Der Werkzeugschmied und die Zukunft
Am Rande eines
wohlhabenden Dorfes lebte einst ein Werkzeugschmied. Da er
fleißig war und geschickt mit Feuer und Eisen umzugehen wusste,
nährte ihn sein Handwerk wohl. Aber wenn er abends müde von der
Arbeit in seiner Stube saß, überfiel ihn die Schwermut und nichts
konnte ihn erheitern.
Eine Feuersbrunst hatte vor Jahren im Dorf
gewütet und sein Haus und seine Schmiede waren ihr zum Opfer
gefallen. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen, um sein kleines
Töchterlein aus den Flammen zu retten, für seine junge Frau aber
kam jede Hilfe zu spät. Nachdem er lange getrauert hatte, baute er
Haus und Schmiede wieder auf und begann, sich erneut nach einer Frau
umzusehen.
Sein Töchterlein aber hatte sich nach der Katastrophe
in einer Ecke zusammen gekauert. Stumm saß es dort tagein tagaus,
wiegte sich hin und her oder sah zum Fenster hinaus. Es antwortete
nicht, wenn er mit ihm sprach, aß nur selten, spielte und lachte
nie. Das Schlimmste aber war, es wuchs auch nicht mehr. Als der
Werkzeugschmied bemerkte, dass es mit dem Kind nicht besser wurde,
sprach er bei sich: „Ei, die Welt ist voller Ärzte, da wird es
sicher einen geben, der mein Töchterlein heilen kann. Ich
muss ihn nur finden!“ Und immer, wenn er von einem guten Arzt oder
einer heilkundigen Frau erfuhr, raffte er all sein Geld zusammen und
rüstete sich für die Reise.
Im selben Dorf lebte eine
Frau, die während jener Feuersbrunst ihr Kind verloren hatte und
danach keine weiteren mehr bekommen konnte. Als ihr Mann dies
bemerkte, verstieß er sie und nahm sich eine andere. Seither bot sie
als Ziehamme ihre Dienste an. Da die Kinder gut bei ihr
gediehen, war sie angesehen im Dorf und fand ein Auskommen.
Bevor
der Werkzeugschmied sich auf den Weg machte, nahm er sein Kind und
klopfte an ihre Tür. „Gute Frau, kannst Du mein Töchterlein in
Obhut nehmen bis ich wieder zurück bin?“ fragte er. „Ich will
Dir’s gut entlohnen!“ Als sie beim ersten Mal das sonderbare Kind
auf seinem Arm sah, zögerte sie. „Dein Kind ist in Gottes Hand“,
sagte sie dann mit fester Stimme „Ich bin nur seine Magd, ich will
Dein Geld nicht!“
Mit diesen Worten nahm sie ihm das Kind vom
Arm, nickte ihm freundlich zu und schloss die Tür. Der
Werkzeugschmied ging verwundert nach Hause, sperrte alles ab und
machte sich auf den Weg. So ging es jahrelang, er scheute weder
Mühe noch Kosten und kam viel herum. Mit der Zeit kannte er alle
Heilkundigen landauf, landab, niemand aber konnte seinem Töchterlein
helfen.
Da er ansehnlich war und
als gemachter Mann galt, konnte er auf seinen Reisen manchmal
eine junge Frau für sich gewinnen. Wenn sie sich nach einiger Zeit
der Werbung mit ihm verlobt hatte, brachte er sie heim in sein
Haus. Jedes Mal hoffte er, dass sie auch seinem Töchterlein
eine gute Mutter sei. Aber mit dem unheimlichen Kind hielt es keine
lange aus. Schon nach kurzer Zeit warfen sie dem Werkzeugschmied den
Verlobungsring vor die Füße, packten ihre Sachen und
zogen von dannen.
Die Zeit verging und ohne dass der
Werkzeugschmied es bemerkte, zerrannen seine Hoffnungen, die
Schwermut hielt Einzug. Seine Schläfen wurden grau und erste
Falten durchzogen sein Gesicht. Sein Töchterlein aber veränderte
sich nicht.
