Alte Karten


„Wumm …“ Annas Kopf wurde in den Nacken geschoben, der Nasenrücken schmerzhaft gedrückt, ihr Körper unsanft zum Stehen gebracht. Leiser werdend vibrierte die Glas­scheibe nach, gegen die sie gerade gelaufen war. Warum gab es zwischen Bett und Bad plötzlich eine Glasscheibe? Anna wurde nur langsam wach, es musste gegen Drei in der Nacht sein. Schlaftrunken und ohne Brille war sie in Richtung des Scheins der Straßen­laterne getappt. Die stand direkt vor dem Haus und erleuchtete den ganzen Flur. Sie stand, wo sie immer steht, aber diese verglaste Tür, wo kam die her? Die Scheibe war nicht einmal durchsichtig sondern blickdicht mattiert, aber lichtdurchlässig genug um für eine verschlafene Kurzsichtige zur Falle zu werden.
Anna war nun soweit wach, dass sie um sich blickte. Sie rieb sich den schmerzenden Nasen­rücken. Stimmt, das hier war gar nicht ihr Schlafzimmer, sondern ihre Küche. Und sie schlief in der Küche, weil dieser Raum gestern zu ihrem Schlafzimmer geworden war. Sie hatte es so gewollt. Ihre neue Küche befand sich jetzt ein Stockwerk tiefer, genau unter ihr. Langsam fügten sich Teile zu einem stimmigeren Puzzle. Anna at­me­te durch, schob die Tür auf und schritt hindurch. Ob ich eine Scheibengardine vor der Ver­glasung anbringen sollte? Glastür mit Scheiben­gardine, spießig wie in den Fünfzigern … oder besser die Tür nachts offen stehen lassen? Über solchen Gedanken schlief sie wenig später wieder ein.

Ihrem Nasenrücken war nichts anzusehen, stellte sie beim morgendlichen Blick in den Spiegel fest. Aber wenn sie ihn betastete schmerzte er, als wäre er verstaucht. Ein regne­rischer Samstag brach an, sie konnte sich Zeit lassen mit dem Frühstück. Und die brauchte sie. Die neue Küche war erst zum kleineren Teil eingeräumt. Ein Sammelsurium aus Töpfen, Geschirr und Küchenutensilien bedeckte die Arbeits­flächen und Stühle. Alles wartete darauf, dass Anna einen passenden Platz dafür fand. Es dauerte, bis sie beisammen hatte, was sie für ihr Müsli und den Kaffee brauchte. Als sie endlich kauend am Tisch saß, ging ihr die zu Ende gehende Woche und die unsanfte Begegnung mit der Glasscheibe im Kopf herum.

Alle Zimmer in ihrem Haus waren umgezogen worden, nicht nur Küche und Schlafzimmer. Zuvor leer stehende Räume wie diese Küche hatte sie zusätzlich bezogen. In den bisher bewohnten Zimmern gab es Platz für Neues. Kein Ding stand noch am alten Platz, die gewohnten Gänge waren von jetzt an anders zu gehen. Wie? Auch diese Frage wartete noch auf passende Antworten. Wie der Gang vom Bett ins Bad zum Beispiel. Anna befühlte unwillkürlich ihren Nasen­rücken.

Seit Montag hatte sie ununterbrochen ihre Sachen aus- und eingeräumt, Handwerker dirigiert, Kartons und Gegenstände auf und ab geschleppt, geputzt und gesaugt. Nun herrschte Stille, mitten im Durcheinander, die Ruhe nach dem Sturm.
Alles umgeben von den vertrauten Wänden eines Hauses, in dem Sie seit über fünfzehn Jahren wohnte. Sie war hier sogar aufgewachsen, um genau zu sein. Wenn sie ihre Kindheit und Jugend mitrechnete, brachte sie es sogar auf über 35 Jahre in diesem Haus. Es ist alles noch wie es am Montagabend war, sagten die Wände beruhigend. Womit sie logen, zumindest teilweise. Und vergangene Nacht bin ich auf Euch reingefallen, grollte Anna ihnen augen­zwin­kernd. Sie begann zu ahnen, dass die Vertrautheit des Hauses die Umgewöhnung schwieriger machen konnte statt einfacher. Allerdings, ihr weiteres Umfeld hatte sich nicht verändert, wie das bei einem Umzug an einen anderen Ort der Fall gewesen wäre.

