.“ meinte Thuan nachdenklich. „War Konfuzius‘ denn nicht schon zu Lebzeiten berühmt?“ fragte Anna überrascht. „Nein, ganz und gar nicht. Er hatte wohl einige Schüler, die ihn verehrten, aber an seinem eigentlichen Ziel, der Lehrer der Mächtigen zu werden, scheiterte er. Erst einige Zeit nach seinem Tod entdeckten die Herrscher, wie gut sich ihre Macht mit seiner Lehre festigen ließ und begannen, sie umzusetzen und einen Kult draus zu machen.“ – „Dass Mächtige sie für sich entdecken, das kann mit den Frage- und Dialogmethoden des Sokrates wohl kaum passieren“ meinte Anna. „Nein, das glaub‘ ich auch nicht…“ nickte Thuan. Schweigend schlenderten sie weiter.
Grabhügel,
schief eingesunkene Stelen und kahle Bäume lösten einander ab,
während die Sonne sich langsam dem Horizont näherte. Die feinen
Fäden der Melancholie legten sich sanft wie Spinnweben über das
Gemüt der beiden Besucherinnen.
„Wissen wir eigentlich noch, wo
wir sind?“ fragte Thuan irgendwann beklommen. „Doch, ich glaube
schon. So langsam müssten wir zu den Gräbern der Ming-Zeit
kommen…“
Nach einer weiteren endlosen Viertelstunde
durchbrachen rechts und links des Weges steinerne
Skulpturen die Monotonie. Ihr Anblick ließ Anna und Thuan
aufatmen.
Widder und überlebensgroße Katzen bewachten hier
paarweise den Zugang zu steinernen Torbögen, gesattelte Pferde
standen vor den Öffnungen und träumten in der Abendsonne davon,
ihre Besitzer hindurch ins Jenseits zu tragen. Ihre steinernen Körper
schimmerten in warmen, beruhigenden Ockertönen als wollten sie dem
Betrachter Mut machen, endlich aufzusteigen zum letzten Ritt. Mit
verführerischem Sog zogen die Tore die Blicke der beiden
Besucherinnen auf sich.
„Jetzt haben wir schon über achtzehn
Jahrhunderte hinter uns gebracht.“ Anna durchbrach die Stille
um ein wenig Abstand zu ihrer Stimmung zu gewinnen. Auch Thuan
atmete durch. „Nun, dann schaffen wir den Rest auch noch… Aber
ganz ehrlich, so langsam reicht’s mir.“ – „Komm, lass uns
schneller gehen, sonst müssen wir hier noch im Dunkeln unseren Weg
suchen.“ Mit beschleunigtem Schritt setzten sie ihren Weg fort.
Nur einmal hielten sie noch inne, bevor sie das Gelände verließen. Sie waren schon in der Nähe des Ausgangs angelangt, als sie plötzlich vor ganz frischen Gräbern standen. Gelbe Papierstreifen und ein paar weiße Chrysanthemen lagen noch auf dem lehmigen Erdhügel vor ihnen. Etwas weiter entfernt gab es weitere Grabhügel neuern Datums, vor denen schon Stelen aufgestellt waren. „Wenn ich die Inschriften richtig entziffere, haben die Beerdigungen hier erst vor wenigen Wochen stattgefunden.“ stellte Anna fest. „Ich wusste wohl, dass Familie Kong nach wie vor existiert und diesen Friedhof nutzt… aber dass ihnen sechsundsiebzig Generationen ihrer Vorfahren dabei über die Schulter schauen, wie sie einen Faden weiter spinnen, der zweitausendfünfhundert Jahre weit in die Vergangenheit reicht, das habe ich erst heute begriffen… “ murmelte sie dann vor sich hin. „Weißt Du Anna,…“ Thuan hatte ihre Beklommenheit immer noch nicht ganz abgeschüttelt, „… diese ganze Familientradition, die für uns so viel schwerer wiegt als für Euch Europäer, ist eben Fluch und Segen zugleich.“
Wintersonnenwende
Eines
Nachts Anfang Dezember überzuckerte eine kaum drei Zentimeter hohe
Decke aus Pulverschnee den Campus. Für das eher wintertrockene
Peking kamen diese Schneefälle früh, waren aber nichts Besonderes.
Für viele Studenten der Uni jedoch bedeuteten sie eine Premiere.
Eine ganze Reihe von ihnen stammte aus südlicheren Gefilden und
hatte offensichtlich noch nie Schnee gesehen. Schon als Anna am
frühen Morgen zum Unterricht ging, tollten mehrere Gruppen junger
Leute auf den Grünflächen rechts und links des Weges herum,
bewarfen sich lachend mit Schneebällen, schlitterten, schubsten sich
gegenseitig in den Schnee oder versuchten, aus dem schütteren weißen
Belag kleine Schneemännchen zusammen zu schieben. Amüsiert blieb
Anna stehen und ließ sich von der kindlichen Freude der sonst so
zielstrebig Lernenden anstecken. Das bisschen Weiß hatte bei ihnen
offenbar einen versteckten Schalter umgelegt, niemand schien mehr an
Unterricht zu denken.
Klatschend landete ein Schneeball auf Annas
Rücken. Als sie sich umdrehte entdeckte sie eine kichernde Thuan,
die ebenfalls auf dem Weg zum Unterricht war. „Guten morgen Thuan!
Sag bloß der Schnee macht auch Dich besoffen?“ – „Keine Sorge,
die Winter in Reutlingen sind nicht gerade warm, ich bin’s gewohnt!
Aber ich kann gut verstehen warum die hier so ausrasten. Meine Eltern
haben auch so reagiert, als sie in Deutschland die ersten Schneefälle
ihres Lebens erlebten.“ – „In Vietnam gibt es wohl gar keinen
Schnee?“ – „Normalerweise nicht, nur ganz selten mal im Norden
des Landes. Viele Leute reisen dann von weit her an, um es einmal
mitzuerleben.“
Eine weitere Deutsche, die Anna bisher nur vom
Sehen her kannte, gesellte sich zu den beiden hinzu. „Das ist
Erika, sie geht hier in die gleiche Klasse wie ich. In Deutschland
sind wir Kommilitonen und studieren das gleiche Fach.“ stellte
Thuan sie vor. „Guten Morgen Anna, Thuan hat mir schon von Dir
erzählt.“ – „Guten Morgen Erika, vom gelegentlichen Sehen her
kenne ich Dich auch schon.“ – „Also, der Schnee macht mich zwar
nicht besoffen, aber so richtig Bock auf Unterricht habe ich jetzt
auch nicht mehr…“ tastete Thuan sich vor. „Jetzt wo Du’s
sagst…“ Anna hakte ein. „Wir könnten uns auf einen Kaffee
zusammen setzen und unseren Trip nach Shanhaiguan planen… hinterher
ist immer noch Zeit für die zweite Stunde.“ schlug Erika vor.
„Anna, hast Du nicht auch Lust mitzukommen auf die Tour?“ fragte
Thuan. „Wann wollt Ihr denn los?“ – „Übernächstes Wochenende,
da hat nämlich auch Karla frei. Sie ist eine weitere Kommilitonin
aus Deutschland und macht gerade ihr Praxissemester in einem
Krankenhaus hier in Peking.“ – „Übernächstes Wochenende hab‘
ich noch nichts vor, klar komme ich mit!“ Anna hatte schon länger
damit geliebäugelt, sich einmal das östliche Ende der chinesischen
Mauer anzuschauen und musste nicht lange überlegen. „Das Café
hier auf dem Campus hat auch schon auf…“ meinte Erika.
„Unterricht im Café schwänzen… ich komm‘ mir vor wie früher in
der Schule…“ kicherte Anna, während die drei sich in Richtung
Café in Bewegung setzten. „Das heißt Tao-Ke auf Chinesisch.“
ergänzte Erika lachend. „Gut zu wissen, falls man uns in der
zweiten Stunde fragt wo wir in der ersten abgeblieben sind.“ feixte
Anna.
Weihnachten
stand vor der Tür und der Schnee hatte schon längst wieder dem
gefriergetrockneten Graubraun des Pekinger Winters
Platz gemacht, als Thuan, Erika und Anna sich vor dem Pekinger
Bahnhof mit Karla trafen. Nachdem Thuan Karla und Anna miteinander
bekannt gemacht hatte begann das Grüppchen unverzüglich, sich in
Richtung Bahnsteig durch das Menschengewimmel hindurch zu
schieben. Es erwies sich als sehr hilfreich, dass Karla die
Fahrkarten für alle schon einige Tage vorher erstanden hatte. Bei
dem Andrang, der an diesem Freitagnachmittag vor den Schaltern
herrschte, wäre es sonst unmöglich gewesen, den Zug Richtung
Shanhaiguan noch rechtzeitig zu erreichen.
An ihrem Ziel
angekommen war es für erste Besichtigungen zu dunkel geworden. So
checkten sie im Hotel ein und machten sich anschließend auf die
Suche nach einem Restaurant, in dem sie ihren Hunger stillen und den
Tag ausklingen lassen konnten. Ein Stück die Straße hinunter fanden
sie eines, das mit seinem „Feuertopf“, dem chinesischen
Brühefondue warb. „Na, das ist doch das perfekte Essen, damit wir
uns aufwärmen können!“ schwärmte Thuan. „Und sie haben auch
die Sorte mit scharfer und milder Brühe auf der Karte, da kommen wir
alle auf unsere Kosten.“ ergänzte Karla. Bald saßen sie um einen
runden Tisch herum, der sich unter den Platten und Tellern mit
verschiedenen Fleisch- Gemüse- und Beilagensorten geradezu bog.
Alles war um den Feuertopf in der Tischmitte herum angeordnet, den
eine geschwungene Trennwand so in zwei Hälften teilte, dass milde
und scharfe Brühe zusammen im gleichen Topf köcheln konnten.
Es
war kein Zufall, dass Karla und Anna nebeneinander zu sitzen kamen,
denn sie hatten schon während der Zugfahrt festgestellt, dass es
zwischen ihnen viele Gemeinsamkeiten gab. Während Erika und Thuan um
einiges jünger und noch dabei waren, ihren Weg zwischen Studium und
Berufseinstieg zu finden, hatte Karla, ähnlich wie Anna, schon die
erste Hälfte ihres Berufslebens samt Ausstieg aus selbigem hinter
sich gebracht.
Nachdem der erste Hunger gestillt war, griff Anna
den Gesprächsfaden des vergangenen Nachmittags wieder auf. „Was
hat Dich bewogen, nach so vielen Jahren im Beruf ausgerechnet dieses
Studium anzugehen?“ wollte sie wissen. „Also, ich war gerne
Krankenschwester, aber es gab einiges, das mir mit der Zeit immer
mehr gegen den Strich ging… “ Karla überlegte. „…Am meisten
der in deutschen Krankenhäusern immer noch übliche Hierarchiekult.
Ganze Stationen, auf denen die Ärzte nur glänzen, weil die
Krankenschwestern bei den Patienten so gut es geht die
Kollateralschäden ärztlicher Karrieresucht oder Unfähigkeit
ausbügeln, sind leider keine Seltenheit. Und wenn es mit dem
Ausbügeln nicht mehr hinhaut, ist meist Vertuschen und Verschweigen
angesagt…“ – „Konntest Du denn den Arbeitsplatz nicht wechseln,
wenn es so übel war?“ – „Oh, ich habe oft gewechselt, das ist
als Krankenschwester ja recht einfach. Aber am neuen Arbeitsplatz bin
ich über kurz oder lang immer wieder auf die gleichen Strukturen
gestoßen.“ Nachdenklich spießte Karla ein Stück Rindfleisch auf
um es in die scharfe Brühe zu stecken.