Nachdem wieder einmal eine Frau mit lautem Knall die Tür seines Hauses hinter sich zugeworfen hatte, packte ihn die Verzweiflung und er lief in die Stube. Wie immer saß sein Töchterlein in einer Ecke und sah zum Fenster hinaus. Als er das Kind so sitzen sah, stieg eine mörderische Wut in ihm hoch. „Teufelsbalg! Meine Zukunft stiehlst Du mir!“ schrie er völlig außer sich und schlug dem Kind ins Gesicht. Die Kleine aber weinte nicht, sie vergrub ihren Kopf zwischen den Armen, kauerte sich noch fester zusammen und begann wieder, sich hin und her zu wiegen. Beißende Scham durchfuhr ihn da, er stürzte aus dem Haus und lief und lief bis er erschöpft zusammen brach. Als er wieder zur Besinnung kam, war es Nacht, der Tau hatte sich auf ihn gelegt und er fror. Seine Schuld quälte ihn, als er schleppenden Schrittes nach Hause ging. So kann es nicht weiter gehen, sprach er bei sich und als er daheim anlangte, stand sein Entschluss fest.
Erneut rüstete er sich für eine Reise, nahm sein Töchterlein und ging zum Haus der Ziehamme. Als sie die Tür öffnete, flehte er sie an: „Gute Frau, hier hast Du all mein Geld, öffne Dein Herz für mein Kind und nimm es zur Dir für immer!“ Wieder zögerte sie einen Moment und sah im prüfend ins Gesicht. „Dein Töchterlein ist in Gottes Hand und ich bin seine Magd, Dein Geld will ich nicht!“ sagte sie dann wie immer und nahm ihm das Kind vom Arm. „Und Du, Werkzeugschmied, pass‘ auf Dich auf!“ fügte sie noch hinzu, bevor sie die Tür schloss. Tränen rannen seine Wangen hinab, als er sich auf den Weg machte.
Unterwegs
suchte der Werkzeugschmied nicht mehr nach Ärzten für sein Kind. An
die Künste der Heilkundigen glaubte er nicht mehr und wenn er Leute
von ihnen reden hörte, hielt er sich die Ohren zu. Ziellos
vagabundierte er von einem Ort zum anderen, Jahre vergingen. Er
übernachtete in Scheunen, schloss sich Gesellen auf der Walz an oder
verdingte sich für einige Zeit. Oft aber wanderte er
allein. Wo er hinkam, war er ein Fremder und wenn er ging,
war er es immer noch.
Eines Tages gelangte er an den Rand eines
großen Waldes, in dem es nicht mit rechten Dingen zugehen sollte.
„Ei“, sprach er bei sich. „Was soll mich noch anfechten!“ und
schritt unbekümmert auf dem Pfad aus, der mitten hinein führte.
Nach drei Tagen aber wurde der Weg schlecht und verlor sich
schließlich ganz. Der Werksschmied aber ging weiter, so gut es
im dichter werdenden Wald ging. Anfangs bemerkte er nicht, dass er
die Orientierung verlor und als er es bemerkte, war es ihm
gleichgültig. Plötzlich aber stand er vor einer riesigen Tanne, die
er vor Tagen schon einmal gesehen hatte. Da beschlich ihn
Unbehagen. Er beschloss, von nun an eine Richtung
einzuhalten, um dem Wald wieder zu entkommen. Als er Tage später
erneut bei der Tanne eintraf, stieg kalte Panik seinen Rücken
hinauf. Er ahnte, dass er nun um sein Leben kämpfen musste und lief
er erneut los. Wie er zum dritten Mal unter der Tanne stand, brach er
erschöpft zusammen und fiel in einen traumlosen Schlaf. Mitten
in der Nacht aber weckte ihn ein Geräusch. Er schreckte hoch
und blickte lauschend um sich.