Es kam ihr bekannt vor, dieses Gefühl auf wohlvertrauten Pfaden unbekümmert auszu­schrei­ten, um dann plötzlich gegen eine Tür zu laufen … oder an einem ganz anderen Ort zu enden als am sicher geglaubten Ziel. Annas Gedanken schweiften in die Vergan­gen­heit. Als sie damals neu hier angefangen hatte glaubte sie, in ihre alte Heimat zurück­ge­kehrt zu sein. Nach über fünfzehn Jahren in einer hunderte Kilometer entfernten deut­schen Groß­stadt gefolgt von zwei Jahren Asienaufenthalt.
Die vertraute Mittelgebirgslandschaft, das Dorf, ihr Elternhaus, alles schien zu flüsterten: Du bist zurück! Und log noch viel mehr als ihre vier Wände heute. Wie sehr, das hatte sie damals jedoch erst Monate nach ihrer Ankunft bemerkt.

Die ersten Wochen nach ihrer Rückkehr war sie mit den Aufgaben rund um ihren Neu­an­fang vollauf beschäftigt gewesen. Die Liste der Punkte, die bedacht und erledigt sein wollten schien endlos. Und der durch längeren Aufenthalt in fremden Kulturen auftretende Eigenkulturschock ließ sie vieles wie durch eine Glasscheibe wahrnehmen. Damit hatte sie jedoch gerechnet. Auch dass die Zeit Menschen so stark verändern konnte, dass sie sie nicht wieder erkannte, wunderte sie nicht allzu sehr. Obwohl, letzteres hätte sie vor­war­nen können. Aber die Vertrautheit der Umgebung flüsterte beruhigend: Du bist zurück, dort wo Du hergekommen bist, hier kennst Du Dich aus!
Dann, seit ihrer Ankunft war schon über ein Vierteljahr vergangen, hatte sie einmal zum Aldi-Markt in der nahe gelegenen Kleinstadt fahren wollen. Über ein Auto verfügte sie damals noch nicht wieder, es gab jedoch eine Bahnverbindung zwischen ihrem Dorf und der Kleinstadt. Und dass sich im Gewerbegebiet beim Stadtbahnhof ein neuer Aldi-Markt angesiedelt hatte, das hatte sie auf einer ihrer Bahnfahrten entdeckt. Auf der Hinfahrt war sie mit einer Frau ins Gespräch gekommen, die ihr den Fußweg vom Bahnhof zum Markt genau beschreiben konnte. Also marschierte sie in der festen Überzeugung vom Bahnhof los, den Weg zu kennen.
Und so hatte sie erst nach einem guten Stück Wegs bemerkt, dass sie dabei war, das große, hoch umzäunte Fa­brik­areal falsch herum zu umrunden, das zwischen Bahnhof und Aldi-Markt lag. Sie hätte die Fabrik links liegen lassen müssen, aber nun schob sich der Komplex zu ihrer Rechten immer mehr zwischen sie und ihr Ziel. Abzwei­gun­gen hatte es seit dem Bahn­hof aber keine gegeben. Plötzlich hatte nichts mehr zusammen gepasst, verwirrt hatte sie einige Male um sich geblickt, zurück wollte sie aber auch nicht mehr. So war sie weiter gegangen und hatte den Aldi-Markt schließlich über einen langen Umweg erreicht.
Der Umweg war jedoch nicht das Schlimmste an dieser Sache gewesen. Was ihr Sorgen gemacht hatte war, dass sie sich keinerlei Reim darauf machen konnte, wo sie falsch gelaufen war. Im Gegenteil, sie war überzeugt gewesen, alles richtig gemacht zu haben, genau, wie es die Frau im Zug beschreiben hatte. Und doch … wie hatte das passieren können?

