Auf der Fleischbrücke
Schon vor Wochen war er mir aufgefallen. Es ist nichts Besonderes, auf dieser Brücke einen Maler sitzen zu sehen; der Blick über die ruhig fließende Pegnitz zur Liebesinsel ist ein beliebtes Motiv. Auch sein Aussehen und sein Alter stechen nicht heraus. Die Maler hier sind oft Ruheständler und haben eine Schiebermütze auf dem Kopf. Während andere Maler aber emsig ihre Pinsel schwingen, saß er nur zusammen gesunken auf einem Klapphocker und sah zur Insel hinüber. Auf seiner Staffelei wartete ein weißes Blatt Papier derweil vergebens auf Farbe.
Er malte nicht. Ein zugeklappter Aquarellkasten, Farbtuben, Pinsel und Mischpaletten lagen neben ihm auf einem kleinen Campingtisch, alles unberührt. Langsam ging ich damals in einigem Abstand an ihm vorbei über die Brücke, um mich dann noch einmal verstohlen nach ihm umzusehen. Er saß da wie zuvor. Auch an den folgenden Tagen änderte sich nichts. Sogar am Wochenende war er da, wie sich herausstellte, als ich einmal aus reiner Neugierde in die Innenstadt gefahren war. Nur wenn es regnete kam er nicht. Das weiße Blatt Papier auf seiner Staffelei aber blieb unberührt.
Auch heute früh konnte ich seine helle Mütze wieder von Weitem ausmachen. Die Sonne schien mir in die Augen als ich die Brücke betrat, daher bemerkte ich seine schnell fließenden Bewegungen, mit denen er den Pinsel jetzt über das Papier tanzen ließ erst, als ich schon fast vorüber gegangen war. Konzentriert schaute er auf die Staffelei, auf der Strich um Strich ein Bild entstand. Weder durch gelegentliche Blicke hinüber zur Insel noch durch das Anrühren der Farben ließ er sich aus seinem Rhythmus bringen. Seine Gesichtszüge und sein ganzer Körper vibrierten von einer Energie, die ihn aufgerichtete und zehn Jahre jünger wirken ließ.
Ich konnte nicht anders. Unauffällig bewegte ich mich in seine Richtung und stellte mich hinter ihn. Er bemerkte mich nicht. Ich mochte es kaum glauben, aber das Bild schien trotz der frühen Stunde fast fertig zu sein! Die Liebesinsel mit ihren Bäumen, den Gebäuden und den beiden Brücken, die sie rechts und links mit den Ufern der Pegnitz verbinden, war gut darauf zu erkennen. Und dennoch war diese Insel eine andere als jene in der Pegnitz. Ein sanftes Leuchten ging von ihr aus; glattes Wasser um sie herum spiegelte Bäume und Himmel. Darin träumte die Insel vor sich hin wie in einer anderen Welt, mit der unsrigen nur lose verbunden durch die schmalen Bänder zweier Stege.
Unwillkürlich beugte ich mich weiter vor. Plötzlich fiel mein Schatten auf die Staffelei, erschlug das Leuchten der Farben mit seiner Schwärze und ließ die Insel in die Pegnitz plumpsen. Die Bewegungen des Malers erstarrten, ein Fluch in einer mir unbekannten Sprache entrang sich ihm, dann drehte er sich um. Unter buschigen Augenbrauen funkelten mich schwarzbraune Augen wütend an. Peinlich berührt wich ich einen Schritt zurück, am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen!“ stammelte ich. Meine Verlegenheit schien ihn zu beschwichtigten, ein amüsiertes Lächeln stahl sich über seine Züge. „Ist gutt … ist gutt!“ murmelte er schließlich in schwerfälligem Deutsch und wollte sich wieder seinem Bild zuwenden. „Sie haben die Insel viel schöner gemalt, als sie ist!“ sagte ich hastig. Er hielt inne. „Sie strahlt, sie schwebt, sie gehört nicht hierher.“ Überrascht sah er auf das Bild als sähe er es jetzt zum ersten Mal. „Da … da!“ murmelte er nach einer Weile. „Das ist andere Insel … in einem See, in Rumänien.“
„Darf ich etwas fragen?“ wagte ich mich weiter vor, und als er nickte: „Ist das Ihre Heimat, da an dem See?“ – „Nein, Nein, Bukarest ist Heimat … aber See ist in Transsylvanien. Ich war junger Mann … schöne Zeit.“ – „Haben Sie dort Urlaub gemacht?“ Die Frage schien ihn zu belustigen. „Ich war wegen Arbeit dort, auf Baustelle. Ich bin Bauingenieur, habe Brücken gebaut.“ Sein Deutsch wurde langsam flüssiger. „Nur Arbeit, und doch haben Sie den See so gut in Erinnerung?“ wunderte ich mich.
Er schaute verlegen zur Seite, dann auf sein Bild. „Ich war im Boot, mit einer Frau … wir sind zur Insel.“ – „Ah, jetzt verstehe ich, was Sie gemalt haben.“ lächelte ich wissend. Da drehte er sich abrupt zu mir um. „Nein!“ sagte er scharf. „Sie nichts verstehen!“ Betreten sah ich zu Boden. „Ich war verliebt, aber sie, sie war von Securitate!“ setzte er nach. „Zu spät habe ich bemerkt … viel zu spät. – Keine Hochzeit … nur Gefängnis.“
Ich holte erschrocken Luft. Schweigend schauten wir beide auf das Bild wie um uns daran fest zu halten „Aber … wie konnten Sie diese Insel dann nur so malen?“ brachte ich nach einer Weile hervor. „Ich konnte nicht … habe immer nur gesessen, nicht gemalt … habe nicht gewusst warum.“ erwiderte er nachdenklich und versank erneut in Schweigen.
Leise beschlich mich eine Ahnung. Eine Frage lag mir auf der Zunge, die ich ihm jedoch unmöglich stellen konnte. Auch wollte ich ihn nicht noch länger beim Malen stören. Ich bedankte ich mich für seine offenen Worte und wandte mich zum Gehen. Als ich das andere Ufer der Pegnitz erreicht hatte, warf ich einen kurzen Blick zurück. Er malte wieder. „Kann es sein, dass er ihr vergeben hat?“ Die Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
© Alice Maier, Januar 2020