Alte Schuhe

Und auf dem untersten Regalboden, versteckt hinter Kisten voll rostigem, altem Werkzeug, entdeckte sie ein Paar knöchelhohe Schnürschuhe. Runzliges, braunes Leder zeichnete sich unter dem Kellerstaub ab, der sich über Jahre hinweg darauf abgesetzt hatte. Die abgelaufenen Sohlen bogen sich vorne nach oben, schienen aber intakt zu sein. Spuren angetrockneter Erde klebten noch daran. Jemand hatte die Schuhe mit Zeitungspapier ausgestopft, hier abgestellt und dann vergessen. 
Wer sie wohl getragen hatte? Neugierig beugte Eva sich hinunter und hob die Schuhe aus dem Regal. Seltsam klein waren sie, das fiel ihr jetzt erst auf. Vielleicht Schuh­größe 34? Mädchenschuhe? Zu klein für Erwachsene, zu groß für ein Kind. Unter der Sohle konnte sie noch die Stelle ausmachen, an der einmal eine Schuhgröße eingeprägt war, entziffern konnte sie dort aber nichts. Wie alt sie gewesen sein mag, als sie zum letzten Mal diese Schuhe anhatte?
Eva trug die Schuhe nach draußen und blies vorsichtig den Staub weg. Eine kleine Spinne seilte sich hastig Richtung Erde ab und verschwand zwischen den Ritzen der Pflastersteine.

Was mache ich nun mit denen? Unschlüssig stellte sie die Schuhe auf der Holzbank ab, die neben dem Hauseingang stand. Nach der stundenlangen Arbeit im Keller sog Eva gierig die frische Luft in sich hinein und spürte der milden Wärme nach, die die Nachmittagssonne auf ihrer Haut hinterließ. Eine Pause hätte ich wohl verdient, fand sie und setzte sich.
Es dauerte nicht lang und ihr Blick wanderte erneut zu den Schuhen neben ihr. Bei Tageslicht betrachtet unterschied sich die verkrustete Erde an den Sohlen kaum vom lehmigen Boden des Gartens um sie herum. Die Sonnenwärme begann, den Schuhen einen muffigen Geruch nach feuchtem Keller und ranzigem Lederfett zu entlocken. Vielleicht sollte ich die Zeitungen raus nehmen, damit die Schuhe besser trocknen? Wider Erwarten zerfiel das vergilbte Papier nicht, als Eva es aus den Schuhen zog. Vorsichtig faltete sie einen der fleckigen Knäuel auseinander.
Er entpuppte sich als Titelseite einer über vierzig Jahre alten Lokalzeitung, die inzwischen nicht mehr existierte. Evas Blick blieb an der Datumsangabe haften, nachdenklich begann sie zu rechnen.
Zehn war ich damals … Eine leise Ahnung beschlich sie. Unwillkürlich griff sie nach den Schuhen und noch während sie diese neben ihren Füßen auf den Boden stellte, durchzuckte sie Gewissheit. Das waren doch ihre Schnürschuhe! Vierzig Jahre lang hatten sie dort unten im Keller auf sie gewartet! Ungläubig staunend sah sie an ihren Beinen hinunter, verglich wieder und wieder die Mädchenschuhe mit den derben Arbeitsschuhen, die sie heute trug. Warum hatte sie ihre eigenen Schuhe nicht gleich erkannt? War wirklich so viel Zeit vergangen?

