Das Lied der Singdrossel

Es war später Nachmittag und für Ende Februar viel zu warm. Ich hatte das Home-Office verlassen, um bei einem Waldspaziergang etwas Entspannung zu suchen. Kahl stand eine hohe Eiche in einiger Entfernung am Wegrand. Aus ihrem Geäst war das Lied einer Sing­dros­sel zu hören. Lauschend näherte ich mich dem Baum und die Stimme des kleinen Sän­gers zog mich bei jedem Schritt tiefer in ihren Bann. Manchmal wiederholte der Vogel eine Strophe ein oder zweimal. Meist aber fügte er eine neu komponierte Strophe nach der anderen zu kleinen Liedern zusammen, die von etwas längeren Pausen ab­ge­schlos­sen wurden. So lange ich auch zuhörte, ich konnte keine Ähnlichkeiten zwischen seinen Liedern feststellen. Meine Verwunderung wuchs. Irgendwann muss er doch mal auf frü­he­res Material zurück­grei­fen, oder es zumindest variieren? Je auf­merk­samer ich zuhörte, umso erstaunter stellte ich fest, dass er sich ständig etwas neues einfallen ließ.
Kann das eine normale Singdrossel sein? Oder habe ich einer Singdrossel nur noch nie richtig zugehört? Ich schaute hinauf, aber der Vogel war hoch oben in der Eiche nicht aus­zu­machen.

Schließlich kramte ich mein Handy heraus und fütterte eine App mit den Strophen des Vo­gels. „Blauer Kernbeißer, Azurbischof (Passerina caerulea), Vorkommen Nord­ame­rika, Be­stim­mungs­wahr­scheinlichkeit sehr sicher!“ verkündete sie. Ungläubig zeich­nete ich eine wei­tere Strophenfolge auf und lies sie analysieren. „Zaunkönig (Trog­lodytes tro­glo­dy­tes), Vorkommen Eurasien, Bestimmungswahrscheinlichkeit sehr sicher!“ beschied sie mir nun. Ein Zaunkönig, hoch oben in einer Eiche – kopfschüttelnd wiederholte ich den Ver­such ein drittes Mal. Es gab kaum Hintergrundgeräusche, der kleine Sänger war laut und deutlich zu hören und die App hatte sich bisher auch unter schlechteren Be­din­gun­gen als zu­ver­läs­sig gewesen. Nun sollte es ein Bluthänfling sein, dessen war sich die App „sehr sicher“. Eine Vogelart, die bei uns in der heißen Jahreszeit gastiert und dabei Kul­tur­land dem Wald vorzieht. Erst beim vierten Versuch hatte die App doch noch eine Sing­drossel im Angebot, allerdings nur mit mittlerer Sicherheit. Und bei weiteren Ver­su­chen mäanderten ihre Ergebnisse erneut „sehr sicher“ kreuz und quer durch die Orni­tho­logie.

Belustigt steckte ich das Handy weg und ließ mich erneut vom Gesang des kleinen Künst­lers forttragen. Unvermittelt überflutete mich tiefes Glück, ungläubiges Staunen, strahlende Freude. Ich schnappte nach Luft, Tränen standen in meinen Augen. Kaum 100 Gramm Fleisch, Knochen und Gefieder hatten mir mitten ins Herz gegriffen. „Wie kann so etwas sein!“, mehr konnte mein verdatterter Kopf dazu nicht beisteuern.
Es dauerte eine Weile, bis ich meine Fassung wieder fand. Als ich mich schließlich auf den Heimweg machte, klangen Vogel­ge­sang und Glücksgefühl noch lange in mir nach. Auch Tage später konnte ich es noch spüren.

Gleichzeitig begannen Fragen wie diese sich in mir fest zu beißen: wie kann mich ein klei­nes Geschöpf von völlig anderer Art als ich es bin, so tief berühren? Mehr als eine Vier­tel­milli­arde Jahre evolutionärer Brodelküche liegen zwischen uns, ein unvorstellbar tiefer Graben … und doch gelingt es ihm im Hand­umdrehen, wie kann das sein?
Und: ein Vogel hat gesungen, es hat mich für einen Moment glücklich gemacht, das habe ich auch früher schon erlebt … was zum Teufel war diesmal so anders, dass es mir ta­ge­lang keine Ruhe lässt? Oder so: warum quäle ich mich mit solchen Fragen herum, wo es vielleicht gar nichts zu verstehen gibt? Ist das neuro­tisch