Einige Augenblicke
verfolgten beide, wie es dort vor sich hin simmerte. „Aber von
einen deutschen Krankenhaus aus ist es ein ziemlicher Schritt nach
China…“ hakte Anna dann nach. „Da muss ich Dir recht geben!“
Karla lachte auf. „Irgendwann hatte sich eine solche Wut in mir
angestaut, dass ich nicht nur kündigte, sondern mich auf eine
befristete Stelle an einem kleinen Krankenhaus in Sichuan bewarb. Die
suchten damals im Westen gezielt mit Anzeigen nach Krankenschwestern.
Kost und Logis wurden gestellt, das erste halbe Jahr war als
Praktikum mit Sprachkurs ausgelegt und als Gegenleistung erwarteten
sie dann, dass man anschließend noch eineinhalb Jahre für das
Krankenhaus arbeitete. China hatte mich schon länger interessiert
und so passte plötzlich alles zusammen. Ich schmiss meinen Job hin
und ging.“ – „Wow! Alle Achtung, Karla!“ – „Naja, die Wut
kann einen ganz schön gar kochen, irgendwann ist man dann fällig!“
Karla angelte in der Brühe nach dem Stück Rindfleisch. „Und heute
bin ich froh, dass es so gekommen ist. Diese nervenaufreibenden
Dauerkonflikte im Job hätten mich über kurz oder lang krank
gemacht. Aber das wurde mir erst im Nachhinein klar. Möglicherweise
wäre es dann aber für einen solchen Schritt zu spät gewesen.“
Eine
Weile aßen beide schweigend. „Dieses Gefühl, das einem sagt:
‚Mach’s jetzt, später kannst Du’s vielleicht nie mehr machen!‘, das
kenne ich…“ bemerkte Anna dann. Vieles aus Karlas Bericht hatte
sie an die Zeit vor ihrem eigenen Berufsausstieg zurück denken
lassen. „Bei mir musste es sich auch erst länger zusammenbrauen,
bevor ich die Kraft zum Absprung fand…“.
Interessiert hatten
Erika und Thuan Karlas Bericht mitverfolgt. „Ui, so gesprächig
habe ich Dich ja während unseres ganzen Studiums noch nicht erlebt!“
staunte Erika nun. „Stimmt, mir fällt es meist schwer, über mich
selber zu reden…“ nickte Karla. Thuan schien die Gunst der Stunde
nutzen zu wollen. „Also, was ich Dich schon immer mal fragen
wollte: Wie kamst Du schlussendlich darauf, Dich für
Wirtschaftssinologie zu entscheiden?“ – „Das war dann nochmal
eine Entwicklung von weiteren zwei Jahren. Nach der Rückkehr aus
Sichuan musste ich zum Geldverdienen erst mal zurück in meinen alten
Job. Dass das nur eine Übergangslösung sein konnte, war mir da aber
schon klar. Ich wollte studieren, dieser Wunsch hatte sich in der
Zeit in Sichuan herauskristallisiert, ich wusste aber nicht was. Also
habe ich in meiner Freizeit recherchiert, bis ich irgendwann einen
Bericht über diesen neu eingerichteten Studiengang in die Finger
bekam. Damit bin ich zur Studienberatung der Uni gegangen wo sie mir
erzählten, dass ich mit meiner langen Berufserfahrung als
Krankenschwester und einem Bachelor in Wirtschaftssinologie in der
Tasche gute Job-Chancen im Krankenhausmanagement hätte.
Damit war
die Sache für mich klar. Ich wollte raus aus der Pflege, Medizin
reizte mich auch nicht, aber ich wollte weiter im Krankenhaus
arbeiten. Und dies sah nach dem passenden Weg für mich aus.
Allerdings musste ich dann noch gute zwei Jahre eisern sparen, bis
ich genug Geld beisammen hatte um loszulegen.“ – „Ha, da sind sie
ja wieder, die zwei eisernen Jahre!“ warf Anna lachend ein. Karla
schaute sie verdutzt von der Seite an. „Ich hab‘ auch zwei Jahre
sparen müssen, bis ich in mein Studium nach Peking starten konnte.“
klärte Anna sie auf.
„Wie soll es denn bei Dir nach dem Studium
weiter gehen, Anna?“ wollte Erika nun wissen. „Ähm… damit habe
ich mich noch gar nicht beschäftigt…“ Anna kam die Frage
sichtlich ungelegen. „Irgendwie werde ich wohl an meinen alten Job
anknüpfen müssen…“ druckste sie herum. „Momentan habe ich
aber noch keinen blassen Schimmer, wie das aussehen könnte. Den
Gedanken, früher oder später zurück in den Job zu müssen, habe
ich bis jetzt erfolgreich verdrängt…“ – „Wie lange willst Du
denn in Peking an der Uni bleiben?“ legte Thuan neugierig nach.
„Wenn nichts dazwischen kommt, reicht mein Budget noch bis weit in
den Sommer hinein. Bis dahin muss mir dann wohl oder übel etwas zum
Thema Zukunft eingefallen sein.“ – „Ach, setz‘ Dich mit der
Zukunft bloß nicht unter Druck, Anna. Das bringt nichts! Koste
lieber Deine Zeit hier aus so gut Du kannst und halt‘ dabei ganz
entspannt die Augen offen. Was für Dich das Beste ist, das zeigt
sich dann schon, glaub mir!“ sprang ihr Karla da zu Hilfe. „Wenn
ich in den letzten Jahren eines wirklich gründlich gelernt habe,
dann dies: Rumgegrübel über die Zukunft bringt nur Falten, graue
Haare und vergeudete Zeit!“
Vom
Meer her blies den Vieren ein eiskalter Wind entgegen, als sie am
nächsten Morgen das Hotel verließen. Die gerade aufgehende Sonne
brachte eine dicke Schneedecke zum glitzern, die die Stadt über
Nacht in ein Wintermärchen verwandelt hatte. „Schöneres Wetter
hätten wir nicht haben können!“ freute sich Thuan, der die
klirrende Kälte nicht viel auszumachen schien. „Lasst uns einen
Zahn zulegen, ich brauch‘ dringend Bewegung!“ bibberte Anna. Der
Schnee knirschte unter ihren Füßen, als sie sich zügigen Schrittes
auf den Weg zur Befestigungsanlage machten.
Das Fort auf dem
Shanhai-Pass bewachte den am weitesten östlich gelegenen Durchgang
der chinesischen Mauer, den „ersten Pass unter dem Himmel“. Die
Mauer verlief hier in einigem Abstand entlang des Nordwestufers des
Shihe-Flusses und riegelte so den Durchgang zwischen dem Gebirge im
Nordwesten und dem Meer im Südosten ab. Festung und Mauer waren in
diesem Bereich vollständig wieder hergestellt worden und schon aus
der Ferne gut zu erkennen. Als sie an ihrem Fuße angekommen waren,
ragten über ihren Köpfen sieben Meter dicke Mauern an die fünfzehn
Meter hoch in den makellos blauen Winterhimmel. Mit seinen vier
Kilometern Umfang hatte das Fort genügend Platz für eine Armee samt
Waffen und Munition geboten. Die große Mauer bildete die
nordwestliche Flanke der Festung und war im Bereich des Durchgangs zu
einer dreißig Meter breiten Plattform erweitert worden. Diese bot
einem imposanten zweistöckigen „Torhaus“ Platz, das den
Durchgang sichern sollte. Jedes seiner Stockwerke wies zwei Reihen
übereinander liegender quadratischer Schießluken auf, deren
leuchtend rot gestrichene Türen einen farbenfrohen Kontrast zum
strengen Anthrazit seiner Mauern bildeten. Das Bilderbuchwetter
ermunterte die Vier zum Fotografieren und so verabreden sie einen
Treffpunkt für später und liefen dann in alle Himmelsrichtungen
auseinander.
Oben
von der großen Mauer bot sich Anna eine herrliche Aussicht über die
Festung, die Stadt und den weiteren Verlauf des „alten Drachen“,
wie die Chinesen die Mauer auch nennen. Heute zog sich eine noch
unberührte Schneedecke auf seinem Rücken entlang. Das Anthrazit der
Mauerbrüstungen fasste das schimmernde Weiß beidseitig ein wie ein
Doppelkamm auf dem Rücken eines Urzeitreptils. Fasziniert setzte
Anna Schritt um Schritt in den Schnee, eine kindliche Freude ließ
sie bald schneller gehen, bald hüpfen. Als sie innehielt um zurück
zu schauen, hatte sie sich auf dem Mauerrücken schon ein ganzes
Stück weit von der Festung entfernt.
Sie suchte in den Bergen den
Punkt, an dem der steinerne Körper des alten Drachen aus der
Endlosigkeit Chinas auftauchte und ließ ihren Blick langsam seinen
Windungen folgen. Von hier schlängelte er sich hinunter zum Meer, wo
er seinen Kopf in die Fluten tauchte. Eine kräftige Dünung
verwandelte die Meeresoberfläche dort in einen wallenden Spiegel,
auf dem das Licht der Vormittagssonne in gleißenden Reflexen tanzte.
Anna musste blinzeln und hielt sich die Hand über die Augen, um die
kleine Bastion, die den „Kopf des alten Drachen“ bildete, vor dem
grell funkelnden Hintergrund ausmachen zu können. Nachdenklich blieb
ihr Blick an dem Schauspiel haften. „Unglaublich… und doch…
dort ist unwiderruflich Schluss.“ Diese schlichte Feststellung
gefiel Anna nicht. Spürbar stieg Widerwillen gegen die
Unerbittlichkeit auf, die ihr inne wohnte. Mit einem Ruck wandte Anna
sich um und heftete den Blick auf ihre Fußspur. Auf diesem
Mauerabschnitt war sie immer noch die einzige, niemand war ihr
gefolgt. Langsam ging Anna auf ihr entlang zurück zur Festung.
Der
Vormittag war schon fast um, als die Vier sich wieder beim
Kartenhäuschen am Eingang sammelten. Die Bewegung in der Kälte
hatte alle hungrig gemacht und so beschloss man, sich in der Stadt
zunächst einen Mittagsimbiss zu gönnen, bevor es weiter ging zum
„Kopf des alten Drachen“.
Kurz
vor der Küste überwand die große Mauer einen letzten Hügel, der
fast gänzlich von einer Bastion samt Plattform und Wehrgebäude
eingenommen wurde. Von dort zog sie sich hinunter zu einem Wehrturm
am Strand, um sich anschließend wie ein Zeigefinger auf einem
Felsenriff durch die Brandung hinaus ins Meer zu schieben. Nach
weiteren etwa hundert Metern endete sie dort.
Erika, Karla, Thuan
und Anna waren auch hier wieder unabhängig voneinander auf
Erkundungstour gegangen. Die Bastion auf dem Hügel interessierte
Anna kaum, also schlenderte sie auf dem Mauerkamm langsam hinunter
zum Wehrturm. Seine Schießscharten gaben Richtung Nordosten den
Blick auf einige Frachtschiffe frei, die gemächlich ihrer Route von
und zu den Hafenanlagen am Horizont folgten. Richtung Südwesten fing
in einiger Entfernung eine malerische Seebrücke den Blick ein. Sie
war mit zwei Pavillons bebaut, einem größeren am Ufer und einem
kleinen draußen am Meer.
