Homo Faber 4.0
Die Natur hat Humor, anders kann ich es nicht sagen. Uns Menschen hat sie beispielsweise eine Riesenportion Ich gewürzt mit einer Prise freien Willens geschenkt, um uns derartig ausgestattet vor die Aufgabe zu stellen, unzählige innere Widersprüche auszuleben, immer auf der Suche nach einer Balance, die das Leben aus unserer Sicht gelingen lässt.
Wir sind überzeugt nach links zu steuern, aber wir torkeln nach rechts. Wir beten etwas an und verraten es im nächsten Moment. Wir mühen uns ab, etwas gut und richtig zu machen, nur um am Ende vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Und meist sind wir angesichts eines solchen erst fähig, einmal genügend lange hinzuschauen um einen Blick hinter den Vorhang der Illusionen zu erhaschen, die wir über uns und unsere Position in der Welt hegen. Manchmal gelingt es uns in solchen heilsamen Momenten sogar, etwas dazu zu lernen, oft ist aber auch dies nur eine Illusion und erst der nächste oder übernächste Scherbenhaufen hilft uns vielleicht auf die Sprünge, immer vorausgesetzt, wir überleben ihn.
Uns Menschen macht diese schmerzhafte Art des Lernens wenig Freude. Also lassen wir uns etwas einfallen und unternehmen alles in unserer Macht stehende, um es das nächste Mal besser zu machen. Mir scheint, gerade daran hat die Natur den meisten Spaß. Hätte sie uns sonst so überreich mit der Fähigkeit gesegnet, immer neue Methoden und Techniken zu ersinnen, mit denen wir unser Drama auf immer neuen Bühnen aufführen können?
Sie will wohl gerne noch einige Stücke von uns erleben, die Natur. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sie Selbsterkenntnis für uns nur in homöopathischer Dosis im Angebot hatte, bei all ihrer sonst üblichen Freigiebigkeit. Aber auch das hat sein Gutes. Denn so lange wir Menschen jede Neuaufführung für eine Uraufführung halten, hat das Ganze auch für uns seinen Reiz, zumindest bis zum nächsten Scherbenhaufen.
Sie ist glaube ich unschwer zu finden, die Bühne auf der wir Menschen heute unsere Stücke inszenieren. Ein Blick in die Richtung, aus der derzeit die großartigsten, faszinierendsten, umfassendsten und vielversprechendsten Entwicklungen erwartet werden genügt, dann ist sie unübersehbar: „Digitaler Wandel“ prangt es in verheißungsvollem Glanz über ihrem Eingang, was glaube ich so etwas wie „Heil durch Fortschritt“ heißen soll.
Mit dem Bau der digitalen Bühne wurde schon vor Jahrzehnten begonnen und während der letzten drei verdiene ich hier meine Brötchen. Als ich anfing war alles noch eine unübersehbare Baustelle, riesige Freiflächen mit ein paar weit im Gelände verstreuten Grundsteinen und Fundamenten. Auch war damals noch völlig offen, was hier einmal entstehen sollte. Und das war, was mich am meisten reizte.
Man konnte Neues ausprobieren ohne dass einem allzu viele Steine in den Weg gelegt wurden, man konnte bauen wonach einem der Sinn stand und sie bezahlten einen sogar noch dafür. Wenn ich mir heute anschaue, was seither hier entstanden ist, so macht mich die Erinnerung an jene Zeit des Anfangs ein bisschen wehmütig.
Schon längst ist auf der digitalen Bühne auch der Spielbetrieb in Gang gekommen. Und neben Bühnenarchitekten, Autoren, Regisseuren, Schauspielern und Zuschauern braucht man nach wie vor auch digitale Bauarbeiter wie mich. Denn die Bühne spielt so erfolgreich, dass immer neue Bereiche angebaut werden müssen. Für mich hat das Vorteile. Denn gemeinsam mit der digitalen Bühne wandelt sich auch meine Arbeit und behält so ihren Reiz. Lange Zeit fesselte dieser mich mehr als das, was auf der digitalen Bühne aufgeführt wird. Und obendrein bringt es eine gewisse Befriedigung mit sich, zu einer Erfolgsgeschichte etwas beizusteuern, sei der Beitrag auch noch so winzig.