Eine Mädchengestalt in einem
weiß schimmernden Gewand stand in einiger Entfernung zwischen den
Bäumen. Winkend forderte sie ihn auf, ihr zu folgen. „Ei, jetzt
verliere ich endgültig den Verstand“, sagte er sich. „Aber
ich weiß ohnehin keine Rettung, da kann ich auch hinter ihr
herlaufen.“ Während er ihr folgte, glaubte er, sein Töchterlein
in ihr zu erkennen. Er versuchte, sie einzuholen, aber es
gelang ihm nicht. Stundenlang stolperte er hinter dem Mädchen
her, bis der Morgen anbrach und erste Sonnenstrahlen durch
das Blätterdach des Waldes drangen. Da war sie plötzlich zwischen
den Stämmen verschwunden. Todmüde sank er an Ort und
Stelle nieder und schlief bis weit in den Mittag.
Er wollte sich
gerade erneut auf den Weg machen, als feiner Rauchgeruch in seine
Nase drang. Mit einem Mal waren seine Sinne hellwach. War es Rauch
aus einem Schornstein oder der eines Waldbrandes? Rettung oder
Verderben? Angespannt folgte er der Richtung, aus der der Rauch
zu kommen schien und fand sich kurz darauf am Rand einer großen
Lichtung wieder. Erleichtert trat er hinaus in die
Nachmittagssonne.
Am
Waldrand gegenüber stand ein altes Steinhaus, aus dessen Schornstein
es kräftig qualmte. Seitlich davon sah er einen Brunnen und weiter
hinten einen Schuppen. Vor dem Haus aber saß eine alte Frau auf
einem Hocker. Ein Spinnrad stand vor ihr, das sie eifrig surren ließ.
Zu ihrer Rechten gab es einen kniehoch gemauerten Herd, auf dem ein
golden schimmernder Kessel stand. Obwohl er mit einem Deckel
verschlossen war, brodelte es darin so laut, dass der Werkzeugschmied
es hören konnte. Zur Linken der Alten stand ein Korb mit vollen
Garnspulen auf dem Boden.
„Seid gegrüßt, Wandersmann!“ rief
die Alte freundlich herüber. „Seid gegrüßt, ehrwürdige Frau!“
antwortete er und ging zögerlich auf das Haus zu. „Wohin des
Weges, so spät am Tag?“ wollte sie wissen. „Wohin, woher, das
weiß ich nicht!“ antwortete er. „Ei,“ sagte da die Alte, „dann
lasst es genug sein für heute. Setzt Euch her und leistet mir ein
wenig Gesellschaft.“ Sie unterbrach ihr Spinnen und wies auf
einen Holzklotz, der ihr gegenüber im Grase lag. „Eine Mahlzeit
kann ich Euch wohl bieten und auch ein Lager für die Nacht. Morgen
aber müsst Ihr beizeiten weiter ziehen, denn ich habe zu tun.“
fügte sie hinzu, als er Platz nahm. Nachdem er seine müden Beine
ausgestreckt hatte, begann er die Alte verstohlen zu mustern.
Ihr
schlohweißes Haar leuchtete in der Sonne und ihre wettergegerbte
Haut war von tiefen Runzeln durchzogen. Ihre Hände aber, die emsig
Stränge einer durchsichtigen Wolle aus dem Faserbausch
auf ihrem Schoß zupften, waren die einer jungen Frau. Und dort, wo
die Sonne auf die Fasern fiel, glitzerten diese in allen Farben des
Regenbogens. Der Faden aber, den die Alte spann, war so dünn,
dass er ihn kaum sehen konnte. Obwohl der Werkzeugschmied viel herum
gekommen war, hatte er noch nie eine solche Wolle gesehen.
„Von welchem Tier stammt die Wolle, die Ihr da spinnt?“ fragte er
neugierig. „Oh, sie ist von keinem Tier und keiner Pflanze, ich
stelle sie selbst her.“ war ihre Antwort.