Auf dem Strand in der Nähe fielen Anna
einige Kleidungsstücke auf, die säuberlich zusammengefaltet im Sand
lagen, daneben ein Paar Schuhe. Es sah ganz danach aus, als wäre
hier jemand schwimmen gegangen, aber mitten im Winter? Außerdem war
Schwimmen nicht gerade chinesischer Nationalsport, kaum ein Chinese
war überhaupt dazu in der Lage. Und doch, ohne Zweifel bewegte sich
da ein Kopf zwischen den Wellen auf und ab, nahm langsam Kurs auf den
Strand. Wenig später entstieg ein krebsrot angelaufener Chinese der
Brandung und rannte so schnell er konnte zu seinen Sachen um sich
darin einzumummeln. Schmunzelnd ging Anna weiter.
Lange ließ sie
ihren Blick aufs Meer hinaus schweifen, als sie am Ende der
Mauer angekommen war. Unwillkürlich pendelte er sich in östlicher
Richtung ein, als müsse es ausgerechnet dort ein Ziel geben, das zu
suchen sich lohnte.
„Wenn ich von hier aus übers Meer weiter
nach Osten fliegen könnte… irgendwann kämen Nordkorea, das
japanische Meer, Japan, die endlose Weite des Pazifik… und dann…
dann wäre ich wieder zurück im Westen… an der Westküste
Oregons vielleicht, dann New York, weiter ginge es über den
Atlantik… und dann… Portugal!“ Ein leiser Schrecken
durchrieselte sie. Unschlüssig tastete ihr Blick sich vom Horizont
zurück bis zu den Schaumkronen der Brandung, die sich unter Anna am
Fuß der großen Mauer brach. „Spielt es eine Rolle, in welcher
Richtung ich von hier aus weiter gehe?“ spannen ihre Gedanken
den Faden unerbittlich weiter. „…Weiter, immer weiter weg,
nach Norden, Süden, Osten… oder zurück in die Richtung aus der
ich gekommen bin… ist das nicht egal? – Komme ich am Ende nicht
immer wieder dort an, wo ich losgegangen bin!?“
„Das ist
schon ein magischer Ort hier…“ Karlas Stimme riss Anna aus ihren
Gedanken. Karla lehnte schon eine ganze Weile neben Anna an der
Brüstung am Ende der Mauer, ohne dass Anna dies bemerkt hatte. „Und
ein Ort der einen zum Innehalten bringen kann…“ sagte Anna
nachdenklich. Karla schaute sie lange von der Seite an. „Ja,
irgendwann kommt der Punkt, an dem man umkehrt…“ bemerkte sie
dann. Anna nickte.
Familienfeste
Wie
schon im Vorjahr zog Weihnachten am Campus der Pekinger Uni ebenso
wie am ganzen Rest des Landes beinah spurlos vorüber. Die kleine
Minderheit der westlichen Studenten feierte privat, wenn überhaupt.
Anna, die sich zu den Weihnachtsmuffeln zählte, tat es ihren
asiatischen Kommilitonen nach und kümmerte sich nicht weiter um das
Fest. Insgeheim war sie froh, dem in Deutschland üblichen
Weihnachtsrummel entgehen zu können.
Am Spätnachmittag des
Vierundzwanzigsten saß sie in ihrer Wohnheimbude versunken über den
Büchern, als jemand an die Tür klopfte. Anna öffnete zögerlich.
Durch den sich langsam vergrößernden Türspalt lächelte Thuan ihr
verschmitzt entgegen. „Fröhliche Weihnachten, Anna!“ Schwungvoll
betrat sie den Raum und stellte ein Tablett auf dem Schreibtisch ab.
Irgendwie hatte sie einen Teller voller Weihnachtsgebäck
organisiert, außerdem standen zwei große Coffee-to-go-Becher und
zwei brennende Kerzen darauf. „Thuan!… Wie kommst ausgerechnet Du
auf so eine Idee? Ich dachte Du kommst aus einem buddhistischen
Elternhaus?“ – „Ja scho… abbr i han mr‘ denkt a bissle zamma
hogga kennda mir drozdem…“ Thuan, die genau zu wissen schien,
wann ihr schwäbischer Dialekt am besten zur Wirkung kam, kostete
Annas Überraschung sichtlich aus. „Na dann, fröhliche
Weihnachten, Thuan! – Meine Mitbewohnerin ist nicht da, komm rein,
machen wir’s uns gemütlich.“ Im Stillen musste Anna sich
eingestehen, dass sie gerührt war.
Anna nahm sich eins von den
Plätzchen. „Mmmhhh… Lecker! Die schmecken ja wie selbstgebacken,
wo hast Du die denn her?“ – „Meine Eltern haben mir ein fettes
Care-Paket geschickt. Dieses Jahr haben sie die Plätzchen aber beim
Bäcker kaufen müssen, denn bei uns daheim bin sonst ich die
Plätzchenbäckerin…“ Eine Weile kauten beide schweigend und
schauten zu, wie sich die beiden Kerzenflammen im sanften Luftzug
wiegten, der das Zimmer durchstrich.
„Sag‘
mal Anna, hast Du schon Pläne für das Frühlingsfest und die
anschließenden Semesterferien? Es ist ja nicht mehr lang bis
dahin…“ – „Oh ja, die habe ich. Ich geh‘ mit einer Freundin aus
Deutschland auf Reisen…“ Anna wollte Thuan aber noch ein bisschen
zappeln lassen. „Und Du, Thuan?“ – „Ich werde auch unterwegs
sein, aber weder mit Kommilitonen noch mit Freunden…“ –
„Sondern?“ Nun war es Anna, die zappelte. „Ich besuche meine
Verwandtschaft…“ – „In Vietnam etwa?“ – „Nein, meine Mutter
ist Chinesin, sie stammt aus Quanzhou in der Provinz Fujian. Einer
ihrer Brüder lebt mit seiner Familie dort, sogar zwei steinalte
Tanten meiner Mutter sind noch am Leben. Sie haben mich zum
Frühlingsfest eingeladen.“ – „Kennst Du die Familie Deines
Onkels denn gut?“ – „Nein, das ist eine Premiere für uns alle.
Seitdem meine Eltern aus Saigon geflohen sind, waren sie weder in
China noch in Vietnam, mein Bruder und ich natürlich erst recht
nicht.“ – „Und bist Du aufgeregt ?“ – „Und wie! Die Familie
meines Onkels natürlich auch. Seit sie wissen, dass ich Chinesisch
lerne, setzen sie meine Mutter unter Druck, damit sie dafür sorgt,
dass ich einmal nach Quanzhou komme. Und jetzt, wo ich in China bin,
kann ich nicht mehr ausweichen.“ Thuan wurde nachdenklich.
„Es
wird nicht so einfach werden, wie es von außen vielleicht aussehen
mag.“ fuhr sie zögernd fort. „Die Familie meiner Mutter knüpft
an meinen Besuch Erwartungen, die ich kaum erfüllen kann. Ich muss
mit einem Riesenberg Geschenke hinfahren, denn sie sehen in mir so
etwas wie eine Abgesandte aus dem Schlaraffenland.“ – „Das
erinnert mich an meine früheren Reisen zu Verwandten in die damalige
DDR.“ – „So ähnlich, nur dass in chinesischen Familien solche
Denkweisen über zig Generationen hinweg verwurzelt sind, nicht nur
über eine. Aber bei diesem Besuch kann ich von Glück sagen, dass es
sich nur um die Familie meiner Mutter handelt.“ Thuan schaute
bedrückt auf ihre Hände „Bei der Familie meines Vaters ist das
alles noch viel schlimmer.“ Annas fragender Blick brachte sie dazu,
fortzufahren. „Bei denen kann man nicht mehr von Erwartungen
sprechen. Sie fordern von uns Geldgeschenke in einer Höhe, die weder
meine Eltern noch ich erbringen können.“ – „Hm… und wie kommt
es, dass die Familie Deiner Mutter Euch gegenüber so viel
bescheidener auftritt?“ tastete Anna sich weiter vor. „Na ja,
zum einen sind sie in der schwächeren Position, denn die Familie des
Vaters gilt ja als vorrangig. Und dann sind sie eben Chinesen.
Vietnamesische Familien sind in dieser Hinsicht oft viel unbeugsamer
und fordernder…“ – „Willst Du die Familie Deines Vaters auch
irgendwann besuchen?“ – „Nein, das kann ich mir nicht leisten!“
Thuan war das Thema sichtlich unangenehm geworden, so dass es Anna
zunehmend leid tat, nachgefragt zu haben. Thuan hob den Kopf.
„Möglicherweise gibt es später einen Weg…“ machte sie sich
Hoffnung. „Wenn ich verheiratet wäre, vielleicht sogar selbst
Kinder hätte, dann wäre die Situation einfacher für mich. Für
meine Eltern aber noch lange nicht…“ – „Puh! Ist das
kompliziert bei Euch!“ Anna verdrehte die Augen. „Ja, manchmal
beneide ich die Deutschen schon darum, dass ihre Familien so
überschaubar und die Beziehungen darin oft unverbindlich sind.“
Thuan überlegte. „Andererseits… für uns fühlt sich das auch
kalt an.“ – „Hm… zumindest letzteres kann ich
nachvollziehen…“ Nachdenklich griff Anna nach einem weiteren
Plätzchen.
„Und
wohin zieht es Dich und Deine Freundin denn nun, Anna?“ – „Ähm,
also… das ist jetzt hoffentlich nicht schwierig für Dich…“
Anna druckste herum. „Wie meinst Du das denn?“ – „Na ja, wir
reisen genau dort hin, wo Du anscheinend nicht so einfach hin
kannst…“ – „Nein!“ Thuan schien Annas Reiseziel sofort
erraten zu haben. „Doch, wir haben uns Vietnam vorgenommen, und
auch ein wenig Kambodscha.“ – „Also mach Dir mal wegen mir keinen
Kopf! Erzähl, was genau habt Ihr vor?“ – „Wir wollen uns in
Saigon treffen und die ersten Tage samt Tet-Fest dort verbringen,
dann eine Woche Sonne und Meer auf einer kleinen Insel nahe der
kambodschanischen Grenze genießen, einige Tage Sightseeing im
Mekong-Delta und dann noch eine Woche Kambodscha.
Tina will von da
aus wieder zurück nach Deutschland und ich werde noch eine Woche
Hongkong dran hängen, bevor ich wieder hierher komme.“ – „Wow!