Es wäre weise gewesen, sich mit einer solchen Sicht zufrieden zu geben, das weiß ich heute. Vielleicht war es nur Neugierde, vielleicht aber auch unterschwelliges Unbehagen, das mich vor einiger Zeit dazu bewegte, einmal hinzuschauen, was auf der digitalen Bühne gespielt wird.
Was ich sah, hat mich anfangs fasziniert, das muss ich zugeben. Aber diese Faszination hatte ihren Preis. Denn gleich, welches Stück ich mir anschaute, meist regte sich schon nach den ersten Szenen das üble Gefühl, in einen falschen Zug eingestiegen zu sein. Was hatten die Handlungen auf der Bühne mit dem Stück zu tun, das auf dem Spielplan ausgewiesen war? Warum agierten die Schauspieler so anders als ihre Rollen es erwarten ließen? Und nicht zuletzt, wer sind überhaupt die Bühnenarchitekten, Autoren, Regisseure, Schauspieler und wer sind die Zuschauer? Fragen wie diese drängten die anfängliche Faszination bald in den Hintergrund.
Ich will einmal ein Stück als Beispiel herausgreifen. Unter dem Titel „Die Leiden der jungen Digital Natives“ steht es schon seit einiger Zeit auf dem Programm.
In den Hauptrollen sieht man junge Helden, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie den unterbrechungsfreien Konsum digitaler Medien von Kindesbeinen an gewohnt sind. Ihrer Rollenbeschreibung ist zu entnehmen, dass diese jungen Leute in den laufenden Spielbetrieb der digitalen Bühne hineingeboren wurden und dass ihnen dadurch eine digitale Hochbegabung wie ein goldener Löffel in die Wiege gelegt wurde.
In den Nebenrollen sieht man Eltern, die den jungen Genies je nach Bedarfslage bewundernd applaudieren oder ihnen mit Hand- und Spanndiensten Störungen durch noch nicht ausreichend digitalisierte Bereiche der Welt beflissentlich vom Leibe halten. Für Lehrer und Bildungspolitiker sind Nebenrollen vorgesehen. Erstere haben für eine optimale Inklusion der digital Hochbegabten in einen derzeit erst rudimentär digitalisierten Unterricht zu sorgen, eine große Herausforderung für beide Seiten. Denn mangels digitaler Technik müssen die Lehrer den jungen Helden nach wie vor das Überwinden analoger Barrieren zumuten, wie beispielsweise das Erlernen des Schreibens mit Stift auf Papier und andere Überbleibsel archaischer Kulturtechniken. Digital Hochbegabte werden jedoch durch die frustrierende Auseinandersetzung mit analogen Fertigkeiten wie Feinmotorik, Konzentration oder gar einer Kombination daraus nicht nur massiv in ihrer Entwicklung behindert, sondern auch gegenüber anderen Kindern in inakzeptablem Ausmaß benachteiligt.
Regelmäßig ruft dies empörte Eltern auf den Plan, die den gesellschaftlichen Senkrechtstart ihrer Sprösslinge durch schlechte Noten gefährdet sehen. Spannende Dramen entwickeln sich so zwischen Kindern, Eltern und Lehrern. Und spätestens wenn eine auf die Messung jener archaischen Kulturtechniken ausgerichtete Bildungsstudie ein dickes Fragezeichen hinter die Zukunftsaussichten der jungen Helden setzt, treten auch die Bildungspolitiker auf den Plan. Ihre Rolle ist es dann, durch weitere Digitalisierung des Schulbetriebs dafür zu sorgen, digital hochbegabten Kindern eine bedarfsgerechtere Förderung in Aussicht zu stellen.
Außerhalb des Schulbetriebs sind die Leistungen digitaler Eingeborener umso beeindruckender. Man sieht sie belebte Straßen überqueren, Partys feiern und ihren Hobbies nachgehen, ohne jemals ihren Blick vom Smartphone zu heben oder gar die Ohrstöpsel heraus zu nehmen. Und während sich in der Arbeitswelt der Erwachsenengeneration immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass ständiges Multitasking Konzentration, Leistungsfähigkeit und Kreativität zerrüttet, bestaunt das Publikum es bei den „Digital Natives“ mit offenem Mund.