Mit dieser Alten
stimmt etwas nicht, dachte er da bei sich. Im selben Moment lupfte
das brodelnde Gebräu kurz den Deckel des goldenen Kessels und etwas
Flüssigkeit spritzte auf den Boden. Wo die Tropfen auf die Erde
fielen, zischte es, Funken stoben und blauer Rauch stieg auf. „Mach‘
Dir nichts draus, das gehört zu meinem Handwerk.“ lächelte
die Alte freundlich. Da sah er, dass sie auch noch alle Zähne hatte.
„Ihr werdet sicher
hungrig sein!“ lenkte sie ihn ab und als er eifrig nickte, wies sie
mit dem Kopf auf die offen stehende Haustür. „Geht rein, dort
findet Ihr Teller und Löffel neben dem Herd. Unten im Ofen steht
Geschmortes für Euch bereit, nehmt, soviel Ihr essen könnt.“ Da
er großen Hunger hatte, kam er schnell auf die Füße. „Aber Ihr
müsst mir versprechen, dass Ihr nicht in die Töpfe guckt, die auf
dem Herd stehen!“ rief sie ihm nach, als er hinein eilte.
Tatsächlich lagen Teller und Löffel neben dem großen Herd bereit,
der den hinteren Teil des Hauses vollständig ausfüllte. Und auf dem
Herd standen 5 riesige Kessel, jeder dreimal so groß wie der goldene
draußen. Auch in diesen brodelte es und er sah, dass sie
verschiedene Farben hatten. Einen roten, einen schwarzen, einen
blauen, einen weißen und einen grünen konnte er im Halbdunkel
erkennen. Aha, daraus macht die Alte wohl ihre Fasern, dachte er und
konnte seine Neugierde nicht mehr bezähmen. Der rote Kessel
stand ihm am nächsten. „Ei, was soll schon drin sein!“ sagte er
sich, umwickelte flugs seine Hand mit einem Tuch, das auf
der Herdstange hing und hob den Deckel. Da
ertönte ein Heulen, das ihm durch Mark und Bein fuhr, eine
Feuersbrunst wirbelte auf ihn zu, er sah Häuser brennen
und Mensch und Vieh schreiend fliehen, er sah sein erstes Haus
lichterloh in Flammen stehen und darin seine Frau, wie sie
vergeblich versuchte, zu entrinnen. Entsetzt knallte er den
Deckel auf den Topf. Er zitterte, kalter Schweiß lief ihm den Rücken
hinunter und die Beine versagten ihm den Dienst. Zuckend sank er vor
dem Herd zu Boden und brauchte lange, bis er sich wieder gefasst
hatte. Mit Macht meldete sich dann sein Hunger wieder, seine
Hände aber zitterten immer noch, als er schließlich die
Ofenklappe öffnete und den Teller bis zum Rand mit dem köstlich
duftenden Schmorgericht füllte. Gesenkten Hauptes ging er
wieder hinaus zu seinem Holzklotz und erwartete die Strafpredigt der
Alten. Die aber ließ ungerührt ihr Spinnrad surren und sah lächelnd
zu, wie er das Essen gierig in sich hinein schaufelte.
Er hatte
seinen Teller fast geleert, als er sah, wie die Alte den Deckel des
goldenen Kessels hob und zur Seite legte. Dann
krempelte sie den Ärmel hoch und fuhr mit der bloßen Hand in die
kochende Brühe. Dem Werkzeugschmied fiel beinah der Löffel aus der
Hand, die Alte aber tauchte ihren Arm bis zum Ellenbogen in den
Kessel und rührte seelenruhig darin herum, bis sie schließlich
einen dicken Bausch Fasern heraushob. Die dampften und zischten,
während sie den Bausch über dem Kessel abtropfen ließ. Dann
legte sie ihn in ihren Schoß und hob den Deckel wieder auf den
Kessel. „Der letzte für heute.“ sagte sie lächelnd zum
Werkzeugschmied und begann erneut, Stränge aus dem Faserbausch zu
zupfen um sie dem Spinnrad zuzuführen.