Einen richtig dekadenten Touristen-Urlaub willst Du also machen,
anstatt Dich brav weiter durch das anstrengende China
durchzuarbeiten!“ spöttelte Thuan kichernd. „Ha! Da ist was dran
an der Sicht…“ Anna lachte. „Auch vom Ausstieg muss man mal
Urlaub machen! – Das Einzige, was ich zu meiner Entschuldigung
vorbringen kann ist, dass die Reiseplanung auf Tinas Mist gewachsen
ist. In meinem Bekanntenkreis ist sie die unumstrittene
Fernreiseweltmeisterin und Vietnam hatte sie für das kommende Jahr
schon lange geplant. Als ich während der SARS-Krise in Deutschland
war, haben wir dann vage ins Auge gefasst, die Reise gemeinsam
anzugehen. Tina hätte sie auf jeden Fall durchgezogen, aber für
mich hat sich das erst entschieden, als klar wurde, dass ich hier
wahrscheinlich noch ein Semester dran hängen kann. So bleibt mir
noch genug Zeit, auch China weiter zu erkunden.“
– „Klingt
nach einem guten Plan… Also, das Feuerwerk zum Tet-Fest unten am
Saigon-Fluss dürft Ihr Euch nicht entgehen lassen, dass ist
berühmt!“ Thuan schluckte nun doch. „Und das Essen, das müsst
Ihr in allen Variationen ausprobieren!“ fuhr sie schnell fort. „Es
ist in Vietnam viel besser als in China. Man legt mehr Wert auf die
Qualität und verwendet fast nur frische Zutaten.“ – „Und was
isst man typischerweise so?“ – “Ganz wichtig ist Pho, die
traditionelle vietnamesische Brühsuppe in allen Varianten, dann viel
Meeresfrüchte, Mangos, Papayas, Gewürze, Rollen und Röllchen
verschiedener Machart, die vietnamesische Fischsoße natürlich und
speziell für Dich, Anna: Vietnam ist Kaffeeanbaugebiet und der
Kaffee ist richtig gut dort!“ Anna war überrascht. „Kaffee in
Südostasien, wie kommt das denn?“ – „Den Kaffeeanbau haben die
Franzosen zur Kolonialzeit eingeführt und die Vietnamesen haben das
Kaffeetrinken von ihnen übernommen. Bloß ich nicht, ich komme da
mehr nach meiner Mutter…“
– „À propos, ist die Heimat
Deiner Mutter nicht berühmt für ihren grünen Tee?“ wollte Anna
wissen. „Oh ja, gerade die Gegend um Quanzhou, da wird der
Tie-Guanyin-Oolong angebaut, ein Zwischending zwischen grünem und
schwarzem Tee.“ – „Also, wenn Du die ganzen Geschenke bei Deiner
Verwandtschaft abgeladen hast…“ Thuan lachte schelmisch. „Klar
habe ich auf dem Rückweg ein bisschen Luft für eine Packung
Tie-Guanyin für Dich.“ – „Danke! Wenn Du keinen Kaffee magst,
gibt es dann was anderes, das ich Dir aus Vietnam mitbringen kann?“
– „Hm…“ Thuan schien zunächst nichts einzufallen. „Doch,
Mondkuchen! Die gibt es in Vietnam traditionell im Herbst zum
Mondfest. In Deutschland sind die guten vietnamesischen schwer zu
bekommen und die chinesischen schmecken uns nicht… Ich werd‘ meine
Eltern fragen, welches die beste Sorte ist…“ – „Am besten ich
schicke sie dann von Saigon aus gleich nach Reutlingen.“ schlug
Anna vor. „Oh, dann hast Du bei meinen Eltern einen dicken Stein im
Brett, Anna“ Thuan lächelte.
Der
erste Weihnachtstag war ein ganz normaler Unterrichtstag und da es in
Annas Klasse außer ihr selbst nur noch Koreaner und Japaner gab,
fehlte auch niemand im Unterricht. Als Anna nach dem Mittagessen ins
Wohnheim zurückkehrte, hielt ihre Zimmergenossin ihr mit den Worten
„Für Dich, Anna!“ den Telefonhörer entgegen.
„Frohe
Weihnachten, Anna!“ drang Abe’s gut gelaunte Stimme aus dem Hörer.
„Das ist aber eine nette Überraschung, herzlichen Dank!“ Nach
anfänglicher Freude machten Abe’s Weihnachtswünsche Anna jedoch
verlegen. „Das Chanukka-Fest habe ich völlig verschlafen…“ –
„Oh, das macht nichts, das sind wir gewohnt, außerdem sind
jüdische Rituale für mich schon lange unwichtig.“ – „Dann habe
ich ja nochmal Glück gehabt.“ – „Es kommt aber noch schlimmer
für Dich, Anna!“ sogleich legte Abe feixend nach. „Lin und ich
wollen Dich heute Abend zum Essen einladen. Und keine Ausreden bitte,
ein Tisch ist schon reserviert!“ – „Au Weia! Da bleibt mir wohl
nur die Kapitulation.“ seufze Anna gespielt. „Komm so gegen Sechs
zu uns, wir fahren dann zusammen hin.“ – „Gut, bis dann, ich
wünsche Euch noch einen schönen Tag!“
„In welches Restaurant
geht es denn?“ wollte Anna wissen, nachdem die Drei abends im Taxi
Platz genommen hatten. „Wir dachten, ein chinesisches passt nicht
zu Weihnachten und die europäischen sind entweder schlecht oder
überteuert.“ erwiderte Lin ausweichend. „Also, wir haben einen
Kompromiss gesucht, aber lass Dich überraschen, Anna!“ Abe
grinste.
Es war schon dunkel, als sie vor dem Restaurant hielten.
Bevor es hineinging konnte Anna gerade noch die drei Zeichen
„Pang-Zhe-Pu“ auf dem Schild über dem Eingang entziffern, aber
dieses Wort sagte ihr zunächst nichts.
Drinnen war nur das
Service-Personal und ein Großteil der Besucher chinesisch während
die Einrichtung, die Speisen auf den Tischen der anderen Gäste sowie
die Gestalt des Managers, der sie an ihren Platz führte, keinen
Zweifel daran ließen, dass es sich um ein indisches Restaurant
handelte. „Die Überraschung ist Euch wirklich gelungen!“ entfuhr
es Anna, die indisches Essen liebte. Beim Anblick der vollen Platten
auf den Nachbartischen lief ihr sofort das Wasser im Munde
zusammen.
„Wie seid ihr darauf gekommen, ausgerechnet ein
indisches Restaurant auszuwählen?“ wollte sie wissen, nachdem die
Bestellungen aufgegeben waren. „Also, wir haben ja noch keine
Hochzeitsreise gemacht…“ begann Lin. „Bisher war einfach keine
Zeit dafür, aber in den Semesterferien wollen wir sie nun
nachholen…“ – „Ihr wollt doch nicht etwa nach Indien?“ fragte
Anna überrascht. „Erraten!“ bestätigte Abe. „Zum
Frühlingsfest sind wir bei Lins Eltern eingeladen, aber danach
fliegen wir nach New Delhi.“ – „Wow! Und wie geht die Reise dann
weiter?“ – „Wir haben nur für die ersten Tage ein Hotel gebucht,
mal schauen, wohin es uns anschließend zieht…“ Lins Augen
glänzten vor Vorfreude. „Also ich will unbedingt noch nach Mumbai
und Kalkutta…“ Abe schien konkretere Vorstellungen zu haben. Nur
wenig später wurde das Essen serviert und drängte das Interesse an
Lins und Abes Hochzeitsreise in den Hintergrund.
„Das Essen ist
wirklich erstklassig hier!“ bemerkte Anna kauend. „Und es ist das
merkwürdigste Weihnachtsessen, an das ich mich erinnern kann.“
fügte sie schmunzelnd hinzu. „Ha! Eine Chinesin, ein Jude und eine
Deutsche gehen in Peking zum Inder um Weihnachten zu feiern…“
fing Abe, der sofort verstanden hatte, den Ball auf. „Hihi, so
könnte einer von diesen Weihnachtswitzen beginnen, die im Internet
kursieren!“ kicherte Anna. „Darauf ein Schluck Qingdao!“
Lachend hoben die drei ihre Biergläser.
„Sag mal, wie wird in
Deutschland denn Weihnachten gefeiert, Anna?“ fragte Lin nach einer
Weile. „Bei uns gilt Weihnachten als Familienfest, so ähnlich wie
das Frühlingsfest bei Euch.“ versuchte Anna zu vergleichen.
„Allerdings empfinden Deutsche nur ihre allernächsten Anverwandten
als Familie und mit diesen wollen sie an Weihnachten unter sich
bleiben, insbesondere am Vierundzwanzigsten. An diesem Tag gibt
es bei uns die Geschenke, aber da feiern meist nur die Eltern mit
ihren Kindern. So war es auch in meiner Kindheit.
Am ersten
Weihnachtstag ist man etwas offener, bekommt vielleicht Besuch von
Großeltern, Onkeln oder Tanten, aber das ist nicht in allen Familien
die Regel. Und wer gerade keinen engen Familienanschluss hat, der
wäre überall das fünfte Rad am Wagen und bleibt über Weihnachten
am besten für sich.“ – „Dann herrscht Weihnachten bei Euch ja
geschlossene Gesellschaft, man ist drinnen oder draußen, alles oder
nichts.“ resümierte Abe. „Das trifft ins Schwarze,“ nickte
Anna. „Hm, ein Frühlingsfest ohne Großeltern, Onkel, Tanten oder
Freunde wäre in meiner Familie undenkbar…“ Lin war
nachdenklich.
„Stimmt, letztes Jahr war ich zum Frühlingsfest
bei der Familie einer chinesischen Freundin eingeladen und auch für
dieses Jahr hatte ich eine Einladung, musste jedoch absagen, da ich
zu der Zeit auf Reisen sein werde. Daher habe ich chinesische
Familien am Frühlingsfest als viel offener erlebt als deutsche
Familien zu Weihnachten.“ bestätigte Anna. „In den USA ist es
bei den christlichen Familien ebenfalls üblich, an Weihnachten alle
möglichen Verwandten oder Freunde zu besuchen, nicht nur die
allerengsten.“ ergänzte Abe.
„Hast Du Deine letzten
Weihnachten auch alleine verbracht?“ tastete Lin sich nun vor.
„Also, letztes Jahr war ich schon hier in Peking, kannte aber noch
kaum jemanden näher. Da konnte ich Weihnachten sehr gut einfach
ignorieren.“ Anna dachte nach. „Und die Jahre davor gab es zwei
Varianten. Als ich noch keine Chinesen kannte, habe ich mir aus
Weihnachten nichts gemacht und es einfach als ein paar freie Tage
genossen. Und danach war ich mit chinesischen Freunden Essen oder
hatte selbst welche zu Besuch.“ – „Dann passt dieses Weihnachten
ja wieder ins Bild!“ brachte Abe es grinsend auf den Punkt.
„Übrigens, wenn die Christen Weihnachten feierten sind wir immer
ins Kino gegangen, es war unser eigenes Weihnachtsritual. Im Kino
waren wir Juden dann ausnahmsweise mal in der Überzahl und die Filme
waren an dem Tag oft besonders gut.“
Abe nahm einen tiefen Zug
aus seinem Bierglas und für eine Weile konnten Speisen und Getränke
das Interesse der Drei wieder auf sich lenken.
„Erwähntest
Du nicht gerade, dass Du zum Frühlingsfest auf Reisen bist, Anna? Wo
geht es denn hin?“ fragte Lin, während sie ein Stück Fladenbrot
in eine Fleischsoße tunkte.
Anna erzählte von ihren Reiseplänen.
„Vietnam und Kambodscha kennen wir auch noch nicht… es gibt so
vieles hier in Asien, das wir noch nie gesehen haben…“ sagte Abe
nachdenklich, als Anna ihren Bericht beendet hatte. Dieser schien
den sonst meist gut gelaunten Abe melancholisch gestimmt zu haben.
„Nun, Ihr habt doch noch so viel Zeit, das alles nachzuholen.“
wollte Anna ihn aufmuntern. Abe zögerte „Hm, vielleicht sollten
wir die Katze jetzt aus dem Sack zu lassen…“ Einen Augenblick
sah er hinüber zu Lin, als wollte er ihr Einverständnis einholen.
Die nickte aufmunternd. „Also, nach unserer Rückkehr aus Indien
geht unsere Zeit in Asien ihrem Ende entgegen, Anna.“ Er schluckte.
„Wir werden dann beginnen, uns auf die Rückkehr in die USA
vorzubereiten. Das heißt, es wird ja nur für mich eine Rückkehr
sein.“ Einige Augenblicke herrschte Schweigen am Tisch.