Als das Stück wieder einmal gegeben wurde, mischte auch ich mich unter die Zuschauer. In einer Spielpause hörte ich, wie neben mir ein Vater stolz zu seiner Frau sagte: „Es ist schon erstaunlich, was unser Sohn alles rausholt aus seinem Smartphone … Und wie schnell er dabei ist!“ – „Ja, da kommen wir Alten nicht mehr mit“, nickte die Frau nachdenklich. Ihre Reaktion schien dem Vater nicht ganz zu genügen. „Die sind das ja von Kindesbeinen an gewohnt, die kennen sich aus!“ setzte er nach.
Unschlüssig zögerte ich, ob ich mich einmischen sollte. „Ja, Ihr Sohn ist ein super Kerl!“ versuchte ich es dann. Zufrieden nickend wandte er sich mir zu. „Und auch Sie selbst sind ja mit vielem groß geworden, das es zu Zeiten Ihrer Großeltern noch nicht gab“. Auch seine Frau begann nun stirnrunzelnd unser Gespräch zu verfolgen. „Haben Sie sich einmal gefragt, mit wie vielen jener Dinge, mit denen Sie aufgewachsen sind, Sie sich auskennen?“ Er schien zu überlegen. „Nehmen wir das Auto. Wahrscheinlich wurden Sie schon als Kind damit herumgefahren und seit Sie selbst den Führerschein haben, sind Sie viele tausend Kilometer hinter dem Steuer gesessen. Was meinen Sie, wie viele Kilometer Sie noch fahren müssen, bis ein KFZ-Mechatroniker oder ein Karosserie-Designer aus Ihnen geworden ist?“ Er schaute verständnislos „Oder nehmen Sie den Wein,“ fuhr ich fort. „Seit ewigen Zeiten gehört er zu unserer Gesellschaft, manche hängen ständig an der Flasche, einige sogar von Jugend an. Was glauben Sie, wie viele jugendliche Säufer durch ihr Trinken schon zu Winzern geworden sind?“ – „So habe ich das noch nicht gesehen … “ murmelte die Frau da nachdenklich.
Dem Vater jedoch missfiel diese Wendung. „Ach, hören Sie doch auf! Was verstehen Sie denn schon davon!“ polterte er los. „Und überhaupt, was erlauben Sich sich, sich in unsere Erziehung einzumischen!“ – „Sie haben recht, ich verstehe nicht was hier wirklich gespielt wird…“ ruderte ich hastig zurück. Das Interesse der Frau schien aber geweckt zu sein. „Was meinen Sie denn damit?“ hakte sie nach. Ich zögerte, am liebsten hätte ich mich aus dieser unangenehmen Szene, in die ich mich leichtfertig hinein manövriert hatte, wieder verabschiedet. „Also, von Erziehung habe ich wirklich keine Ahnung, ich habe ja keine eigenen Kinder … “ begann ich vorsichtig. „Aber ich bin schon länger vor und hinter den digitalen Kulissen hier unterwegs und weiß daher von vielen Bühnenarchitekten, Autoren und Regisseuren, wie die ihre Kinder erziehen. Zum Beispiel Steve Jobs. In einem Interview der New York Times1 über das IPad sagte einmal ein Journalist zu ihm: ‚Ihre Kinder lieben das IPad sicher über alles!‘ Worauf dieser antwortete: ‚Oh, sie haben es noch nie in Händen gehalten!‘ Und als der Journalist verdutzt nachhakte erklärte Jobs: ‚Wir beschränken die Techniknutzung unserer Kinder auf ein Minimum!‘. So wie Jobs versprechen sich viele von diesen Leuten² nicht viel Gutes vom Umgang ihrer Kinder mit digitalen Techniken. Teilweise schicken sie ihre Sprösslinge sogar auf teure Waldorfschulen³, die damit werben, digitale Technik soweit wie möglich aus dem Unterricht zu verbannen.“