Langsam
wurde es Abend. Die untergehende Sonne
warf ihre letzten Strahlen auf die dicken Garnspulen im Korb auf dem
Boden. Da begannen sie in einem Feuerwerk aus allen
Farben zu blitzen und zu strahlen. Der Werkzeugschmied
blinzelte geblendet. „Welche Stoffe werden aus Ihrem Garn
gewebt?“ fragte er die Alte. „Ich habe noch nie einen Weber
mit solchem Garn weben und noch keine Marktfrau Stoffe daraus
anbieten sehen.“ – „Da hast Du recht“, antwortete sie.
„Kein Mensch kann dieses Garn verweben, es ist zu fein für
Euren groben Geist und zu fest für Euer schwaches Gemüt. Eure
Hände können es nicht greifen und die plumpen Gestelle Eurer
Webstühle würden davon in Stücke geschnitten, eh‘ der Webschütze
den Schussfaden das erste Mal durchgezogen hat.“ – „Wozu ist
es dann nütze, wenn niemand es verweben kann?“ – „Oh, hin und
wieder habe ich eine Frau in der Lehre, der ich zeigen kann, wie sie
mit meinem Garn Zwirne für Fischernetze zwirnen kann, die fein und
fest genug sind um damit in der Zukunft zu fischen und den Fang
einzuholen.“
Der Werkzeugschmied horchte auf. „Sie
verstehen also etwas von der Zukunft?“ fragte er vorsichtig.
„Kommt drauf an, was Du über sie wissen willst.“ nickte die Alte
achselzuckend. „Dann sagt mir, ehrwürdige Frau, werde ich
jemals eine Frau finden, mit der ich glücklich sein kann? Wird es
jemals Heilung geben für mein krankes Töchterlein? Werde ich jemals
wieder ein Zuhause haben oder werde ich allein durch die Welt
vagabundieren bis ins Grab?“ brach es da ihm heraus. – „Schon
gut, schon gut!“ beschwichtigte sie ihn. „Ich kenne Deine Sorgen!
Und weil sie gar so groß sind, will ich mir Mühe geben. Es ist
nämlich nicht einfach, Euch Menschen etwas über die
Zukunft zu erzählen.“ – „Aber warum denn, wenn Sie so viel
Weisheit besitzen?“ – „Nun, ihr glaubt, wenn ihr alles über die
Zukunft wisst, dass Ihr dann Ruhe findet. Aber das ist eine Illusion.
Denn was nützt es einem Dürstenden, wenn ein Ozean über ihm
zusammen schlägt?“ – „Aber mich, mich würde es glücklich
machen!“ beharrte der Werkzeugschmied trotzig. „Ich kann nur
versuchen, Dir gerade so viel zu erzählen, dass es das zarte
Flämmchen Deines Geistes nicht auslöscht.“ erwiderte die Alte mit
fester Stimme und überlegte.
„Es
beginnt schon damit, dass Ihr Menschen nach der Zukunft fragt, aber
es ist nicht die Zukunft, die Euch interessiert.“ fuhr sie nach
einer Weile fort. „Ihr wollt nur wissen, ob Eure Pläne aufgehen
und Eure Erwartungen sich erfüllen. Darin seid Ihr wie Kinder, die
wissen wollen, ob alles unter dem Weihnachtsbaum liegen wird, was sie
auf ihre Wunschzettel geschrieben haben. Wenn Ihr es dann bekommen
habt, macht es Euch für ein paar Augenblicke glücklich. Wenn
nicht, hadert Ihr jahrelang mit Eurem Schicksal. Immer aber setzt Ihr
Euch hin und schreibt den nächsten Wunschzettel. Niemals lasst ihr
die Illusion fallen, dass Euch glücklich macht, was ihr Euch
vorstellt.“ Der Werkzeugschmied sah sie an, als hätte sie in
fremden Zungen geredet.