„Und
wann soll es soweit sein?“ fragte Anna dann leise. „Im Juni. Dann
bleibt uns bis zum Beginn des folgenden Semesters noch ausreichend
Zeit, uns neu einzurichten.“ – „Ich muss natürlich zuerst einmal
mein Englisch verbessern.“ warf Lin eifrig ein. Im Gegensatz zu Abe
schienen diese Zukunftspläne sie mit Vorfreude zu erfüllen.
„Vielleicht kann ich nebenher mit Chinesisch-Unterricht Geld
verdienen. In San Francisco soll es inzwischen einige amerikanische
Familien geben, die ihre Kinder Chinesisch lernen lassen wollen.“ –
„Aha, ihr wollt Euch also in San Francisco niederlassen… und was
willst Du dann machen, Abe?“ – „Ich will mich beruflich neu
orientieren und Psychologie studieren. Mir ist im Verlauf des letzten
Jahres immer klarer geworden, dass es für mich keinen Sinn macht, in
meinen alten Beruf zurück zu gehen, ich war nie wirklich zufrieden
damit.“ Abe schaute nachdenklich auf seinen Teller.
„Ich habe
zwar noch Ersparnisse und werde nebenher jobben, aber die Zeit, bis
ich im neuen Beruf endlich Geld verdienen kann, wird trotzdem sehr
schwer werden für uns.“ – „Das kann ich mir gut vorstellen…“
Anna begann zu verstehen, warum Abe die Aussicht auf die Rückkehr
nicht gerade fröhlich stimmte.
„Können Deine Eltern Euch denn
unterstützen?“ wollte Anna wissen. „Sie können es sicher und
wenn ich sie darum bitte, werden sie es wahrscheinlich tun…“ Er
zögerte. „Aber ich habe sie nicht gefragt, denn ich will ihr Geld
nicht!“ beendete er das Thema brüsk. Anna wusste nicht, was sie
dazu sagen sollte. „Anna, wir können es schaffen und wir werden es
schaffen, davon bin ich überzeugt!“ kam es da von Lin mit einer
selbstverständlichen Bestimmtheit, die Anna zuvor an ihr noch nie
bemerkt hatte. Abe warf Lin einen bewundernden Blick zu. „Sie ist
eben Chinesin…“ sagte er dann langsam.
Die Summende
Abends
nach Neun bei fünfundzwanzig Grad und einer lauen Brise auf der
Dachterrasse eines Hotels die Füße hochlegen klingt paradiesisch.
Aber für Anna, die bis vor ein paar Stunden noch in der trockenen
Winterkälte Pekings gelebt hatte, war es ein Schock. Auch Tina,
angereist aus dem nasskalten Schmuddelwetter Norddeutschlands, ging
es nicht besser. Schlapp und schwitzend hingen beide mehr in den
Rattansesseln als dass sie darin saßen, gelegentlich nippte eine von
ihnen an ihrem Getränk.
Verhaltener Verkehrslärm drang von der
Straße herauf. Nach einiger Zeit gelang es ihm, Annas Neugierde wach
zu kitzeln. „Jetzt muss ich doch mal gucken, wie Saigon bei
Nacht von oben aussieht…“ Mit dem Getränk in der Hand lehnte
sie sich an die Brüstung und ließ ihren Blick schweifen. „Schau
mal Tina, da unten ist eine Fußgängerzone… überall hängen bunte
Lichterketten von den Ästen der Bäume wie leuchtendes Lametta…“
Tina blieb nichts anderes übrig, als sich ebenfalls aus dem Sessel
zu wuchten.
Ans
Geländer gelehnt schauten sie über hell erleuchtete Straßenzüge
und Kreuzungen, sahen lachenden jungen Frauen hinterher, die leicht
bekleidet und mit wehenden Haaren auf Rollern vorüber flitzten,
beobachteten Familien, die mit Kindern an den Händen durch die
Fußgängerzone schlenderten und versuchten, einen ersten Eindruck
von Saigons Abendmelodie einzufangen.
„Das Hotel hast Du gut
ausgesucht, Tina. Von hier aus können wir morgen direkt zu Fuß
loslaufen…“ Das Panorama begann, Annas Vorfreude zu wecken.
„Gut dass wir vor dem Tet-Fest noch zwei Tage Zeit haben, um uns
einiges anzuschauen. Ich habe eine lange Liste, was ich alles sehen
will!“ Auch Tina wurde ein klein wenig munterer. „Dann lass
uns heute bald schlafen gehen, damit wir morgen frisch sind. Dein
Flug dauerte ja noch viel länger als meiner…“ schlug Anna
vor. „Du hast recht, mir steckt die Reise ziemlich in den
Knochen.“ Ein paar Minuten schauten sie noch schweigend über
das nächtliche Saigon, hielten sich anschließend tapfer an ihren
Getränken fest bis diese leer waren, dann schlurften sie todmüde
ins Hotelzimmer.
Am
nächsten Tag erkundeten Tina und Anna als erstes alte Zentrum
Saigons von der Cathédrale Notre Dame bis zum Rathaus. Dominiert von
perfekt restaurierten kolonialen Prachtbauten, Kirchen, kleinen Parks
und Alleen entfaltete der Stadtkern einen Zauber, der beide
überraschte. Die breite Allee, die auf das alte Rathaus zulief, war
auf ganzer Länge Fußgängerzone. Sattgrün belaubte Bäume fassten
sie zu beiden Seiten ein, davor Rasenflächen, kleine Blumenbeete,
Sitzbänke und große Keramikkübel aus denen mannshohe
Aprikosenbäume ihre leuchtend gelbe Blütenpracht in den blauen
Himmel streckten.
In der Mitte der Allee flanierten gut gelaunte
Menschen im Sonntagsstaat auf und ab, andere ließen sich auf den
Bänken nieder, kleine Mädchen wurden von ihren Müttern in die
Kübel unter die Aprikosenblüten gestellt damit Papa ein
Neujahrsfoto schießen konnte und über allem strahlte die
Vormittagssonne, als wollte sie den Winter für immer aus Tinas und
Annas Gedächtnis löschen.
Die ließen sich bald ebenfalls auf
einer Bank nieder um eine kleine Pause einzulegen. „Ahhh… endlich
Sonne!“ seufzte Tina, streckte ihr Gesicht in die Sonne und die
Füße weit von sich. „Was habe ich mich während der letzten
Wochen auf solche Augenblicke gefreut!“ Auch Anna räkelte sich in
den wärmenden Strahlen, sah dem Treiben der Leute um sich herum zu
und wurde etwas schläfrig dabei. „Es ist nicht zu übersehen, dass
sie alle schon in Festtagsstimmung sind…“ murmelte sie nach
einer Weile vor sich hin. „Genau das Richtige für uns
Winterflüchtlinge! Komm Anna, nicht einschlafen, lass uns
wieder losgehen!“
Die Sonne hatte es anscheinend nicht
geschafft, Tina ihre Besichtigungsliste vergessen zu lassen. „Was
kommt denn als nächstes?“ fragte Anna demonstrativ gähnend.
„Also, wir laufen jetzt in Richtung Jade-Tempel. Das führt uns
raus aus dem historischen Stadtzentrum und wir kommen durch Viertel,
in denen die Menschen wohnen und leben, nicht nur flanieren.“
Schnell gewann Annas Neugierde wieder die Oberhand und so war sie
noch vor Tina wieder auf den Beinen.
Als
sie die letzten kolonialen Villen hinter sich gelassen hatten, wurden
die Straßen schmaler, die Häuser rückten aneinander und in ihren
Erdgeschossen gab es nun Geschäfte, Restaurants und kleine
Werkstätten, in denen man emsig seinem Tagewerk nachging.
Unvermittelt fanden Tina und Anna sich in einer durch und durch
asiatischen Großstadt wieder. Viele Häuser hier waren
offensichtlich Neubauten und hatten einen frischen Anstrich in
leuchtendem Orange, Blau oder Gelb. Die meisten waren aber nur so
schmal wie ein Zimmer breit war, dafür fünf bis acht Stockwerke
hoch, gekrönt von einer mit Kübelpflanzen bestückten Dachterrasse.
„Die Leute bauen hier ihre eigenen Häuser, seit die Regierung
wieder Immobilienbesitz erlaubt hat.“ begann Tina zu erzählen. Sie
hatte sich gründlich auf die Reise vorbereitet und Anna, die bis
kurz vor Reiseantritt noch auf Prüfungen büffelnd über den Büchern
gehangen hatte, freute sich über ihre kundige Reiseleitung.
„Baugrund ist in Saigons Innenstadt horrend teuer und so legen die
Familien zusammen, kaufen eine Miniparzelle und stapeln die Zimmer
übereinander, verbunden durch ein Treppenhaus hinten oder an der
Seite. Meist ziehen mehrere Generationen gemeinsam ein um eine eine
Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft zu bilden. Die Möglichkeit,
sich ein eigenes kleines Reich aufzubauen motiviert die Leute
natürlich, das Beste aus ihren Möglichkeiten heraus zu
kitzeln…“
Und dabei schien ein farbenfroher Hausanstrich noch
lange nicht das Ende der Fahnenstange darzustellen. Aus den
Stilrichtungen aller Herren Länder kreuz und quer kombinierte
Fassadenelemente zogen Annas Blick auf sich. Säulenförmige
Fensterlaibungen trugen an griechische Tempel erinnernde Architrave,
als Tempelgiebel gestaltete Brüstungen fassten die darüber liegende
Dachterrasse ein und von ganz oben spendete ein rund gebogenes
Wellblechdach Schatten. Am Nachbarhaus drängten sich massiv
gemauerte Balkonbrüstungen mit kitschigen Stuckornamenten vor,
dahinter waren romanische Rundbogenfenster mit dicken Butzenscheiben
kombiniert, ein Haus weiter dann die schlichten Rechtecke einer
modernistisch gestalteten Häuserfront. „Schaffe, schaffe Häusle
baue! Die ticken hier wohl ähnlich wie die Schwaben bei uns…“
grinste Anna „Und jeder muss es noch ein bisschen bunter und
kitschiger haben als der Nachbar“ kicherte Tina. „Den Vietnamesen
kann es nicht schlecht gehen, wenn sie sich so viel Firlefanz an
ihren Häusern leisten können.“ resümierte Anna. „Stimmt, man
sagt, Vietnam stehe am Anfang eines Wirtschaftsbooms, viele Leute
sind optimistisch und trauen sich wieder, auch mal Geld für Luxus
auszugeben.“
Während Tina und Anna langsam weiter in Richtung
Jade-Tempel schlenderten, wurde bald deutlich, dass die Familien in
den Turmhäusern zu einer aufstrebenden Bevölkerungsschicht gehören
mussten, deren Wohlstand nicht repräsentativ war. Die bunten
Neubauten wichen älteren, niedrigeren Häusern und die Geschäfte
und Restaurants wurden schlichter. Noch weiter die Straße hinunter
begannen große Mehrfamilienhäuser das Bild zu dominieren, die
meisten wieder neueren Datums und in gutem Zustand. Noch weiter des
Weges entlang machten die Mehrfamilienhäusern wieder kleineren, zwei
oder dreistöckigen Neubauten Platz, deren Besitzer ebenfalls zu
einigem Wohlstand gekommen sein mussten.
Der
Mittag war schon vorüber, als Tina und Anna ihr Ziel erreichten.