Langsam tauchten alte Bilder aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auf. Sie sah sich und ihren Cousin vergnügt lachend und kreischend auf Holzbrettern über den wasser­bedeckten Boden einer Baugrube schlittern. Wenn sie sich mit einem Bein im richtigen Winkel nach hinten abstießen, konnten sie mit den Dingern wie auf einem Tretroller ein Stück weit über den zähen Lehm gleiten. Sie fuhren „Wasserski“, das war nämlich vor kurzem mal im Fernsehen zu sehen gewesen. Herrlich, wie die Gischt spritzte und der Fahrtwind übers Gesicht strich, genau wie bei den braun gebrannten Männern, die im Film so elegant übers Wasser geflitzt waren.
Bis sie sich zu weit zur Mitte hin vorwagten. Plötzlich versank Eva bis zu den Unter­schenkeln im Lehm und der gab ihre Füße nicht mehr frei. Ein jäher Schrecken ließ sie nach Luft schnappen. Sekunden später passierte ihrem Cousin das gleiche. Das fröhliche Kindergeschrei war abrupt verstummt, hilflos sahen sie sich an. Als Eva nach unten schaute, entdeckte sie fingerlange Stechmückenlarven, die aufgeschreckt um ihre Beine herum wuselten. Ein dicker Kloß machte sich langsam in ihrer Kehle breit. Verzweifelt versuchte sie, ihre Füße aus dem Lehm zu zerren, erfolglos.
Aber sie bemerkte, dass sie sich vielleicht aus den Schuhen heraus winden konnte, wenn sie es geschickt anstellte. Und dann musste sie wohl oder übel barfuß in den Matsch treten. Was war, wenn sie auch barfuß noch darin stecken blieb? Hatte sie eine Wahl?
Wider Erwarten quoll der nasse Lehm angenehm geschmeidig zwischen ihren Zehen hindurch und umschloss ihren Fuß wie ein kühler Samtstiefel. Es kostete sie viel Kraft, das Bein aus der unwillig schmatzenden Pampe wieder heraus zu ziehen, aber es klappte. Und auch die braunen Schnürschuhe samt Socken ließen sich dem Lehm mit einiger Anstrengung wieder entreißen. Wenig später machten sich zwei bis zu den Oberschenkeln mit Lehm beschmierte Kinder barfuß und kleinlaut auf den Heimweg, jedes mit einem Paar schuhförmigen Lehmklumpen in der Hand.
Natürlich durften ihre Eltern vom Ausgang dieses Abenteuers nichts mitbekommen. Eva erinnerte sich, dass sie sich in die Waschküche geschlichen hatten, die es damals im Elternhaus ihres Cousins noch gab. Heimlich spülten sie dort ihre Schuhe, Socken und Hosen aus und anschließend lief Eva beklommen und mit vor Nässe quatschenden Schuhen nach Hause. Wieder hatte sie Glück, ihre Eltern waren nicht da. Es gelang ihr, unbemerkt die Schuhe mit dem Zeitungspapier auszustopfen und im Keller zum Trocknen zu verstecken. Und dann hatte sie wohl das ganze unrühmliche Abenteuer mitsamt den Schuhen verdrängt …
Eva beschloss, es mit dem Entrümpeln des Kellers für diesen Nachmittag gut sein zu lassen und nahm die alten Schuhe mit ins Haus. Wohin nun mit den müffelnden Dingern? Schließlich stellte sie sie in einer regen­geschützten Ecke der Terrasse ab.

Tags drauf war Eva schon früh unterwegs zu einem Termin in der Stadt. Voller Vorfreude sang und summte sie im Auto vor sich hin. Heute würde sie ihre neue Wohnung nochmal besichtigen. Der Makler wollte ihr bei der Gelegenheit auch gleich die Unterlagen mitgeben, die sie zur Vorbereitung des Notartermins am Montag durchlesen musste. Sie konnte es kaum erwarten, endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Das Treffen mit dem Makler war erst mittags, sie hatte Zeit für einen ausführlichen Bummel durch das quicklebendige Altstadtviertel, in dem sie bald wohnen würde.
An der Ecke unweit ihrer zukünftigen Wohnung, gab es ein kleines portugiesisches Bistro-Café, das Eva schon bei ihrem letzten Besuch für sich entdeckt hatte. Herzhaftes Kaffeearoma kitzelte ihr in der Nase, als sie daran vorbei ging. Und erst die selbst gemachten Pasteis de Nata … Bevor es nachher hinauf in die Wohnung ging, würde sie sich dort eine Stärkung zu gönnen.
Aber vorher wollte sie sich in den beiden Boutiquen umschauen, die es in ihrer zukünftigen Straße gab. Und dann war da ein farbenfroh dekorierter Papierladen, ein Bio-Brotladen, ein Lederwarengeschäft, eine Pizzeria, ein Spielzeugladen, ein Laden mit Modeschmuck, ein Blumengeschäft und, und, und. Neugierig bummelte sie von einem Geschäft zum anderen, Mütter schoben Kinderwagen an ihr vorbei, Rentner zogen ihren „Porsche“ hinter sich her, Lieferwagen blockierten die Straße, Passanten schleppten Einkaufstüten und zwischen allem kurvten Radfahrer herum. Wie herrlich, dieses Leben! Es gab einen kleinen Park im Viertel und sogar ein Stadtteiltheater. Und sie würde mitten drin wohnen! Eva atmete tief durch. Endlich raus aus der ländlichen Ödnis, die sie schon seit Jahren niederdrückte.