Da seufzte die Alte, holte tief Luft und
versuchte es noch einmal. „Wenn Du eine Zukunft haben willst,
Werkzeugschmied, musst Du Deine Pläne und Erwartungen alle
fallen lassen und die Ungewissheit umarmen, die dann übrig bleibt.
Denn sie ist es, die Deiner Zukunft Platz schafft in Deinem Haus. Und
Du musst Vertrauen haben, denn das gibt ihr die Zeit, die sie
braucht, um darin einzuziehen. Wenn Du das schaffst, Werkzeugschmied,
dann wird sie sich in Deinem Haus ausbreiten wie Morgentau, der
auf die ersten Sonnenstrahlen wartet.“ Da begann er zu
ahnen, wie sehr er mit seinen Fragen bei ihr auf dem Holzweg war
und schwieg. Er verstand immer noch nicht, was die Alte ihm gesagt
hatte, ihre Worte hatten aber tief in ihm etwas angerührt, das ihn
tröstete.
„Ich bin müde“, sagte er nach einer Weile. Die
Alte wies auf den Schuppen neben dem Haus. „Dort gibt es eine
Kammer, da kannst Du übernachten“, sagte sie. „Und sorge Dich
nicht, wenn es bei mir heute Nacht laut wird. Wenn Du im Bett
bleibst, kann Dir nichts passieren“, fügte sie hinzu.
In der
Kammer stand ein frisch gemachtes Bett. Erschöpft fiel der
Werkzeugschmied hinein und sank in tiefen Schlaf. Mitten in der Nacht
aber wurde er von Rumoren aus dem Haus der Alten wach und schlich ans
Fenster. Drüben zuckten blaue Blitze hinter den Fensterscheiben, in
denen er die Umrisse der Alten erkannte. Sie stand am Herd und
befüllte ihre Töpfe. Es blitzte, krachte, heulte und donnerte,
wenn sie etwas hinein schüttete. Und dann spürte er, wie
die Erde zu beben begann, erst nur schwach, dann immer stärker.
Schnell sprang er da ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Nach
einer Weile wurde es wieder ruhig und er schlief durch bis in den
Morgen. Als er wieder vor den Schuppen trat, saß die Alte schon
neben ihrem goldenen Kessel in der Sonne, lächelte ihm zu und ließ
ihr Spinnrad surren.
„Guten Morgen werte Frau!“ grüßte er
sie. „Erlauben sie mir noch eine Frage, bevor ich gehe?“ Die Alte
schaute auf. „Was sind das für Frauen, die Sie in die Lehre
nehmen?“ Die Alte überlegte. „Oh, das sind meist schlichte
Gemüter.“ erwiderte sie. „Wenn aber ihr Herz groß genug ist, um
sich um mehr als nur um die eigne Brut zu sorgen und wenn Ihr
Glauben Wurzeln hat, die über ihren Gartenzaun hinausreichen,
kann ich sie lehren. Wenn sie bereit ist, rufe ich sie, ihren Weg zu
mir wird sie dann schon finden.“ Der Werkzeugschmied
überlegte und sah zu Boden. „Du aber geh nach Hause, wo Du
hergekommen bist.“ fuhr sie fort. „Öffne Deine Schmiede und
mach‘ Dich an die Arbeit. Magst Du dort auch allein sein, so ist doch
für alles bestens gesorgt. Und wenn Schwermut Dich heimsucht,
nimm dies, es wird Dich erinnern, was Du hier gelernt hast.“ Sie
griff in ihren Korb und reichte ihm die erste volle Garnspule des
Tages.
„Siehst Du dort am Waldrand den Vogelbeerbaum? Da findest
Du das Ende eines Fadens. Folge ihm und er wird Dich aus diesem Wald
führen. Und jetzt gehabt Euch wohl, Werkzeugschmied!“.