Auch der Tempel des Jadekaisers war restauriert. Der Hof vor dem
Eingang wurde von einem quadratischen Brunnen mit ziegelrot
gestrichener Ummauerung eingenommen, mitten drin ein Keramikkübel
mit einer Lotospflanze. „Puh, bevor wir reingehen könnte ich eine
Pause gebrauchen“ meinte Tina während sie den Brunnen umrundeten.
„Geht mir ähnlich. Schau mal, dort neben dem Eingang können wir
uns in den Schatten setzen.“ Von der kühlen Steinbank aus hatten
sie das Kommen und Gehen der Leute gut im Blick. Offensichtlich hatte
der religiöse Daoismus, zu dessen Götterwelt der Jadekaiser
gehörte, viele praktizierende Anhänger hier. Im Tempel herrschte
geschäftiges Treiben, die Leute kamen mit Räucherstäbchen und
Blumen um für die Erfüllung ihrer Neujahrswünsche zu bitten. Außer
Tina und Anna ließen sich keine weiteren Touristen blicken. Einige
Zeit später durchstreiften sie neugierig das Innere der
Tempelanlage, sahen den Menschen bei ihren Ritualen zu und Tina gab
hin und wieder ein paar Erklärungen aus ihrem Reiseführer zum
Besten.
„In China gibt es auch daoistische Tempel, auch dort
sind die meisten von ihnen inzwischen restauriert worden. Aber die
Besucher, auch die chinesischen, sind fast nur Touristen oder Leute
auf dem Sonntagsausflug. Nur wenige sieht man mal räuchern oder gar
beten…“ bemerkte Anna nachdenklich. „Aber, stammt der Daoismus
ursprünglich nicht aus China?“ fragte Tina erstaunt. „Ja schon,
aber die zehn Jahre Kulturrevolution haben in China einen harten
Bruch verursacht. Für uns ist es nur schwer vorstellbar, wie tief
der Graben zwischen Tradition und Moderne ist, den sie den Chinesen
hinterlassen hat.“ – „Dann ist diese Religion heute wohl im
kommunistischen Vietnam noch lebendiger als in China.“ wunderte
sich Tina. „Da hast Du mehr recht als Du vielleicht ahnst. Östlich
von Qingdao gibt es auf dem Lao-Shan beispielsweise ein altes
daoistisches Kloster, ehemals eines der wichtigsten Klöster des
Daoismus überhaupt. Der Legende nach soll der daoistische Mönch
Zhang Sanfeng dort die Prinzipen des Taiji entdeckt haben, als er den
Kampf eines Kranichs mit einer Schlange beobachtete.“ Anna kam ins
Erzählen. „Letztes Jahr um diese Zeit herum habe ich ja einige
Zeit in Qingdao verbracht und bin natürlich auch zum Laoshan
gefahren. Schon seit einiger Zeit ist das Kloster wieder von Mönchen
bewohnt. Neben den Tempeln gibt es dort vor allem Bibliotheken voller
alter daoistischer Schriften. Überhaupt wirkte das Ganze eher
akademisch auf mich, weniger religiös. Ich hatte den Eindruck die
Mönche beschäftigten sich hauptsächlich mit den Büchern, während
ihre Gottheiten in den Tempeln als Touristenattraktion das täglich
Brot zu verdienen hatten. Und auch auf dem Laoshan sind die Besucher
meist nur auf Sightseeing aus. Die Chinesen unter ihnen wissen
natürlich, dass sie dort die Wurzeln ihrer Kultur besichtigen, aber
nur ganz wenige haben noch einen persönlichen Bezug zu irgendeiner
der vielen Facetten des Daoismus.“ – „Was für eine
Entwurzelung…“ Tina wirkte nachdenklich.
Unweit
der Jade-Pagode gelangten Tina und Anna an die Ufer eines kleinen
Nebenflusses, der sich in einiger Entfernung in den Saigon-Fluss
ergoss. Die vage Hoffnung auf einen schönen Blick über den Fluss
von der nahe gelegenen Brücke oder auf ein Café am Ufer, in dem sie
sich erfrischen konnten, hatte sie diesen Weg nehmen lassen. Aber der
Anblick, der sich ihnen hier bot, ließ sie geschockt inne halten. Am
Flussufer gingen die frisch gestrichenen Neubauten des Stadtviertels
abrupt in etwas über, das man nur als Slums bezeichnen konnte. Auf
beiden Seiten des Flusses hingen aus verrostetem Wellblech und
schimmeligen Holzplatten wackelig zusammen genagelte Hütten auf
krummen Pfählen über den Ufern, darunter ein müllübersäter
Streifen schwarzen Schlicks, der zur Flussmitte hin in ein seichtes,
nach Kloake stinkendes Gewässer überging. „Saigon von hinten…“
brachte Anna nach einiger Zeit hervor. „Anscheinend hat der
Wirtschaftsboom noch nicht alle erreicht.“ versuchte Tina sich
einen Reim auf den Anblick zu machen. „Oder umgekehrt, er zeigt
hier seine Schattenseiten.“ meinte Anna.
Den beiden blieb
nichts anderes übrig, als den Rückweg anzutreten. Sie wählten eine
andere Route als die, auf der sie hergekommen waren und hatten Glück.
Unweit hatte doch noch ein kleines Café geöffnet, in dem sie sich
niederlassen konnten.
Es
war schon Spätnachmittag, als sie sich in Richtung ihres Hotels
wieder in Bewegung setzten. Der nahende Abend schien Saigon erst
richtig erwachen zu lassen. Viele der kleinen Läden waren
nachmittags geschlossen gewesen, aber nun wurden ihre Rollos mit
lautem Scheppern hochgezogen. Kleine Tische wurden an die
Fahrbahnkante geschoben und Vasen mit kunstvoll gebundenen Sträußen
aus rosa blühenden Pfirsichzweigen, Rüschen und gefärbten Gräsern
darauf gestellt. Tina und Anna konnten nicht ergründen, ob die
Sträuße als Festtagsschmuck dienten oder ob sie zum Verkauf
standen.
Immer mehr Menschen bevölkerten die Bürgersteige und
auf den Straßen verwandelte sich der vorher spärlich fließende
Verkehr binnen einer halben Stunde in eine wahre Sturzflut aus
Rollerfahrern. Ihr ununterbrochener Strom überschwemmte alle
Fahrbahnen, sickerte auf die Bürgersteige und erfüllte die
Häuserschluchten mit ohrenbetäubendem Gebrumm. Wer zu Fuß, mit dem
Auto oder gar mit einem Lastwagen unterwegs war und es nicht
verstand, sich von diesem Fluss mittragen lassen, der strandete
hilflos am Rand oder schlimmer, mitten drin.
Tina und Anna ließen
sich durch das Getümmel treiben, schauten sich die Auslagen in den
Läden an, beobachteten Rollerfahrer, die sich mit kleinen
Kumquatbäumen voller Früchte auf dem Gepäckträger durch den
Verkehr schlängelten oder am Bürgersteig auf ein Schwätzchen mit
den Ladenbesitzern halt machten. Die meisten Leute waren sichtlich
gut gelaunt, Bekannte grüßten sich von Weitem und gelegentlich
klang das Lachen junger Leute von den vorbei flitzenden Rollern
herüber. Hin und wieder war es notwendig, die Straße zu überqueren,
was auch an Kreuzungen mit Verkehrsampel jedes mal ein kleines
Abenteuer war. Erst als sie das koloniale Stadtzentrum, in dem auch
ihr Hotel lag, wieder erreicht hatten, nahm auch das Gewimmel in den
Straßen etwas ab.
Für
das Abendessen hatte Tina ein Restaurant ausgesucht, das in ihrem
Reiseführer wegen seiner besonders authentischen vietnamesischen
Küche gelobt wurde. Als sie jedoch die Speisekarte musterte dauerte
es nicht lange und Tina ließ sie entmutigt auf den Tisch sinken.
„Das liest sich alles so toll hier, aber leider sagt es mir gar
nichts.“ bemerkte sie resigniert. „Also, meine vietnamesische
Freundin hat gesagt, wir müssen auf jeden Fall Pho probieren, am
besten mit verschiedenen Gemüsen, Koriander, Sojasprossen und
Rindfleisch. Vielleicht noch ein paar Frühlingsröllchen mit
Fischsoße dazu… Schau mal hier, da haben sie so etwas auf der
Karte. ..“ Eine junge Serviererin hatte sich inzwischen ihrem Tisch
genähert. „Do you speak English?“ fragte sie freundlich.
Ab
da war es nicht mehr schwierig, sich auf eine Speiseauswahl zu
einigen. Und schon nach den ersten Bissen musste Anna Thuan im
Stillen recht geben. Das vietnamesische Essen war Klassen besser als
alles, das sie jemals in China gegessen hatte. „Mhhh, ist das
lecker hier!“ Auch Tina war begeistert. „Ich glaube, wir beide
geben ein gutes Reiseteam ab, Anna.“ Anna schaute fragend von ihrer
Suppenschüssel auf. „Also, ich suche aus was wir besichtigen und
Du sorgst dafür, dass wir abends was Anständiges auf dem Teller
haben.“ kicherte Tina.
Bevor sie sich in ihr Hotelzimmer zurück
zogen, saßen sie auch an diesem Abend wieder mit einem Getränk auf
der Dachterrasse ihres Hotels. Der Ausblick von dort oben war einfach
zu bezaubernd, um ihn sich auch nur einmal entgehen zu lassen. Wieder
standen sie mit dem Glas in der Hand nebeneinander an der Brüstung
und ließen ihren Blick über das immer noch lebhafte Treiben unter
sich schweifen. „Also ich glaube, ich bin dabei mich in Saigon zu
verlieben…“ gestand Tina nach einer Weile. „Oh ja, mir geht es
nicht viel anders. Irgendwie strahlt diese Stadt… sie strahlt und
summt.“
Wo der Pfeffer wächst
Seit
dem frühen Morgen waren Tina und Anna auf den Beinen und doch waren
sie spät dran. Eilig packten sie ihre Koffer um in Richtung
Flughafen aufzubrechen. Das morgendliche Saigoner Verkehrschaos
stellte den Taxifahrer und seine beiden Fahrgäste auf eine
nervenzehrende Geduldsprobe, an deren Ende sie gerade noch
rechtzeitig, verschwitzt und außer Atem am Schalter der
vietnamesischen Fluggesellschaft eintrafen.
„Uff, ab jetzt geht
es hoffentlich etwas geruhsamer weiter.“ Tina atmete tief durch.
„Und ich bin jetzt gespannt, wohin es überhaupt weiter geht“,
antwortete Anna. „Ich kann mir den Namen dieser Insel, die Du da
ausgesucht hast, einfach nicht merken.“ Sie schaute auf ihr
Flugticket. „Phu Quoc – Was der Name wohl bedeutet?“ – „Keine
Ahnung“, Tina zuckte mit den Achseln.
Bald nachdem das Flugzeug
seine Reisehöhe erreicht hatte, sahen sie unter sich die lehmgelben
Flussarme des Mekong in der Sonne glitzern. Seine Fluten suchten sich
durch ein weit verzweigtes Flussdelta ihren Weg zum Ozean, wo sie
ihre lehmige Fracht mit breiten gelben Zungen in das tiefe Blau
spien. In einem Bogen führte ihre Route sie anschließend nach
Nordwesten Richtung kambodschanische Grenze auf den Golf von Thailand
hinaus. Und eine halbe Stunde später ging das Flugzeug auch schon
wieder in den Sinkflug über.