„Guten Tag Frau Beck, kommen Sie rein!“ begrüßte der Makler sie gut gelaunt und mit forschem Handschlag. „Guten Tag Herr Frings!“ Erwartungsvoll folgte Eva ihm durch die Diele. Aus irgend einer Richtung drang ein kaum wahrnehmbares Muffeln in ihre Nase, das sie unterschwellig schon bei ihrer letzten Besichtigung bemerkt hatte. „Der Vorbesitzer hat wohl nicht viel von regelmäßigem Lüften gehalten…“ bemerkte sie, während sie zu einem der Fenster schritt, um es zu öffnen. „Das können Sie wohl laut sagen!“ pflichtete der Makler ihr eilfertig bei. „Ich habe die Wohnung ja mal gesehen, als er noch drin wohnte …“ Wissend verdrehte er die Augen während er bedeutsam den Kopf wiegte. „Ich glaube Sie können es sich denken! Mehr kann ich ihnen aus Datenschutzgründen allerdings nicht dazu sagen.“ – „Na! Ich werde hier mal ordentlich durch putzen und dann herrscht ein anderer Wind zwischen diesen Wänden!“ Eva sprühte vor Tatkraft und der Makler nickte bestätigend.
Während Eva durch die Zimmer ging, sah sie um sich herum ihre künftige Wohnungseinrichtung entstehen. Dort würde ihre lederne Couchgarnitur mit dem Glastisch hinkommen, hier die Stehlampe und da der Benjamini. Ein heller Webteppich wäre klasse auf dem Parkett … Herrlich, das neue Wohnzimmer bot so viel Platz! Bei Bedarf konnte sie sogar noch eine Arbeitsecke darin unterbringen. Wieder atmete sie tief durch. Und ihre neue Küche würde ganz in weiß sein, sie war sogar schon in einem Küchenstudio gewesen. Ob sie sich nicht doch den Backofen mit der integrierten Tellerwärm­schub­lade gönnen sollte?
Sie ging weiter in ihr zukünftiges Schlafzimmer. Das Bett würde sie an dieser Wand aufstellen und vor der gegenüber liegenden Wand, vor der sich immer noch die Umzugskisten des vorigen Wohnungs­besitzers bis zur Decke stapelten, würde sie den Kleiderschrank hinstellen. „Wann holt er die denn endlich ab?“, wollte sie von Herrn Frings wissen. „Zur Schlüssel­übergabe werden sie weg sein, das kann ich Ihnen versprechen!“, versicherte er eilfertig. Auch sonst hatte er auf alle Fragen, die Eva während ihres Rundgangs stellte, eine passende Antwort parat.
„Wie steht es inzwischen denn mit Ihrer Finanzierung?“ fragte er lauernd, als Eva sich schon zum Gehen wandte. „Ob Sie’s glauben oder nicht, aber mein Makler hat für die alte Hütte tatsächlich Kaufinteressenten gefunden. Eine junge Familie, die aufs Land ziehen will, wegen der Kinder. – Sie waren schon drei mal da, sogar einen Vorvertrag haben wir abgeschlossen!“ – „Oh, das haben sie aber gut hingekriegt!“ lobte der Makler anerkennend. „Ja, unserem Notartermin steht nun nichts mehr im Wege.“ – „Dann sehen wir uns also kommenden Montag beim Notar!“ bekräftigte Herr Frings und hielt ihr die Hand hin. „Ich kann’s kaum erwarten!“ Eva schlug ein.