Da nahm er die Spule, lüftete er grüßend seinen Hut und ging auf
den Vogelbeerbaum zu. Wirklich, dort war ein Faden angebunden,
dem er nun Tag und Nacht folgte. Immer, wenn er zurückschaute,
war der Faden aber hinter ihm verschwunden, als wäre er
nie da gewesen.
Als
er aus dem Wald herauskam, war sein Haus noch fern. Erst nach Jahr
und Tag stand er wieder davor. Still lag alles noch da wie er es
einst verlassen hatte. Er öffnete die Haustür und
sah drinnen einen kleinen Umschlag auf dem Boden liegen. Als er ihn
vorsichtig öffnete, fiel eine blonde Locke heraus. Tränen standen
in seinen Augen, als er das Haar seines Töchterleins erkannte. Den
kleinen Zettel, der noch im Umschlag gesteckt hatte, konnte er kaum
lesen. „Ich habe mich auf den Weg gemacht“, stand da in
wackliger Schrift. „Deinem Töchterlein geht es gut!“
Ein
Schrecken durchfuhr den Werkzeugschmied. Er lief zum Haus der
Ziehamme und hämmerte an ihre Tür. Niemand öffnete, im Haus
blieb alles totenstill. „Sie ist vor Jahr und Tag gegangen!“ rief
ihm da eine Nachbarin zu, die alles beobachtet hatte. „Dein
Töchterlein hat sie mit sich genommen.“ Verwirrt und
besorgt kehrte er nach Haus zurück. Als er sich spät am Abend aber
seiner Kleider entledigte, spürte er eine Beule in der Tasche. Er
griff hinein und hatte die Garnspule der Alten in der Hand, die er
schon fast vergessen hatte. Im Kerzenlicht schimmerte das Garn in
allen Farben. Er versuchte, den Faden zu greifen und abzurollen,
konnte ihn aber nicht fassen, er war zu fein. Da kehrte die
Erinnerung wieder und er fand ein wenig Trost. Am nächsten
Tag aber sperrte er seine Werkstatt auf und machte sich an die
Arbeit.
Jahre vergingen. Wenn der Werkzeugschmied abends müde in der Stube saß und die Schwermut ihn ansprang, holte er die Garnspule hervor, freute sich an ihrem Farbenspiel und schöpfte neuen Mut.
An einem Frühlingsmorgen, als er wie immer vor sein Haus trat, hörte er plötzlich Kinderlachen von der Straße her. Er schaute zum Gartentor hinüber und sah eine Frau dort stehen. An einer Hand hielt sie ein Mädchen, in der anderen trug sie einen Korb voll dicker Garnspulen. „Werkzeugschmied!“ rief sie ihm zu, „kennst Du mich nicht mehr?“ Da öffnete das Mädchen das Gartentor und sprang auf ihn zu. „Vater!“ rief sie freudig, da erst erkannte er sein Töchterlein wieder. Er konnte sein Glück nicht fassen, drückte sie und wirbelte sie herum, weinte und lachte zugleich. Sie war groß geworden, schwerer, als er sie in Erinnerung hatte und er war nicht mehr der Jüngste. Bald war er außer Atem und rang nach Luft. „Nimm sie wieder zu Dir, sie bringt Dir die Zukunft ins Haus!“ sagte lachend die Ziehamme und wandte sich zum Gehen. „Halt, lauf‘ nicht weg!“ rief er ihr nach, sie aber machte sich auf den Weg zu ihrem Haus.
Da fasste er sich ein Herz und lief ihr nach. Als er sie eingeholt hatte ergriff er ohne zu Zögern ihre Hand, kniete an Ort und Stelle nieder und bat sie, seine Frau zu werden. Sie sah ihn prüfend an. „Du bist erwachsen geworden.“ stellte sie dann fest. „Ja, ich will!“
© Alice Maier, Oktober 2020