Während ihrer Schulzeit war sie neun Jahre lang von diesem Bahnhof aus zur Schule gegangen. Gut, man hatte in der Zwischenzeit das alte Bahnhofsgebäude durch ein neues ersetzt, Straßen- und Schienenwege waren ausgebaut und anders verlegt worden und auf den nahe gelegenen Feldern rund um die Fabrik war das Gewerbegebiet erweitert worden. Aber das Fabrik­gelände hatte es schon zu ihrer Schulzeit gegeben, das an den Bahnhof angrenzende Stadtviertel, das sie zu jener Zeit täglich durchquert hatte, war so gut wie unverändert und natürlich war auch das alles umfas­sende Panorama der Landschaft das gleiche geblieben.
Außerdem, in Asien hatte sie keine Probleme gehabt, sich in völlig unbe­kann­ten Gegen­den anhand von Wegbeschreibungen und Karten zurecht zu finden. Wie konnte es sein, dass sie hier, in ihrer vertrauten Heimat, einen so kurzen Weg nicht finden konnte? Ein Gefühl der Desorientierung hatte begonnen, sich in ihr auszubreiten, was sie zuneh­mend beunruhigte.
Sie hatte den Einstieg in den Weg, den ihr die Frau beschrieben hatte, auch auf dem Rück­weg nicht gefunden und sich gefragt, ob diese Frau sie verschaukelt hatte? Die Lust, erneut jemanden nach dem Weg zu fragen, war ihr jedenfalls vergangen und so hatte sie den Bahnhof wieder auf dem gleichen Umweg erreicht, auf dem sie gekommen war.
Das Gefühl der Verwirrung und Desorientierung hatte sich derweil noch gesteigert und nagte an ihr. Hatte die Frau doch recht gehabt? So wollte sie nicht nach Hause fahren.
Also versuchte sie es erneut auf dem Weg, den die Frau beschrieben hatte, zumindest glaubte sie das. Bei diesem Anlauf hatte sie aber schnell bemerkt, dass es auf die gleiche falsche Route hinauslaufen würde wie vorher. Und wieder hatte sie nicht verstanden warum. Bedrückt und beunruhigt war sie schließlich zum Bahnhof zurückgekehrt und nach Hause gefahren.

Der Zufall hatte es gewollt, dass sie jene Frau eine Woche später erneut in der Bahn traf. Die winkte ihr freundlich zu, also hatte Anna ihren Groll beiseite geschoben und ihr gegen­über Platz genommen. Wieder waren sie ins Gespräch gekommen und schließlich hatte Anna ihr von dem Missgeschick erzählt. Die Frau war amüsiert, hatte Anna den Weg aber geduldig erneut erklärt. Am Bahnhof angekommen machte Anna sich wieder in der Rich­tung auf den Weg, die ihr beschrieben worden war. Zumindest hatte sie das geglaubt. Nur um erneut zu bemerken, dass sich sich auf dem gleichen falschen Weg befand wie schon die Woche zuvor.
Erneut hatte Anna nicht verstanden, was sich hier ereignete und war beunruhigt umge­kehrt. Die Frau hatte derweil hinter Anna her gesehen und abgewartet, was passieren würde. Sie hatte kaum verbergen können, dass sie an Annas Zurech­nungs­fähig­keit zu zweifeln begann, als Anna wieder vor ihr stand. Anna war das Ganz so peinlich, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. Aber die Frau war wohl ein geduldiger Mensch und hatte Anna angeboten, sie zum Aldi-Markt zu begleiten. Anna wäre lieber davon gerannt, aber sie hatte sich gezwungen sich, das Angebot anzunehmen.
Woraufhin die Frau in der entgegen gesetzten Richtung losmarschiert war, die Anna vorher eingeschlagen hatte. An diesem Punkt hatte Anna an ihrer eigenen Zurechnungs­fä­hig­keit zu zweifeln begonnen, was kein angenehmes Gefühl war. Ungläubig und wie ein Hund an der Leine war sie neben der Frau hergelaufen, bis diese sich auf dem Parkplatz vor dem Markt vor ihr verabschiedet hatte. Anna war der mitleidige Blick, der sie dabei gestreift hatte, bis heute gegenwärtig.