„Ist es vom Flughafen aus weit
bis zu dem Hotel, das Du gebucht hast?“, wollte Anna wissen. „Och,
ein Stück weit müssen wir schon noch über die Insel fahren. Aber
keine Sorge, wir werden am Flughafen abgeholt. Und davon abgesehen,
lass Dich doch einfach mal überraschen, Anna. Du kannst jetzt ja eh‘
nichts mehr ändern“, schmunzelte Tina.
Der
Taxifahrer, der sie abholte, stand gleich neben dem Ausgang der
kleinen Ankunftshalle, hielt ein Schild mit ihren Namen hoch und
begrüßte sie mit breitem Grinsen. Schnell wurde deutlich, das eine
Verständigung mit ihm nur mit Händen und Füßen möglich war. Also
trotteten sie ergeben hinter ihm her, Tina mit großem Reiserucksack
und Umhängetasche, Anna mit großem Rollenkoffer und einem
Minirucksack auf dem Rücken.
Draußen warteten gut zwei Dutzend
Taxis und eine Handvoll Minibusse auf Fahrgäste. Der Taxifahrer
durchschritt ihre Reihen jedoch und hielt auf einen weiter entfernt
liegenden Parkplatz zu. Dort blieb er, nach wie vor breit grinsend,
vor einem zweisitzigen roten Moped stehen. Tina und Anna schauten ihn
ratlos an. Er überlegte einen Moment, dann begann er, mit den Armen
zu deuten und zu rudern. „Ähem… wie meint der das jetzt, Tina?“
– „Ich glaube er meint, wir sollen aufsteigen…“ erwiderte
diese achselzuckend. „Und das Gepäck?“ Anna deutete fragend auf
ihren Koffer. Der Taxifahrer schien das als Ermunterung zu verstehen,
nahm ihr schnell den Rollenkoffer aus der Hand und wuchtete ihn mit
Schwung hochkant in die Mitte des Mopedsattels. Dann bedeutete er
ihr, sich hinter ihren Koffer zu setzen und diesen festzuhalten. Anna
war zu überrumpelt, um Widerstand zu leisten und tat wie ihr
gehießen. Tina wurde hinter Anna auf den Sitz dirigiert, wo ihr
nichts anderes übrig blieb, als hinter sich zu greifen um sich am
Gepäckträger festzuklammern. Nicht einmal der Fahrer selbst trug
einen Sturzhelm, die Frage nach zusätzlichen Helmen für seine
Mitfahrerinnen erübrigte sich. Ungerührt grinsend schwang er sich
vor Anna auf den Sattel, die ihren Koffer samt Fahrer umarmen musste,
um während der Fahrt das Gleichgewicht halten zu können. Der Fahrer
startete und steuerte sein vorwurfsvoll knatterndes und qualmendes
Maschinchen zur Durchgangsstraße Richtung Südwestküste.
Während
das Moped mühsam Fahrt aufnahm, stauchte jede Delle im Asphaltbelag
die völlig überlastete Federung bis zum Anschlag zusammen. Die
Stöße fuhren Anna den Rücken hinauf, panisch suchte sie einen
stabileren Halt für ihre Füße. „Ausblenden, festhalten, mitgehen
und nach vorne schauen!“ befahl sie sich immer wieder, als sie
merkte, wie tausenderlei Befürchtungen in ihrem Kopf Samba zu tanzen
begannen. Es war Jahrzehnte her, seit sie selbst Motorradfahrerin
gewesen war, aber das war in einer anderen Welt gewesen.
Langsam
gelang es ihr, etwas mehr von der Landschaft zu beiden Seiten der
Straße wahrzunehmen. Zunächst säumten noch schlichte kleine
Vorstadthäuser mit umzäunten Gärten die Straße, bald machten
diese jedoch einer lockeren Mischung aus Feldern, Buschwerk und
kleinen Wäldchen Platz. Eine Erde aus sienarotem Ocker kontrastierte
lebhaft mit dem saftigen Grün, das ihr entspross. Sienaroter Staub
lag auf dem Asphalt, bis ein Fahrzeug ihn in Wolken hochwirbelte um
die entgegenkommenden Verkehrsteilnehmer damit einzupudern.
Nach
wenigen Kilometern endete die Asphaltdecke der Straße in einer
hausgroßen Mulde, die der Fahrer gekonnt durchfuhr. „Wir haben
richtig Glück!“ schrie Tina da von hinten. „Wieso?“ – „Naja,
es könnte ja auch ein Tropenregen niedergehen!“ Anna hatte
plötzlich vor Augen, wie das Moped samt Fahrgästen und Gepäck bis
über den Sattel in sienarotem Schlamm versank und der Motor hustend
darin absoff. „Tina, Du bist wirklich krisenfest!“ prustete sie
lachend. Die Spannung war gebrochen. Ab nun begann Anna die Fahrt zu
genießen, die in einen Slalom um riesige Schlaglöcher herum
überging.
Als
sie nach einiger Zeit durch ein kleines Dorf kamen, hielt der Fahrer
an um seinen Fahrgästen eine Pause zu gönnen. Weiter ging es
anschließend über einen kurvigen Feldweg, der in hügeligem Gelände
verstreute kleine Weiler miteinander verband. Und dann, nachdem sie
eine Anhöhe erklommen hatten, leuchtete unvermittelt das Türkis des
Ozeans unter ihnen, eingefasst von einer mit weißem Sandstrand
gesäumten Bucht. Der Fahrer stoppte, um sie den Anblick genießen zu
lassen. Unten am Strand sah man ein paar hohe Palmen, eine Handvoll
leere Plastikliegestühle stand weit verstreut zwischen ihnen herum.
Zurückgesetzt, am Fuß des Abhangs, ein Restaurant mit
Terrasse, am Hang darüber nichts weiter als ein halbwilder Garten
mit blühenden Sträuchern, Bäumen und vier palmwedelgedeckten
kleinen Holzbungalows mit Balkon.
Das Panorama verschlug Anna für
einen Moment die Sprache. „Tina, kneif mich! Das ist doch jetzt
kein Traum, oder?“ – „WOW!“ Auch Tina musste erst mal Luft
holen. Sie richtete sich auf soweit es auf dem Mopedsitz möglich
war, streckte die Arme in die Luft und atmete tief durch. „Ahhhh….
Doch Anna, es ist ein Traum. Warum sollte ich Dich kneifen?“. Der
Fahrer setzte wieder sein Grinsen auf, startete sein Maschinchen
erneut und schaukelte mit ihnen den Pfad zum Restaurant hinunter.
Es
dauerte kaum eine Stunde, und zwei der Liegen am Strand waren belegt.
Anna konnte es kaum erwarten, den sienaroten Staub, der sich überall
auf Haut und Haare gelegt hatte, im Meer abzuspülen. Als sie es sich
anschließend auf ihrer Liege bequem machte, hing die Sonne schon
tief am Horizont. Anna schaute zu, wie sie sich vorsichtig dem Ozean
näherte, ihr rotgoldenes Gleißen und Funkeln auf ihn schüttete bis
er davon überfloss und dann sanft in ihm versank.
Am Abend
fanden Tina und Anna sich zum Essen auf der Restaurantterasse ein.
Die Köchin und Managerin des Resorts, eine warmherzige Frau in den
Fünfzigern, verstand zwar kaum Englisch, umso mehr jedoch vom
Kochen. Das Essen bestand aus frischen Meeresfrüchten, Gemüsen und
Obst von der Insel und war Genuss pur. Tina und Anna waren die
einzigen Gäste. Als der Nachtisch serviert war, tauchte eine junge
Frau aus der Küche auf, für die Englisch kein Problem war. Man kam
schnell ins Gespräch und später gesellten sich die Managerin und
ein junger Mann hinzu, der im Resort für die handwerklichen
Tätigkeiten zuständig war. Tina und Anna erzählten von ihrer
bisherigen Reise und von ihren weiteren Plänen. Und ihre Gastgeber
versorgten sie mit Tipps, was man auf Phu Quoc unbedingt anschauen
müsse, was die besten Gerichte seien, welchen Markt man besuchen
müsse, wo es die beste Fischsoße gäbe und vieles mehr.
Es war
schon spät, als Tina und Anna wieder bei ihrem Bungalow eintrafen.
Sie standen auf dem kleinen Balkon, schauten über das nur noch
spärlich beleuchtete Restaurant, den in der Dunkelheit
verschwindenden Strand, den nachtschwarzen Ozean. Ein Halbmond lugte
zwischen schütteren Wolken hervor, unter sich einen silbernen
Teppich ausbreitend. „Schau mal Tina, da sind Lichter am Horizont!“
– „Stimmt, eine ganze Lichterkette sogar… Das müssen die
Fischerboote sein, von denen die junge Frau vorhin erzählt hat.“ –
„Sagte sie nicht, ihr Mann sei Fischer?“ – „Ja, so habe ich sie
auch verstanden…“ Schweigend blickten sie hinaus, lauschten dem
Rollen der Brandung, spürten dem lauen Wind nach. „Also ich geh‘
jetzt ich rein und träum‘ im Liegen weiter…“ gähnte Anna nach
einer Weile.
Auch an den folgenden Tagen verließ Anna das Gefühl
nicht, aus der Wirklichkeit gefallen und in einem Traum vom Paradies
am Ende der Welt gelandet zu sein. Zwischen Strand, Meer, kleinen
Erkundungstouren, köstlichen Mahlzeiten und Sonnenuntergängen
verschmolz die Zeit auf der Insel zu einem einzigen langen Augenblick
unbeschwerter Leichtigkeit.
Einer
ihrer Ausflüge führte Tina und Anna ins nächstgelegene
Hafenstädtchen, wo an diesem Tag Wochenmarkt sein sollte. Der
Vormittag war schon fortgeschritten, als das Mopedtaxi sie am Hafen
absetzte. „Schau, da sind die Fischerboote, die wir in der Nacht
auf dem Meer gesehen haben!“ Anna war von dem Anblick der türkis,
blau oder weiß gestrichenen Holzboote, die eines neben dem anderen
am Kai festgemacht hatten, fasziniert. „Die sind ja noch richtig
antik!“ staunte sie, als sie die Boote aus der Nähe betrachtete. –
„Und ich habe sie mir viel größer vorgestellt, die Fischer fahren
ja ziemlich weit raus damit.“ Auch Tina war von den Booten angetan.
Die meisten hatten vorne im Bug ein gut mannshohes Kreuz stehen, den
Querbalken mit dicken Seilknäulen behängt. Vor den Kajüten ragte
ein kleiner Metallkran auf zu dessen Füßen es meist noch eine
Seilwinde gab. Die Kajütendächer und die Holzkreuze waren mit
Scheinwerfern verziert, deren schüsselförmige Schirme an
Küchenlampen erinnerten. Netze, Seile und Kanister lagen auf den
Decks verstreut und einige Boote hatten eine große rote Schleife um
den kurzen Stummel gebunden, der den Bugspriet bildete. „Vielleicht
ist da jemand frisch verheiratet?“, rätselte Anna. „Rot ist in
Ostasien ja die traditionelle Hochzeitsfarbe.“ – „Das können wir
heute Abend unsere Gastgeber fragen“, meinte Tina. „Es muss ein
Knochenjob sein, mit diesen Booten draußen zentnerweise Fisch aus
dem Meer zu holen“, bemerkte Anna. „Und ohne Risiko ist es
bestimmt auch nicht.“ Die harte Wirklichkeit, die diese Boote
hinter der Fischerromantik aufscheinen ließen hatte sie nachdenklich
gemacht.