Auch der Vater schien nun wieder zuzuhören. „Letztlich machen diese Eltern kein Geheimnis aus ihrem Erziehungsstil“, ergänzte ich. „Aber natürlich hängen sie ihn auch nicht an die große Glocke. Schließlich machen sie ihr Geld damit, dass andere Leute ihre Kinder anders erziehen.“ Eine Weile herrschte Schweigen. „Wissen Sie“, sagte der Vater dann, „So etwas hört man sonst eher von Drogenbossen. Die sorgen auch dafür, dass ihre Kinder die Finger von dem Zeug lassen, das sie an die Kinder anderer Leute verkaufen.“ – „Na, jetzt übertreibst Du aber!“ wandte die Frau ein. „Nicht jeder digital Native ist automatisch auch Internet-süchtig!“ – „Das stimmt natürlich“, sagte ich. „Die jungen Leute verbringen jedoch einen enormen Teil ihrer Kindheit und Jugend mit digitaler Technik, Zeit, die sie für nichts anderes mehr zur Verfügung haben. Aber sie sind Menschen aus Fleisch und Blut, deren Gehirn sich nur entwickeln kann, wenn der Körper es fühlen, tasten, riechen, hüpfen, lauschen, beobachten und erzählen lässt4. Ich kann daher nur hoffen, dass diese Jungen sich am Ende wirklich in der Rolle der geboren Digitalgenies wieder finden, die wir Alten ihnen so eilfertig zuschreiben. Und nicht in der, die früher südamerikanische Eingeborene spielten, als sie bei den Spaniern ihr Gold gegen farbenfrohe Glasperlen eintauschten.“
Auf der Bühne kam der Spielbetrieb wieder in Gang und unterbrach unser Gespräch. Es hielt mich nun nichts mehr im Zuschauerraum und als ich mich mit einem stummen Nicken von den beiden verabschiedete, nickten sie nachdenklich zurück. Bis heute ist es mir ein Rätsel geblieben, wie Menschen mit zunehmend verkümmernden Fähigkeiten immer komplexere Technologien beherrschen oder gar gestalten sollen.
Ich könnte hier unzählige weitere Beispiele für die seltsame Dramaturgie, die sich auf der digitalen Bühne abspielt, beschreiben. Und einige davon finde ich weitaus beunruhigender als das hier heraus gegriffene.
Den einzigen Reim, den ich mir bisher darauf machen kann, möchte ich versuchsweise als digitales Homo-Faber-Syndrom umschreiben. Damit meine ich, dass wir heutigen Menschen uns vom mit digitaler Technik befeuerten Machbarkeitswahn derart blenden lassen, dass wir unsere Wirklichkeit als menschliche Lebewesen aus den Augen verlieren und dafür vielleicht einen hohen Preis entrichten müssen.
Die Natur hat sicher Zeit genug zu warten, bis aus dem Homo Faber endlich ein Homo Sapiens geworden ist. Allerdings bekommt Homo Sapiens nur eine Chance, wenn der Scherbenhaufen, den Homo Faber hinterlassen wird, nicht allzu groß ausfällt.
Nach wie vor verdiene ich mit digitalen Bauarbeiten nicht ungern meine Brötchen.
Aber ich beneide jene meiner Kollegen, die weise genug waren, sich die Stücke nie anzuschauen die auf digitalen der Bühne gegeben werden. Denn sie schlafen besser.
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Quellenangaben:
1: Nick Bilton: Steve Jobs was a Low Tech Parent, © New York Times, 10.9.14,https://www.nytimes.com/2014/09/11/fashion/steve-jobs-apple-was-a-low-tech-parent.html
2: Emily Retter:Billionaire tech mogul Bill Gates reveals he banned his children from mobile phones until they turned 14, © UK Mirror, 21.4.2017
https://www.mirror.co.uk/tech/billionaire-tech-mogul-bill-gates-10265298
3: Matt Richtel:A Silicon Valley School That Doesn’t Compute, © New York Times, 22.10.2011, https://www.nytimes.com/2011/10/23/technology/at-waldorf-school-in-silicon-valley-technology-can-wait.html
4: Martin Grunwald: Homo Hapticus, © 2017 Droemer Verlag
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© Alice Maier, Mai 2019