Diese Erfahrung hatte Anna tagelang umgetrieben. Nur langsam begannen ihr Zusam­men­hänge zu dämmern, die diese Erlebnisse erklären konnten. War es möglich, dass die Vertrautheit der alten Heimat in viel größerem Ausmaß eine Illusion war, als sie sich das je hätte vorstellen können?
Das war in der folgenden Zeit zur Schlüsselfrage geworden, die Anna allmählich eine neue Sicht auf ihre damalige Lage eröffnete. Die Vertrautheit der alten Heimat, sie war nicht nur illusionär, sondern auch tückisch gewesen. Sie hatte das Neue im Alten mit dem Alten maskiert, Annas Wahrnehmung auf das Bekannte gelenkt und Veränderungen heraus­ge­filtert, bis diese das einlullende Sicherheitsgefühl vertrauter Wege nicht mehr stören konnten. Woraufhin Anna entspannt auf Autopilot geschaltet und die in ihre Seele ein­ge­schrie­benen alten Landkarten ihre Schritte wie unter Zwang in inzwischen falsche Rich­tun­gen gelenkt hatten.

Anna stand auf und räumte den Tisch ab, soweit das im derzeitigen Zustand der Küche möglich war. Den Weg vom Kleinstadtbahnhof zum Aldi hatte sie dabei immer noch vor Augen. Er verlief er entlang einer viel befah­re­nen Bundesstraße, durch eine Unter­führung hindurch, von der Fahrbahn nur durch eine Leitplanke getrennt, wie vor fünfzehn Jahren. Es war ein direkter Weg, es gab keine Abzwei­gungen. Heute konnte sie sich nicht mehr vorstellen, wie jemand sich hier verlaufen konnte. Ich glaube, ich würde auch mitleidig schauen, wenn ich jemandem diesen Weg zweimal erklären müsste und er ihn dann immer noch nicht gehen kann, gestand sie sich ein.
Die Suche nach der richtigen Garderobe und dem Schirm, den sie brauchte, um halbwegs trocken zur Post unten im Dorf zu kommen, dauerte ebenfalls länger als gewohnt. Es liegt viel Veränderung in der Luft, damals wie heute, und nicht nur hier in meinem Haus, ging es ihr dabei durch den Sinn.

Denn als sie neulich am Bahnhof vorbei gefahren war, hatte sie mit Interesse die Roh­bau­ten der Mehr­fami­lien­häuser eines neuen Stadtviertels wahrgenommen, das jetzt, nach end­loser Planungs- und Abrissphase, endlich aus dem Boden des ehemaligen Fabrik­geländes wuchs. Einige Häuser waren sogar schon fertig, dringend benötigter Wohnraum für hunderte Menschen.
Ob schon welche dort wohnten?
Wenn die Straßen im neuen Quartier fertig sind, könnte ich einen ganz anderen Weg vom Bahnhof zum Aldi laufen … der Gedanke beflügelte Anna, ihre Neugierde war geweckt. Vielleicht wird es ein ab­wechs­lungsreicher Weg mit Bäumen am Straßenrand und kleinen Plätzen mit spielenden Kindern? Sobald ich dort vorbei komme, muss ich schauen, ob man schon durch kommt, nahm sie sich vor.

© Alice Maier, Juli 2021