Nachdem Eva die Wohnung verlassen hatte, begegnete sie im Treppen­haus einer älteren Dame. Diese hatte gerade ihre Einkäufe vor dem Eingang der Wohnung abgesetzt, die direkt unter Evas zukünftigem Zuhause lag. Nun kramte sie in ihrer Handtasche nach Schlüsseln. „Guten Tag! Ich bin Eva Beck und werde bald über Ihnen einziehen!“ stellte Eva sich vor. „Guten Tag Frau Beck, ich bin Frau Hinrichsen. Wie schön dass sich endlich jemand gefunden hat, der dort oben einziehen will!“ entgegnete die alte Dame freundlich lächelnd. „Ja, wir werden bald Nachbarn sein!“ bekräftigte Eva, während sie sich die Hände schüttelten. Frau Hinrichsens Äußerung hatte Eva allerdings stutzig gemacht. „Steht die Wohnung denn schon lange leer?“ fragte sie vorsichtig. „Na ja, drei Jahre wird es wohl schon her sein, seit der Vorbesitzer ausgezogen ist …“ – „So lange schon!“ Ein ungutes Gefühl beschlich Eva. „Weiß man denn, warum sich bis jetzt kein anderer Käufer gefunden hat?“ Frau Hinrichsen zuckte mit den Schultern. „Wissen Sie, alles was mit Wohnung und Haus zu tun hat, das macht mein Mann, deshalb kann ich Ihnen leider nichts dazu sagen.“ Trotz aller Freundlichkeit meinte Eva eine leichte Anspannung in Frau Hinrich­sens Gesicht zu bemerken. „Eine schöne Gegend haben Sie sich für Ihr neues Zuhause ausgesucht!“, fuhr diese nun fort. „Man wohnt hier mitten im Leben!“ Sie plauderten noch ein wenig über die Geschäfte und Restaurants im Viertel, bevor Eva sich verabschiedete und den Heim­weg antrat.

Am Nachmittag rüstete Eva sich mit einer ganzen Kanne Kaffee um sich dann mit dem Papierstapel, den der Makler ihr bei der Verabschiedung in die Hand gedrückt hatte, auf die Terrasse zu setzen. Nachdem sie sich die erste Tasse eingeschenkt hatte, sah sie widerwillig den Packen an, der vor ihr lag. Der Anblick der Dokumente ließ ihre gute Laune dahinschmelzen wie alten Schnee in der Frühlingssonne. Aber es half wohl alles nichts. Sie würde sich ewig Vorwürfe machen, wenn sie beim Kauf auf die Nase fiel, nur weil sie zu faul gewesen war, das Zeug durchzulesen. 
Zögerlich begann sie, den Stapel nach der Dokumentenliste zu durchsuchen, die sie dem Makler gegeben hatte. Sie wollte erst mal schauen, ob alles vollständig war, aber die Liste war nicht zu finden. Ärgerlich stand Eva auf, um sie nochmal auszudrucken. Beim Abgleich der Liste mit den ihr ausgehändigten Dokumenten zeigte sich dann, dass die Protokolle der Hauseigentümer­ver­samm­lungen fehlten. Sonst schien alles da zu sein.
Sie schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein und fischte dann den Kaufvertrag aus dem Stapel. Eva war eine juristische Laiin, aber die seitenlangen Klauseln zum Ausschluss von Schadens­ersatz­forderungen machten sie nachdenklich. Soweit sie es sich zusammenreimen konnte beinhalteten diese, dass Eva die Wohnung wie besehen kaufte und der Verkäufer für keinerlei Schäden haftete, wenn Eva sie erst nach dem Kauf feststellte. „Seltsam, für jedes Elektrogerät, und sei es noch so unbedeutend, gibt es eine Garantieerklärung. Aber für eine Eigentumswohnung, die Hunderttausende kostet, soll es nur Haftungs­ausschluss­klauseln geben …“ Eva kam ins Grübeln. „Und warum fehlen ausgerechnet die Protokolle, wo er doch sonst nichts vergessen hat?“ Sie legte die Dokumente beiseite, ihr Blick schweifte ziellos über die Terrasse. Da war immer dieser leicht muffige Geruch in der Wohnung gewesen … Die alten Schnürschuhe fingen ihren Blick ein. Unvermittelt durchfuhr es sie heiß und kalt zugleich. „Noch ein Schritt, und Du steckst in der Patsche!“ schienen die Schuhe sie anzuschreien. Eva schnappte nach Luft als hätte ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. „Und warum hat jemand, der eine Wohnung vor drei Jahren verlassen hat, noch immer so viele Umzugskisten dort stehen?“ Glasklar stand die Frage plötzlich im Raum.