Sie schlenderten weiter zur Mole, die das Hafenbecken in
einiger Entfernung vom Ozean abtrennte. Dort entlud gerade ein
Fischerboot seine Fracht, das größer und moderner war als die
Holzboote am Hafenkai. Eine kleine Gangway war herunter gelassen,
davor standen mehrere Mopeds mit Anhängern. Schon von weitem war zu
hören, wie die Mopedfahrer von ihrem Gefährt aus mit den Leuten
oben auf dem Boot schimpften und schacherten, jeder schien
gleichzeitig mit jedem zu verhandeln. Gelegentlich wurde dann ein
Plastikbottich mit frischem Fisch über die Gangway gereicht, der
Kunde bezahlte und versuchte, sein Gefährt aus dem Pulk heraus zu
manövrieren.
Amüsiert
beobachteten Tina und Anna eine Weile das Treiben, schlenderten
weiter zum Ende der Mole und kehrten dann wieder um in Richtung
Ortskern. Das Hauptsträßchen des Ortes wirkte zunächst
verschlafen. Vereinzelt unterbrochen von Werkstätten und kleinen
Läden dominierten Kneipen das Straßenbild. Sie bestanden fast nur
aus schlichten, mit Plastikstühlen umstellten Tischen, die man zu
beiden Seiten der Straße aufgereiht und mit Schutzdächern aus
Palmwedeln oder Planen versehen hatte. Es waren kaum Gäste da,
vereinzelt sah man vietnamesische Männer hinter einer Tasse Kaffee
sitzen. „Seltsam, hier gibt es doch noch so gut wie gar keine
Touristen, wovon leben dann diese ganzen Kneipen?“ wunderte sich
Anna „Das frag‘ ich mich auch, es können wohl nur die
Inselbewohner selber sein, die ihnen ihr Auskommen sichern.“ –
„Wieder was, das wir heute Abend unsere Gastgeber fragen müssen“,
grinste Anna.
Je weiter sie die Straße hinunter schlenderten,
umso lebhafter wurde das Treiben um sie herum und noch bevor sie den
Marktplatz erreicht hatten, säumten schon Marktstände zu beiden
Seiten die Straße. Die Passenten wurden in die Straßenmitte
abgedrängt, wo bald kaum noch ein Durchkommen war, Menschen und
Mopeds quirlten hupend und schreiend durcheinander. Die Marktstände
boten alles an Lebensmitteln, was die Insel zu bieten hatte.
Neben unzähligen Sorten Obst und Gemüse gab es frischen und
getrockneten Fisch, Meeresfrüchte und Gewürze, vereinzelt
Frischfleisch, hin und wieder auch einen Stand mit Bekleidung oder
Haushaltswaren. Die meisten Stände waren nicht mehr als ein aus
Kisten, Plastikhockern und großen Schüsseln zusammengesetztes und
mit Ware überladenes Provisorium, hinter dem die Inhaberin Wache
hielt oder mit ihren Kundinnen feilschte. Nur im hinteren Teil des
Marktplatzes gab es Markttische und in einer Ecke sogar eine kleine
Markthalle.
Langsam schoben Tina und Anna sich durch das Gedränge.
Ihr Blick hüpfte vom Rot der Tomaten zum Grün frischer Kräuter,
von formschönen Kaurischneckenhäusern zu schlappen Tintenfischarmen
und von Orangenbergen zu Auberginenpyramiden. Ein unbeschreiblicher
Geruchscocktail kitzelte ihre Nasen, Ananasduft mischte sich mit
Trockenfischgeruch, Mangofrische mit Pfefferaroma, Honigmelonensüße
mit dem Zweitakterparfüm der Mopeds. Lautstark wurde um sie herum
gefeilscht, geschrien und geschachert, auch hier schienen alle
gleichzeitig mit allen über alles zu verhandeln.
„Der Markt
scheint ganz in den Händen der Frauen zu sein“, stellte Tina nach
einer Weile fest. „Stimmt, weit und breit fast nur Marktfrauen und
deren Kundinnen, Männer scheinen sich hier nicht her zu trauen“,
nickte Anna. „Kein Wunder, die Frauen gehen hier ja ziemlich
resolut zur Sache!.“ – „Und was für ein Fest für die Sinne! Das
macht mir erst so richtig bewusst, wie arm der Alltag eines
Büroeuropäers an Sinnesreizen ist“, bemerkte Anna. „Stimmt!“,
nickte Tina. „Aber ich glaube, das Leben hier hat auch
Schattenseiten, die bekommen Touristen wie wir nur nicht zu sehen“,
fügte sie dann hinzu.
Der
Mittag war schon vorüber, als Tina und Anna den Markt wieder
verließen. „Puh, so langsam könnte ich eine Pause gebrauchen!“
stellte Tina fest. „Ich auch, aber lass uns noch weitergehen bis zu
der kleinen Bucht, von der uns unsere Gastgeber erzählt haben. Sie
muss hinter dem Rücken des Hügels da hinten liegen. Es gibt da auch
ein richtiges Restaurant, während hier im Ort anscheinend nur
Kneipen und der Markt im Angebot sind.“
Bald hatten sie das
Städtchen durchquert. Am Fuß den Hügels ging die Straße in einen
sandigen Feldweg über. Er führte durch lichten Buschwald, der sich
hinter dem Hügel zu einer langgezogenen Bucht mit strahlend weißem
Sandstrand öffnete. Das Restaurant war nicht viel mehr als ein
palmwedelgedecktes Holzhaus mit einer Küche und einer großen, zum
Strand hin gelegenen Terrasse. „Das ist fast baugleich wie das
Restaurant in unserem Resort“, stellte Anna fest. „Na hoffentlich
kochen sie auch genauso gut, ich habe nämlich Hunger!“, bemerkte
Tina während sie zügig auf einen freien Tisch zustrebte. Das
Restaurant war gut zur Hälfte mit vietnamesischen Familien besetzt,
außer Tina und Anna gab es keine Touristen unter den Gästen und
auch hier erwies sich das Essen als vorzüglich. „Noch scheint es
hier auf der Insel nur wenige Touristen zu geben“, bemerkte Anna.
„Es wirkt alles sehr ursprünglich und unberührt.“ – „Ja, das
war einer der Gründe, warum ich mich entschieden hatte, dieses Jahr
nach Vietnam zu reisen. Die Leute in meinem Reisebüro kennen mich ja
und meinten, wenn ich noch etwas vom ursprünglichen Vietnam sehen
wolle, solle ich nicht länger zögern. Schon jetzt hat die
vietnamesische Regierung erste Programme zur Tourismusentwicklung
aufgesetzt. Es ist absehbar, dass auch auf dieser Insel in ein paar
Jahren Bagger, Beton und Massentourismus Einzug halten werden.“ –
„Schade, schade…“, Anna klang bedrückt. „Ich hatte schon
überlegt, in ein paar Jahren mal wieder her zu kommen. Aber wenn die
Insel wirklich diesen Weg geht, dann will ich gar nicht mehr sehen,
was bis dahin daraus geworden ist.“ – „Geht mir ähnlich“,
nickte Tina. „Was wir jetzt hier erleben, wird sich nicht
wiederholen lassen.“
Nach dem Essen blieben Tina und Anna noch
eine gute Stunde, bis das Mopedtaxi sie beim Restaurant wieder
abholen würde. Mit den Schuhen in den Händen spazierten sie langsam
Richtung Brandung. Erst jetzt entdeckten sie die Esspavillons direkt
am Strand, die ebenfalls zum Restaurant zu gehören schienen. Ihre
kreisrunden Palmwedeldächer waren wie überdimensionale
Sonnenschirme in die Mitte großer runder Holztische gesteckt,
drumherum standen einfache Plastikstühle im Sand und ein schlichtes
Holzgeländer fasste das Ganze zusammen. Auch hier herrschte Betrieb,
fast alle Pavillons waren von vietnamesischen Familien besetzt,
drinnen wurde gegessen und getrunken während draußen die Kinder um
die Pavillons herum sprangen.
Davon abgesehen war der Strand noch
völlig naturbelassen. Vereinzelt sah man Pärchen am Saum der
Brandung auf und ab gehen, Omas suchten mit ihren Enkeln nach
Muscheln oder man saß im Schatten der Bäume beim Picknick.
Schwimmen oder gar Sonnenbaden schien jedoch nicht zu den
Freizeitvergnügungen der Vietnamesen zu gehören. Von vereinzelten
jungen Männern in Bermudas abgesehen waren alle voll bekleidet, die
Frauen zusätzlich mit Sonnenhüten ausgestattet.
Auch Tina und
Anna suchten sich bald einen Platz im Schatten, dösten vor sich hin
oder schauten dem Treiben um sie herum zu.
Die Sonne stand schon tief, als Tina und Anna sich hinter den Fahrer auf das Moped quetschen, das sie zurück in ihr Ferienresort bringen würde. Mittlerweile waren sie beide schon so ans Mopedfahren in Dreierbesetzung gewöhnt, dass es sie nicht mehr aus der Ruhe bringen konnte. Sogar auf Anna wirkte das Geknatter und Geruckel nach diesem Tag voller intensiver Eindrücke einschläfernd. Sie waren schon in der Nähe des Resorts angekommen, als der Mopedfahrer unvermittelt auf einen schmalen Pfad einbog, der in den Buschwald hinein führte. „Huch, was macht der denn jetzt?“ Anna fuhr aus ihrem Dämmerzustand hoch. Tina kicherte. „Wart’s ab, es gibt noch eine Überraschung für Dich!“ feixte sie. Einen guten Kilometer ging es mitten durch den Buschwald, der Pfad war stellenweise so schmal, dass sie von Zweigen gestreift wurden. Plötzlich öffnete der Buschwald sich und sie machten vor einem Feld halt, auf dem sich gut vier Meter hohe, dicke Stangen aneinander reihten. Bis obenhin wucherten kräftige dunkelgrüne Rankenpflanzen an den Stangen hinauf. Zwischen ihren herzförmigen Blättern sah man unzählige langgestreckte Rispen, an denen sich grüne Früchte wie kleine Trauben aneinander reihten. Tina und Anna stiegen ab um sich die Pflanzen näher anzuschauen. „Sag bloß, das ist Pfeffer?“ fragte Anna nach einigem Überlegen. „Bingo! Du sagtest doch neulich beim Abendessen, Du würdest gerne mal eine Pfefferplantage sehen. Et voilà, unsere Gastgeber haben den Mopedfahrer entsprechend instruiert“. – „Na, die Überraschung ist Euch aber gut gelungen!“ freute sich Anna. „Pfeffer ist ja ein Allerweltsgewürz und trotzdem hatte ich nie eine Vorstellung, wie die Pflanze aussieht, die dazu gehört.“ Sie gingen ein paar Schritte zwischen den Reihen in das Feld hinein. „Mich erinnert das hier entfernt an Hopfenpflanzen“, meinte Tina, „die klettern auch so hoch.“ – „Es muss eine ordentliche Turnerei sein, den Pfeffer bis ganz oben abzuernten, ohne lange Leitern geht es wohl nicht“, überlegte Anna. „Auch das könnten wir heute Abend mal unsere Gastgeber fragen.“ stellte Tina fest. „Komm, es wird Zeit dass wir weiterfahren, die Sonne ist schon unter gegangen.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Weißt Du Tina, wenn mich mal jemand dahin wünschen sollte wo der Pfeffer wächst, dann hätte ich nichts dagegen einzuwenden. Ich würde einfach sagen: ‚Her mit dem Ticket!‘, und weg wär‘ ich!’“
© Alice Maier, 2016 – 2018