Etwa vierzehn Tage später trieb es mich erneut in jenen Wald. Das Handy hatte ich da­heim gelassen und dafür mein Fernglas mit­ge­nom­men. Die Bäume waren immer noch kahl, aber diesmal gab es gleich mehrere Singdrosseln zu belauschen. Zunächst stellte ich fest, dass die Vielfalt der Gesänge von Vogel zu Vogel sehr unterschiedlich ausfiel. Insgesamt waren sie aber durchweg schlichter gestrickt als das, was ich letztes Mal zu hören bekom­men hatte. In die Freude an der Vogel­be­obach­tung begann sich leise Ent­täu­schung zu mischen. Meinen Meistersänger würde ich heute wohl nicht antreffen.
Ich begann, die Exemplare, die sich mit dem Fernglas einfangen ließen, genauer zu betrachten. Denn ich wollte mich ver­ge­wis­sern, dass es sich wirklich um Singdrosseln handelte und nicht um Misteldrosseln. Letztere sind zwar deutlich größer, aber fast gleich ge­mustert. Und ihr Gesang ist ebenfalls ähnlich, nur eben deutlich schlichter. Aber nein, auch das hier waren eindeutig Sing­drosseln. Konnte es sein, dass sich die Vielfalt des Gesangs dieser Vögel im Jahreslauf veränderte?

„Was machst Du da?“ fragte plötzlich eine Kinderstimme neben mir. Erschrocken ließ ich das Fernglas sinken, ich hatte die kleine Familie nicht kommen gehört. Große, dunkle Mäd­chenaugen schauten mich fragend von unten an, die Kleine war vielleicht vier oder fünf. „Ich … suche einen Vogel.“ antwortete ich etwas überrumpelt. „Aber warum suchst Du denn einen, da sind doch ganz viele!?“ Die Kleine deutete Richtung Bäume. „Vor kur­zem habe ich hier in der Nähe einen Vogel wie diese dort singen gehört. Aber der konnte viel bes­ser singen als die hier. Den suche ich jetzt.“ – „Wie hat er denn gesungen?“ Oh je, was sage ich jetzt? Die großen Augen bohrten, ausweichen unmöglich. „Ähm … also … er hat so schön gesungen, dass ich weinen musste vor Glück.“ rutschte es mir heraus, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte. „Aber warum musstest Du denn weinen, wenn Du glücklich warst?“ Die Kleine war gnadenlos.

Die Mutter lächelte mir verständnisvoll zu. „Komm, Lena, wir müssen weiter!“ versuchte sie mich zu erlösen. „Ich will es aber wissen!“ protestierte die Kleine. „Warum musstest Du wegen dem Vogel weinen, wenn er doch so schön gesungen hat?“ Ich holte tief Luft. „Weißt Du, wenn ein Vogel besonders schön singt, kann man Gott in seinem Lied hören.“ Verwundert bemerkte ich, was ich da sagte. „Und wenn man Gott hört, macht es so glücklich, dass einem die Tränen kommen.“
Hinter der von dunklen Locken umspielten Kinderstirn arbeitete es nun fieberhaft, was mir zwar eine kleine Verschnaufpause verschaffte. Aber mir ging es nicht viel besser als der Kleinen. Wie kommt eine alte Agnostikerin wie ich dazu, solche Sätze zu sagen? Verflixt, noch eine Frage … dabei hatte ich hier im Wald doch Antworten gesucht!

„Mama, ich will Gott auch hören!“ begann Lena nun zu quengeln. Lenas Mutter und ich schauten uns hilflos an, dann drehte sie sich zu ihrem Mann um. „Sag‘ Du doch auch mal was, Paul!“ Der rollte mit den Augen, zog die Schultern hoch und blickte uns mit über­trie­ben verzweifelter Miene an. – Die Augenblicke begannen sich zu dehnen.
„Die-Düh Die-Düh ZiZi-Iehp…“ zerrissen die Strophen einer Singdrossel die Stille, sie musste im Baum direkt über uns sitzen. Da brach sich tiefes Lachen aus Pauls Brust Bahn. „Hahahah! … Da ham‘ wir den Salat! … Hahaha! … Stehen hier … Hihihi … wie Trottel im Wald rum …“ Er gluckste und japste und das Lachen schüttelte ihn so durch, dass Tränen seine Backen hinunter liefen. Im Nu wurden Lenas Mutter und ich mitgerissen und prusteten auch los.

Lena schien uns derweil genau beobachtet zu haben. „ Papa, Du weinst ja auch, wenn Du glücklich bist!“ schrie sie plötzlich vor Überraschung ganz aufgeregt da­zwi­schen. Es schien eine Neuentdeckung für sie zu sein. Und dann begann sie kichernd um uns immer noch nach Luft schnappende Erwachsene herum zu hüpfen. „Papa hat Gott auch gehört! …. Papa hat Gott auch gehört! …“ klang ihre helle Stimme durch den Wald.

© Alice Maier, Januar 2022