Sie überlegte kurz, dann griff sie zum Smartphone. Herr Frings war gleich am Apparat. „Hallo Frau Beck, was kann ich für Sie tun?“ säuselte es aus dem Gerät. „Guten Tag Herr Frings, es geht nur noch um Kleinigkeiten. Und zwar fehlen mir noch die Sitzungsprotokolle der Hauseigentümer­versammlungen. Könnten sie mir die freundlicherweise noch diese Woche zuschicken? Ich finde sonst keine Zeit mehr, sie durchzulesen.“ – „Oh, das habe ich vergessen zu erwähnen, die Eigentümer­ver­samm­lung hat sich geweigert, mir die Protokolle auszuhändigen. Aber die sind ja auch nicht weiter wichtig …“ – „Doch, für mich sind sie wichtig!“ bekräftigte Eva. Sekundenlanges Schweigen aus dem Smartphone. „Hm … ich befürchte, ich kann die Eigentümer kaum zwingen, die Protokolle rauszurücken … “ – „Schon seltsam, fast als ob sie etwas zu verbergen hätten“, klopfte Eva nun auf den Busch. „Aber Nein, die sind in Ordnung!“ versicherte Herr Frings hastig. „Ich kenne die Eigentümer doch schon seit Jahren und auch mit dem Verwalter habe ich guten Kontakt, da gibt es keine Probleme!“ wiegelte er ab. Aber mit dieser Auskunft brachte er Evas Alarmglocken erst recht zum Schrillen. Hier passte rein gar nichts zusammen! Steckten die etwa alle unter einer Decke?
„Nun gut, dann werden Sie sicher nichts dagegen haben, mich diese Woche nochmal in die Wohnung zu lassen.“ sagte sie dann ruhig. „Hm … Ich muss mal in meinen Terminkalender schauen … “ Er schien nicht so recht zu wissen, was er von ihrem Wunsch halten sollte.
„Wenn’s bei Ihnen nicht mehr anders geht, kann ich mir auch am Wochenende Zeit nehmen“, legte Eva nach. „Außerdem, Sie müssen Sie ja nicht unbedingt anwesend sein, Herr Frings. Sie können die Schlüssel einfach unten bei Frau Hinrichs hinterl­egen. Wir beide haben uns schon miteinander bekannt gemacht. So eine nette alte Dame!“ – „Was möchten Sie in der Wohnung denn noch?“ fragte Herr Frings lauernd. „Ich möchte sie zusammen mit meinem Architekten nochmal in aller Ruhe anschauen. Ich hoffe, der Vorbesitzer hat nichts dagegen, wenn wir die Umzugs­kartons von der Wand wegrücken. Solange die davor stehen können wir ja nicht richtig ausmessen.“ bluffte Eva. „Oh! Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen diese Woche keine Besichtigung mehr anbieten!“ kam es wie aus der Pistole geschossen aus dem Smart­phone.
„Das ist jammerschade!“ Eva fiel es schwer, ihren Sarkasmus zu verbergen. „Dabei habe ich mich schon so auf die Wohnung gefreut! Aber wenn es so ist, dann werde ich den Notartermin am Montag absagen.“ Herr Frings erwiderte lange nichts.
„Auf Wiedersehen Herr Frings!“ sagte Eva freundlich in das Schweigen hinein und legte auf.

 © Alice Maier, Oktober 2019